126391.fb2 Seite 13 und andere Geschichten aus dem Union Club. - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

Seite 13 und andere Geschichten aus dem Union Club. - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

7. Auf des Messers Schneide

Griswold, der mehreren unserer abendlichen Zusammenkünfte im Union Club ferngeblieben war, saß nun wieder in unserer Runde und schien in seinem Sessel tief und fest zu schlafen. Sein buschiger, weißer Schnurrbart hob und senkte sich im Takt der regelmäßigen Atemzüge.

»Beruflich kann er unmöglich unterwegs gewesen sein«, überlegte ich laut. »Er muß inzwischen längst pensioniert sein.«

»Pensioniert? Wovon?« entgegnete Baranov skeptisch. »Ihr glaubt doch wohl die Märchen nicht wirklich, die er uns immer erzählt.«

»Ich weiß nicht recht«, murmelte Jennings. »Die meisten Geschichten klingen durchaus wahr.«

»Das ist Ansichtssache«, behauptete Baranov. »Diese Spionagestorys sind für mich reine Phantasie. Meiner Meinung nach ist er nie über die Grenzen der USA hinausgekommen. Und welcher Agent bleibt schon in seinem Heimatland? Was hätte er hier bei uns denn zu tun?«

Griswolds fast volles Glas mit Scotch bewegte sich automatisch und sicher auf seine Lippen zu. Ohne offenbar seinen Schlaf zu unterbrechen, nippte er genüßlich daran und sagte: »Ich habe nie behauptet, Amerika nie verlassen zu haben.«

Er schlug die Augen auf. »Aber auch wenn dem so wäre, hätte ein Agent wie ich zu Hause immer genug zu tun gehabt. Es gibt eine ganze Liste großer Namen, die hier, direkt unter dem Sternenbanner, gestorben sind. Wie Archie Davidson zum Beispiel, um nur einen zu nennen.«

Archie Davidson - begann Griswold - hat die Vereinigten Staaten nie verlassen. Trotzdem hatte er in den zwölf Jahren, die er in unserer Abteilung gearbeitet hat, ständig zu tun.

Habt ihr schon mal bedacht, daß bei uns über hundert ausländische Botschaften und noch eine weitaus größere Anzahl von Konsulaten akkreditiert sind?

Jede einzelne dieser Institutionen hat die Aufgabe, für ihre jeweilige Regierung Informationen zu sammeln, wie das im übrigen unsere Botschaften und Konsulate im Dienst unserer Nation im Ausland tun. Und das Sammeln von Informationen muß mehr oder weniger heimlich und im Fall einiger Botschaften sogar mit illegalen Mitteln durchgeführt werden. Wobei der Zweck meistens eine Bedrohung unserer Sicherheit ist.

Außerdem tragen eine Reihe von Nationen auch innenpolitische Konflikte auf unserem Boden aus.

Zahlreiche terroristische Gruppen, Dissidenten oder Friedenskämpfer, wie man sie je nach politischer Einstellung nennt, sind hier bei uns aktiv.

All das verlangt unsere Aufmerksamkeit, und Archie war ein Experte auf diesem Gebiet: unauffällig, geschickt und überzeugend.

Die Eigenschaft, überzeugend auf andere zu wirken, war sehr wichtig. Immerhin ist es eine Hauptaufgabe eines guten Agenten, das Vertrauen eines Mitglieds der Gegenseite zu erlangen. Eine Person, die für den Feind arbeitet, ist eine zuverlässige Informationsquelle; gleichgültig ob sie nun aus Überzeugung zum Verräter wird, nur geldoder geltungssüchtig oder ein selbstgefälliger Schwätzer ist. Selbstverständlich sind die Verräter aus Überzeugung erfahrungsgemäß die verläßlichsten und risikofreudigsten Informanten.

