126937.fb2
Die nördlichen Bereiche der Welt waren in Gefahr, in schrecklicher Gefahr, und keiner wusste, was los war. Die Meteorologengemeinde war verwirrt.
Das Wetter ist seiner Natur nach eine Erscheinungsform der Luft. Es ist das, was sich bei der Absorption und dem Ausstoß von Energie durch die Luft abspielt. Die Wissenschaft hat bestimmte Muster identifiziert, die sich während dieses Ablaufs in verschiedenen Variationen stetig wiederholen. Wir kennen sie unter vielen Namen: Superzellen, Hurrikane, Tornados, Kalt- und Warmfronten, Blizzards.
Ein Blizzard ist ein Sturm, der entsteht, wenn warme und kalte Luftmassen sich mischen und versuchen, ihre Temperaturen einander anzugleichen. Wasserdampf wird zu Regen, der sich in Schnee verwandelt, der leicht oder heftig fallen kann. Danach ist die Welt entweder von herrlichem Weiß verzaubert oder sie erstickt unter einer erdrückenden Eisdecke.
Diesmal waren die Stürme nicht wie gewöhnliche Blizzards. Und jeder Meteorologe, der an seinem Bildschirm gebannt verfolgte, wie sie bis in die Stratosphäre hochkochten, wusste, dass über dem Polarkreis etwas fürchterlich aus dem Ruder gelaufen war. Nicht nur die Höhe der Wolken war unnormal, auch die Muster, in denen sie da oben in einem atemberaubenden Tempo durcheinander wirbelten, waren völlig neu. Weil die Treibhausgase über der Erdoberfläche das Aufsteigen der Wärme verhinderten, wurde die Luft unten immer heißer und in der Höhe extrem kalt. Was nun aber das neue satellitenbetriebene Windmessungssystem der Nasa anzeigte, wollte kaum jemand glauben. In einigen dieser Zellen tobten Böen mit über 320 Stundenkilometern.
Die einzelnen Stürme waren kurzlebig. Letztlich wurden sie bei ihrer Jagd über Meere und Flachland vom eigenen Tempo zerfetzt.
Die Meteorologen trauten ihren Augen nicht. Was die Satelliten meldeten, überstieg ihr Fassungsvermögen. Jetzt benötigten sie dringend Daten aus den dünn besiedelten betroffenen Gebieten selbst, doch die waren schwer zu bekommen.
Die wichtigste Information erreichte sie aus einer Gegend, die Tausende von Meilen weiter südlich lag, wo Ozeanographen eine neue und erschreckende Theorie überprüften. In einem verzweifelten Versuch, sich neue Geldquellen zu erschließen, hatte die Meeresklimabehörde National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) Jahre zuvor ein kleines Schiff, die »Ocean Tester II«, in die gefährlichen Gewässer vor den Grand Banks geschickt. Mittlerweile hätte dort längst ein Netz von Bojen und Sendern installiert sein sollen, stattdessen gab es nur eine einzige Boje, die 44011 – und die lag weit abseits von der idealen Position bei der Georges Bank. Es war aber diejenige, die den ersten, von allen ignorierten Alarm ausgesandt hatte.
Beim Aussetzen von Echoloten war die Ocean Tester vor der Südspitze der Grand Banks von einem Sturm überrascht worden und auseinander gebrochen. Elf Männer waren ertrunken, aber die vierzehn Echolote, die sie hatten verlegen können, funktionierten über die Jahre hinweg und lieferten regelmäßig nützliche Daten. Und was sie diesmal meldeten, löste nun einen Sturm eigener Art aus.
Bei den Koordinaten, wo sonst der Golfstrom durch den Atlantik floss, hätten eigentlich leicht zu ortende Strudel sein müssen. Aber sie waren nicht da. Die Echolote, die die Zeitdauer maßen, die verging, bis ein akustischer Impuls vom Meeresboden zur Oberfläche und wieder nach unten stieg, zeigten eine niedrige und noch dazu abnehmende Fließgeschwindigkeit an, und das in einem Gebiet, in dem die Strömung hätte stark sein müssen.
Für die Ozeanographen ergab sich daraus zwangsläufig die Schlussfolgerung: Mit dem lebenswichtigen Nordatlantikstrom war etwas geschehen, etwas, das es in der geschichtlichen Zeit noch nie gegeben hatte.
Vorkommnisse in der südlichen Hemisphäre nährten den Verdacht, dass dieses Phänomen Teil einer dramatischen Veränderung der transozeanischen Strömungen war. Die Stürme, die zurzeit Australien und Neuseeland beutelten, konnten also nur eines bedeuten: Der Wandel wirkte sich auf das Klima der ganzen Welt aus.