Es gab keinen anderen, der kooperationswillige Agenten der Gegenseite mit solcher Sicherheit erkannte, wie Archie. Und während der Zeit, von der hier die Rede ist, hatte er Kontakt zu einem solchen ausländischen Agenten. Obwohl wir natürlich keine Einzelheiten kannten, waren wir sicher, daß es sich bei Archies Kontaktperson um einen sogenannten »Überzeugungstäter« handelte. Es war eben die einfachste Erklärung für die absolute Zuverlässigkeit der Informationen, die er uns im Lauf der Zeit zugespielt hatte.

Woher der Mann seine Informationen bezog, haben wir nie herauszufinden versucht. Es hätte offen gestanden auch wenig Sinn gehabt.

Je weniger man über eine Leitung zur Gegenseite und den dortigen Kontaktmann Bescheid weiß, um so sicherer ist die ganze Angelegenheit. Der eigene Agent könnte den wertvollen Kontakt schon in dem Augenblick gefährden, da er an einen vertrauenswürdigen Mitarbeiter Informationen über die Person des Spitzels weitergibt. Gespräche können schließlich belauscht oder abgehört und Gesten und Zeichen richtig gedeutet werden. Allein schon die Tatsache, daß sich zwei oder mehrere Personen treffen, kann von der Gegenseite richtig ausgelegt werden.

Es ist daher von jeher das Sicherste, wenn die Kommunikation zwischen dem eigenen Agenten und dem Kontaktmann auf der Gegenseite auf ein Minimum beschränkt bleibt, und lediglich eine Person die Identität des kooperativen, feindlichen Agenten kennt. Bei einer solchen Beziehung ist gegenseitiges Vertrauen unerläßlich. Und Archie war ein Mann, der anderen diese Art von Vertrauen geben konnte, weil er nie ein doppeltes Spiel getrieben hat.

Es war daher ein schwerer Schlag für uns, als Archie eines Tages ermordet wurde.

Nichts deutete darauf hin, ob Archie in Ausübung seiner Pflicht getötet worden war. Der Mörder hatte keine Visitenkarte hinterlassen. Archie war lediglich tot im Hauseingang einer verrufenen Straße in einer unserer Städte im Osten gefunden worden.

Der Täter hatte Archie erstochen und mit der Tatwaffe auch Archies Brieftasche mitgenommen, so daß man hätte annehmen können, es handele sich um einen Raubüberfall.

Die örtliche Kriminalpolizei war übrigens auch dieser Meinung. Archie war nur in einem kleinen, eingeweihten Kreis ein bekannter Mann gewesen. Nach außen hin hatte er stets die perfekte Tarnung eines Angestellten einer Spirituosenhandlung aufrechterhalten. Weder die Polizei noch die Presse hatten also Veranlassung, der Angelegenheit besondere Beachtung zu schenken.

Auch unsere Abteilung hielt sich im Hintergrund. Und das hatte seine Gründe.

Immerhin mußten wir von der Möglichkeit ausgehen, daß Archie tatsächlich das Opfer eines ganz normalen Raubüberfalls geworden war und sein Tod nichts mit seiner geheimdienstlichen Tätigkeit zu tun hatte. In diesem Fall war ein Stillhalten unsererseits schon deshalb angebracht, um niemandem Hinweise dafür zu liefern, daß Archie in Wirklichkeit Agent gewesen war. Und wir wurden natürlich ständig von einer ganzen Anzahl unerwünschter Gruppen observiert. Ein falscher Schachzug unsererseits hätte die Gegenseite über Archie zu anderen Agenten und letztendlich vielleicht sogar zu Archies wertvollem Informanten im gegnerischen Lager geführt. Das wollten wir unbedingt vermeiden.

Im übrigen konnte es uns völlig gleichgültig sein, ob Archie von einem Geldräuber oder einem feindlichen Agenten umgebracht worden war. Unsere Abteilung verschwendete keine kostbare Zeit mit Vergeltungsaktionen. Dazu war unsere Arbeit zu wichtig.