Im Mittleren Pazifik braute sich unterdessen ein neuerlicher bösartiger Taifun zusammen. Und wieder raste Unheil auf Japan zu, das sich von der Verwüstung durch seinen Vorgänger Max noch nicht erholt hatte.
Spezialisten aus allen Fachgebieten und Erdteilen wurden eilig zusammengetrommelt, um gemeinsam via Internet und Telekonferenz über Lösungen zu beratschlagen.
Mittlerweile bestritt niemand mehr, was da vor sich ging. Die Atlantikströmung, die warmes salzhaltiges Oberflächenwasser in den Norden und kaltes, dichtes Wasser in den Süden beförderte, war ausgefallen. Der Kreislauf, der sich durch sämtliche Meere der Welt zog und dafür sorgte, dass die Wasser- und damit auch die Lufttemperaturen so blieben, wie die Welt es gewohnt war, war unterbrochen. Damit wurde dem Pazifik kein kaltes Tiefenwasser mehr zugeführt. Umso schneller erwärmte sich dort das Oberflächenwasser, und das bedeutete Nahrung für die Monstertaifune. Der Norden wiederum war von der Warmwasserzufuhr abgeschnitten… und das war der Grund, warum auf einmal die Existenz von ganz Kanada an einem seidenen Faden hing.
Man hatte gewusst, dass die Nordatlantikströmung ihre Stabilität verlieren konnte. Eisbohrkerne hatten bewiesen, dass das schon mehrmals geschehen war, zuletzt vor achttausend Jahren. Danach war das Klima für zweihundert Jahre stark abgekühlt – möglicherweise die Folge eines Supersturms, wobei die Eis- und Schneeschicht, die er zurückgelassen hatte, das wärmende Sonnenlicht in die Atmosphäre zurückgestrahlt hatte.
Aber niemand hatte gedacht, dass das Gleiche so schnell wieder geschehen würde. Die Unmengen von Energie, die nötig gewesen wären, um die Strömung zu kappen, ließen diese Möglichkeit als ein Problem für eine ferne Zukunft erscheinen, nicht für die Gegenwart. Hinter dieser Haltung steckte auch die Autorität von anerkannten Wissenschaftlern. Mit dem Princeton Ocean Model war berechnet worden, dass ein kritischer Teil der Strömung viel zu stark war, um sich von leichten oder mittleren Schwankungen in den Meerestemperaturen beeinflussen zu lassen, und es schon Veränderungen bedurfte, die weitaus dramatischer waren, als die verschiedenen Modelle zur Erderwärmung voraussagten.
Aber diese Modelle waren nicht darauf angelegt, das Abschmelzen der Polkappen zu berücksichtigen. Und sie bezogen auch nicht mit ein, was passieren würde, wenn sich vom Nordpol oder von den sterbenden Grönlandgletschern reißende Süßwasserfluten ins Meer ergossen.
Weltweit arbeiteten die Wissenschaftler an besseren und exakteren Modellen zum Verhalten der Strömungen, aber noch waren ihnen mangels Daten und Rechnerkapazität Grenzen gesetzt.
Offensichtlich hatte es eine dramatische Wende gegeben, eine, die alle bisherigen Ergebnisse zu Altpapier machte. Organisationen wie die NOAA und die vielen befreundeten Institute außerhalb der USA waren nicht flexibel genug, um schnell auf Unerwartetes zu reagieren. Das war ihre Schwachstelle. So bestand stets die Gefahr, von den Ereignissen überholt zu werden.
Immerhin versuchten sie in dieser unglaublichen Situation ihr Möglichstes. Leider fehlte es ihnen an Fantasie. Ein eilig einberufenes Komitee entschied, dass das Störungen seien, die nach vier, fünf Jahren von selbst verschwinden würden, und die Öffentlichkeit Zeit genug hätte, um sich den neuen Bedingungen anzupassen.
Unrecht im eigentlichen Sinne hatten sie nicht. Das Wetter würde in jedem Fall auf Jahre hinaus verrückt spielen. Aber sie waren einfach nicht in der Lage, sich vorzustellen, mit welcher Urgewalt dieser Prozess einsetzen würde. So etwas lag zu weit außerhalb ihrer, ja, aller menschlichen Erfahrung.
Niemand hatte in geschichtlicher Zeit erlebt, geschweige denn festgehalten, welche Zerstörungen die entfesselte Natur anrichten kann. Niemand konnte sich einen Begriff davon machen.