Für uns hatte Archie nie als Mensch, sondern stets nur seine Arbeit Vorrang gehabt. Und der wichtigste Teil seiner Tätigkeit war der Kontakt zu jenem Informanten auf der Gegenseite gewesen, der durch Archies Tod jäh unterbrochen worden war.

Ob wir ihn je wieder würden aufnehmen können, hing ganz davon ab, ob es Archie irgendwie gelungen war, uns Informationen zu hinterlassen, die uns eine Fortsetzung der Beziehung ermöglichen konnten. Es war zwar nicht wahrscheinlich, daß er dazu noch Zeit gehabt hatte, aber wir mußten diese Spur unbedingt verfolgen.

Selbstverständlich war ich derjenige, der als Verbindungsmann zur örtlichen Polizeibehörde geschickt wurde. Mein gelassenes, selbstsicheres Auftreten hatte sich im Umgang mit der Polizei stets bewährt und die Wogen geglättet, die immer dann hochzuschlagen drohten, wenn sich die Polizeikräfte eines Bundesstaates von der Bundespolizei überrollt fühlten. Ich möchte euch nicht mit all den Tricks langweilen, mit denen ich den Grund für das Interesse Washingtons an der Angelegenheit zu vertuschen versucht habe, und fasse mich deshalb kurz.

»Hat Archie noch gelebt, als er gefunden wurde?« fragte ich den Beamten vom Morddezernat.

»Nein, wie kommen Sie darauf? Er war schon mindestens drei Stunden tot.«

»Schade. Wir haben es am liebsten, wenn die Opfer wenigstens noch ein paar Takte sagen können. Dann hat er vermutlich auch keine Nachricht hinterlassen, oder?«

»Was glauben Sie denn? Sollte er vielleicht mit seinem Blut noch was auf den Gehsteig schreiben?« Der Beamte vom Morddezernat versuchte natürlich mich zu provozieren, aber ich ließ mich nicht darauf ein. »Jedenfalls hatte er kein Blut an den Händen, es waren keine Buchstaben in den Straßenstaub geschrieben, und er hatte uns auch keine Zeichen aus Bananenschalen oder anderem Müll hinterlassen. Im übrigen war seine Brieftasche verschwunden. Wir hielten es deshalb erst mal für das Wichtigste, ihn zu identifizieren.«

»Habt ihr was in seinen Taschen gefunden?«

Der Inspektor griff nach einer Plastiktüte und kippte deren Inhalt wortlos auf dem Schreibtisch aus.

Ich betrachtete die Gegenstände eingehend. Archies Tascheninhalt bestand aus einem Schlüsselbund, Kleingeld, einem Taschenkamm, einem Notizbuch, einem Brillenetui und einem Kugelschreiber. Ich blätterte das Notizbuch durch. Es war leer. Mir fiel lediglich auf, daß etliche Seiten herausgerissen worden waren. Ein guter Agent macht so wenig Notizen wie möglich. Falls es sich jedoch nicht umgehen läßt, vernichtet er sie so schnell wie möglich wieder.

»Ist das alles?« fragte ich den Inspektor.

Er schüttelte schweigend die Plastiktüte. Dabei fiel zu seiner Überraschung ein Zettel heraus. Ich hob ihn auf und strich ihn glatt. Darauf stand in krakeliger Schrift in Großbuchstaben das Wort RUF-TAXI.

Der Zettel war eindeutig aus Archies Notizbuch herausgerissen worden. Ich nahm den Kugelschreiber, den man bei dem Toten gefunden hatte, und schrieb damit ein paar Zahlen auf ein Blatt Papier. Farbe und Strichstärke stimmten mit den Schriftzügen des Zettels überein.

»Was meinen Sie, Inspektor? Hat das Opfer den Zettel noch vor seinem Tod geschrieben?«

Der Inspektor zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.«

»In welcher Tasche des Toten hat man diesen Zettel gefunden? War er zusammengeknüllt? Und wo befand sich der Kugelschreiber?«

Wir mußten zuerst den Streifenpolizisten, der Archie entdeckt hatte, und den Krimialbeamten ausfindig machen, der als erster am Tatort eingetroffen war, um eine befriedigende Antwort auf unsere Fragen zu bekommen. Die Aussagen der beiden waren eindeutig. Der zusammengeknüllte Zettel hatte in Archies linker Jackettasche gesteckt, und den Kugelschreiber hatte der Tote mit der rechten Hand in der rechten Tasche umklammert gehalten. Da diesem Mord keinerlei Bedeutung beigemessen worden war, hatte auch niemand auf diese Dinge geachtet.

Mir war jedoch sofort klar, daß Archie als guter Agent eine letzte Anstrengung unternommen haben mußte, uns eine wichtige Information zukommen zu lassen. Und diese Information mußte mit seinem Kontaktmann auf der Gegenseite in Zusammenhang stehen. Sicher hatte er versucht, uns eine Möglichkeit zu geben, die Verbindung zu diesem Agenten aufrechtzuerhalten.

Ich überlegte. Archie hatte nicht genau präzisiert, welches Taxi wir rufen sollten. Handelte es sich um den Wagen eines bestimmten Unternehmens? Hatte er immer die Dienste dieser Firma in Anspruch genommen, und konnten wir ihren Namen herausfinden? Würde es uns gelingen, eine Nachricht zusammenzusetzen, wenn wir die Gelben Seiten des Telefonbuchs bei der Rubrik »Ruftaxi« aufschlugen? Oder hatte Archie mit seiner Nachricht etwas ganz anderes gemeint?

Nachdem ich ungefähr eine Minute intensiv nachgedacht hatte, schritt ich zur Tat, lokalisierte den Informanten und nahm die Verbindung zu diesem wieder auf. Bevor es der Gegenseite gelang, diesen Spitzel ausfindig zu machen und auszuschalten, hatten wir noch genügend Zeit, über ihn jene wichtigen Informationen zu erhalten, die wesentlich zu einer zufriedenstellenden Lösung der Kuba-Krise beitrugen. Also nahm alles ein glückliches Ende ...

»Nein, so geht's nicht, mein Freund«, sagte ich hastig und trat Griswold unsanft auf die Zehen, um ihn daran zu hindern, einzuschlafen. »Das Wichtigste hast du uns noch nicht erzählt.«

Griswold runzelte die Stirn. »Selbstverständlich habe ich das. Ich schritt zur Tat, habe den Informanten auf der Gegenseite lokalisiert und ...«

»Ja, aber wie denn? Welches Taxiunternehmen hast du angerufen?«

»Gar keines. O Mann, sag bloß, du hast's noch immer nicht kapiert. Wenn man ein Ortsgespräch führt, dann wählt man eine siebenstellige Nummer.

Den Zahlen zwei bis neun entsprechen dabei jeweils drei Buchstaben. Dieses System stammt noch aus der Zeit, als die Fernsprechvermittlungen Namen hatten. ABC entsprechen also der Zahl zwei, DEF der Zahl drei und so weiter. Kommen in einer Telefonnummer weder Einsen noch Nullen vor, dann ist es möglich, die Zahlen durch Buchstaben zu ersetzen. Für die Zahl 1 gibt es nämlich keinen entsprechenden Buchstaben, und nur auf einigen wenigen Wählscheiben entspricht das Z der Null.

Ich habe also kein Taxiunternehmen angerufen, sondern R-U-F-T-A-X-I gewählt, was in Zahlen ausgedrückt der Telefonnummer 783-8294 entspricht. Und das war die Kontaktnummer. Zweifellos hat Archie sich das Wort >Ruftaxi< leichter merken können als die Zahlenkombination, und noch im Sterben hat er sich an das Wort erinnert... und es in letzter Verzweiflung auf den Zettel geschrieben.«