Aber dann geschah etwas, das jedem Wissenschaftler, der sich mit diesem Problem befasste, die Sprache verschlug. Die Fachleute waren regelrecht gelähmt, als ihnen dämmerte, was die Daten bedeuteten. Aus einem kleinen Inuit-Dorf in Nordkanada war gemeldet worden, dass es in einer einzigen Stunde einen Temperatursturz von 40 Grad Celsius gegeben hatte.
Das ließ nur einen Schluss zu.
Bisher war die Vorstellung, dass die Zirkulation des Sturms so gewaltig sein konnte, dass er sogar extrem abgekühlte Luft ansaugte, ein Thema für wissenschaftliche Übungen gewesen, aber kein echtes Problem.
Doch genau das war sie jetzt.
Wissenschaftler an verschiedenen Zweigstellen der NOAA im nördlichen Teil der USA begannen in aller Stille Vorkehrungen für den Umzug ihrer Familien in den Süden zu treffen und fragten schon mal Freunde und Verwandte in Texas, Florida, Südkalifornien und den Wüstengebieten, ob sie sie unterbringen könnten.
So begann die größte Völkerwanderung der Menschheitsgeschichte. Es waren zunächst nur ein paar Autos mehr, die sich in den üblichen Verkehrsfluss einreihten.
Die Winde beschleunigten sich in der gesamten Arktis. Ein gewalttätiger Sturm nach dem anderen tobte, schraubte seine Wolkenspitzen in nie da gewesene Höhen, um sofort vom nächsten überboten zu werden.
Die Wetterdienste der USA und Kanadas leiteten Notfallmaßnahmen ein. In einer Serie von Konferenzen regelten die zwei für Wetterkatastrophen zuständigen US-amerikanischen Ämter EMWIN und FEMA alle nötigen Schritte, um die Bevölkerung auf eine, wie man jetzt mit Sicherheit wusste, dramatische Störung vorzubereiten.
Die Einwanderungsbehörde wurde vom Präsidenten in Kenntnis gesetzt, dass die Grenze zwischen den USA und Kanada ab sofort für Flüchtlinge geöffnet war und Nahrungsmittel rationiert wurden. Notunterkünfte und Behelfsküchen wurden eingerichtet. Vertreter der FEMA überraschten manchen Behördenchef, als sie landesweit dazu aufriefen, Schulen und sonstige öffentliche Gebäude als Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Lebensmittel und Medikamente wurden zu den jeweiligen Ausgabestellen geschafft. Etwas unauffälliger stellte man auch Leichensäcke bereit – allerdings nur einige hunderttausend.
So richtig klar war die Lage niemandem. Sogar jetzt noch nicht.
Eine Reihe von Regierungsmitgliedern hielt diese Vorkehrungen für ausgemachten Unsinn, und es dauerte nicht lange, bis sämtliche Details zu den Direktoren der Blue Foundation durchsickerten, einer Expertenkommission mit hohem Einfluss im Kongress.
Abgeordnete begannen, unangenehme Fragen zu stellen: Was wurde da gespielt? Warum und wofür wurde all das Geld ausgegeben? Welche Etats waren betroffen? Der Rechnungshof wurde damit beauftragt, die Vorkehrungen der FEMA zu überprüfen. Aus Furcht, die EMWIN könnte ähnlich bloßgestellt werden, legte die NOAA deren Pläne auf Eis.
Folglich wurden in den Notunterkünften keine Lebensmittelvorräte angelegt, auch wurden die Krankenhäuser nicht über eine mögliche Krise in Kenntnis gesetzt. Das Internationale Rote Kreuz und die Weltgesundheitsorganisation wurden im Dunkeln darüber gelassen, dass sich die dramatischste Klimaveränderung der Weltgeschichte anbahnte, und das schnell.
Das Wetter scherte sich freilich nicht im Geringsten um die Machenschaften der politischen Strategen von der Blue Foundation.
Der erste Hilferuf kam aus Nordkanada. Strenge Winter waren dort der Normalfall. Von Oktober bis April fegte dort seit jeher eine Polarfront nach der anderen über das Land hinweg. Man war Kälte gewohnt und ließ sich von Februarstürmen nicht beeindrucken. Doch mit dem, was sich jetzt in den Northwest Territories abzeichnete, hatte niemand Erfahrung.
In den letzten Jahren hatten sich die Temperaturen so sehr erwärmt, dass nun der Permafrostboden auftaute. Wie überall dort, wo der Polarkreis besiedelt war, wackelten Gebäude in ihren Grundmauern und starben Bäume im Sommer bei Überschwemmungen ab. Im letzten August hatte es zum vierten Mal hintereinander eine Hitzewelle mit über 30 Grad Celsius gegeben. Immer mehr Menschen litten an akuten Atemwegserkrankungen. Schimmel, Pollen und riesige Mückenschwärme durchsetzten die Luft. Der Herbst hatte sich erst Ende Oktober eingestellt. Und der Winter war bisher verhältnismäßig mild ausgefallen. Unter minus 20 Grad war das Thermometer noch nicht gesunken, und Blizzards hatte es kaum gegeben.
Auyuittuq bedeutet »das Land, das nie taut«, doch jetzt traf das nicht mehr zu – weder für den gleichnamigen Nationalpark noch für die gesamte Baffin Island, ja, die Arktis schlechthin. Wie Wissenschaftler schon 1998 vorausgesagt hatten, war im Vorjahr im Gebiet um den Nordpol das ewige Eis blauem Wasser gewichen.
Unvermittelt wütete über Baffin Island ein Sturm, der so plötzlich aufgekommen war, dass die Bewohner der drittgrößten Insel der Welt überhaupt keine Vorbereitungen treffen konnten. Von einer Minute auf die andere verdunkelte er den klaren Winterhimmel, und in der Baffin Bay schlugen die Wellen derart hoch, dass das Meer sich in eine brodelnde Hölle aus Gischt verwandelte, in der Wasser und Luft eins waren. Von Nanasivik bis Iqualuit tobten Windböen mit einer Geschwindigkeit von 320 Stundenkilometern über den Weiten der Insel. Riesige Schneemengen peitschten auf das Land herab, erstickten Tiere auf der Stelle, begruben Leute unter sich, die dieses Land und sein Klima so gut kannten wie ihre Westentasche, und rissen die Gebäude nieder, die dem Wind noch widerstanden hatten.
Die Temperaturen waren so tief gesunken, dass ungeschützte Hautpartien auf der Stelle abstarben. Wer zu schnell einatmete, riskierte den Tod durch Vereisung der Lunge. Karibus und Grizzlybären erfroren zuerst, bald auch Menschen. Große Lebewesen, die sich nicht in Spalten oder Ritzen verkriechen konnten, waren am verletzlichsten.
In den weiter südlich gelegenen Wetterstationen verfolgten die Meteorologen, wie der Sturm weiter wuchs, die ganze Insel verwüstete und sich dann wie ein entfesseltes Monster über den Polarkreis hinaus nach Süden wälzte. Der kanadische Wetterdienst gab Katastrophenalarm, aber der erreichte weite Gebiete schon nicht mehr, weil dort jegliche Verbindung nach außen zerstört war.
Menschen, deren Vorfahren seit 10000 Jahren in diesem kargen Land gelebt hatten, starben in Massen. Sie erfroren stehend, obwohl sie in warme Kleider gehüllt waren. Sie erfroren in Last- und Geländewagen, die in südliche Richtung krochen, bis der Schnee sie endgültig stoppte. Einige wenige starben sogar in Flugzeugen, die wie Schmetterlinge zu flattern begannen, als der Sturm sie einholte.
Sie alle starben letztlich in einem Moment, als die Natur eine Grenze überschritt, hinter der sich nichts als primitive Lebensformen wie Geflechte halten konnten.
Der Tag war zur Nacht geworden, zu einer heulenden, brüllenden, brodelnden Nacht.
Und dann organisierten sich die Serien von Superzellen, die den Sturm bedingt hatten, aufs Neue. Den Meteorologen, die auf ihre flackernden Monitore starrten, kamen sie vor wie Lebewesen, die zu etwas noch Größerem und Entsetzlicherem verschmolzen.
Den kanadischen Behörden war klar, dass der Sturm weiter nach Süden zog. Er würde ihr Land schnell erreichen, vielleicht schon in wenigen Tagen. Von Vancouver bis Calgary, von Winnipeg bis Toronto wurden die Einsatzkräfte mobilisiert. Der Befehl lautete: Notunterkünfte bereitstellen, Lebensmittelvorräte anlegen, der Bevölkerung Anweisungen erteilen.
Aber im Grunde konnte man nur eines tun, etwas, das so drastisch war, dass es das Fassungsvermögen der meisten überstieg: Überleben konnte nur, wer floh. Man musste in den Süden ziehen, und zwar sofort. Ansonsten war man tot. Das war die grausame Mathematik des Klimas und der Naturgesetze.