126937.fb2 Sturmwarnung - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 27

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Epilog.New York

Es war so weiß, das Land. Der Himmel war von einem solch unglaublich tiefen Blau. Und die Luft hatte etwas Reines, an das nichts heranreichte, was Bob Martin je erlebt hatte. Bei minus 53 Grad war beim Einatmen höchste Vorsicht angebracht, aber Bob war gut ausgerüstet. Irgendwie mussten sich die Astronauten ähnlich vorgekommen sein wie er jetzt, dachte er.

Als Leiter eines dreiköpfigen Bergungstrupps hatte er den Auftrag, im Planquadrat Manhattan 4-A-2 (der Bereich zwischen Fortieth bis Forty-fifth Street und Fifth und Seventh Avenue) in der verwüsteten Stadtlandschaft Wärmequellen aufzuspüren, die möglicherweise Spuren von Leben darstellten. Zu diesem Zweck war Bob mit einem Infrarotsensor ausgestattet, mit dessen Gebrauch er aus seiner Zeit bei der Army gut vertraut war.

Er hatte diese Aufgabe angenommen, weil Leben davon abhingen. Schließlich war er bei den Rangers gewesen, wo man ihn bestens für solche Einsätze vorbereitet hatte. Und im Golfkrieg hatte er einem Aufklärungskommando angehört, das den Auftrag hatte, mithilfe solcher Sensoren irakische Wachposten aufzuspüren.

Er hatte sich aber auch aus einem anderen Grund gemeldet. Er selbst hatte den Sturm nicht direkt zu spüren bekommen. Martie und die Kinder waren in Sicherheit in Austin, wo er rechtzeitig eine Eigentumswohnung gekauft hatte, bevor die Preise explodiert waren. Sie hatten die hübsche Vierzimmerwohnung für 235000 Dollar bekommen; heute könnte er sie für eine Million oder mehr verkaufen.

Er war also auch deswegen hier, weil er und seine Familie überlebt hatten. Natürlich nicht ohne Verluste. Das konnte kein Mensch auf der Welt von sich behaupten. Martie hatte noch einen Ausdruck der letzten E-Mail ihres Bruders aus England und würde ihn immer sorgsam aufbewahren. Er war an seinem Schreibtisch beim Sammeln von Satellitendaten für den britischen Meteorologischen Dienst gestorben, daran bestand kein Zweifel.

Wie Bob das sah, hatte jeder Überlebende mit Erste-Hilfe-Kenntnissen die moralische Verpflichtung, Leben zu retten, zumal dann, wenn er solches Glück gehabt hatte wie er selbst.

Bob und seine zwei Kollegen zogen in ihren Schneeschuhen langsam durch die Fortieth Street und spähten dabei direkt in die Fenster im vierten oder fünften Stockwerk der Gebäude. Überall fehlte das Glas, und in den Zimmern türmte sich der Schnee bis zur Decke auf.

Das New Yorker Stromnetz war bereits in den ersten Stunden des Sturms zusammengebrochen. Die Stadt hatte sich mit aller Macht gegen die Katastrophe gewehrt, aber dann war auch die Gasversorgung ausgefallen. Nach drei Tagen waren die Öllieferungen ausgeblieben. Über zwei Millionen New Yorker waren auf den mautpflichtigen Privatstraßen und den Interstate Highways über Richmond und Washington, D. C. wo das Schlimmste bereits vorüber war, in den Süden entkommen. Elf Tage lang hatten unglaublich tapfere Arbeitstrupps aufopferungsvoll darum gekämpft, die Straßen frei zu halten. So hatten sie Millionen Leben gerettet, oft auf Kosten des eigenen.

Trotz aller Bemühungen lagen nach vorsichtigen Schätzungen allein in Manhattan noch mindestens eine Million Menschen unter den Trümmern und Schneemassen begraben. Sie alle waren wahrscheinlich tot. Aber was, wenn auch nur einer noch lebte?

In Manhattan waren insgesamt sechs Bergungstrupps unterwegs, fünf weitere suchten den Rest von New York ab. Mehr Teams hatten sich bisher nicht finden lassen, obwohl im ganzen Land eigentlich Tausende dringend gebraucht wurden. In Städten wie Philadelphia, Saint Louis, Kansas City oder Salt Lake City konnten noch Überlebende ausharren, deren Chancen auf Rettung von Stunde zu Stunde schwanden.

Da es keine handlungsfähige Zentralregierung mehr gab, hatten die Gouverneure der überlebenden Staaten einen provisorischen Regierungsrat gebildet. Das Kommando des Landesheeres war der U. S. Fifth Army in San Antonio übertragen worden. Die konzentrierte sämtliche Einheiten und Mittel an der mexikanischen Grenze, weil befürchtet wurde, Plünderer könnten in den Teil der Vereinigten Staaten einfallen, der unversehrt geblieben war. Trotzdem rechnete man damit, binnen eines Monats große Einheiten des übrigen Heeres anderen Aufgaben zuteilen zu können. Die Nationalgarde sollte bald zusammen mit Freiwilligen die Staaten in der Mitte des Landes durchkämmen. Weiter nördlich hielt man jedes Bemühen für zwecklos.

»Wärmequelle!«, rief Mike Guare plötzlich. Langsam drehte Bob sich zu ihm um. Mit den unförmigen Schuhen war man nicht allzu beweglich, und auf keinen Fall durfte man auf der 15 Meter tiefen Schneedecke ausrutschen. Man wusste nie, ob spitze Kanten darunter verborgen lagen, die einem die schlimmsten Wunden zufügen konnten. Die wenigen Antibiotika blieben lebensbedrohlichen Infektionen vorbehalten. Wer nicht gerade im Sterben lag, musste dieser Tage zusehen, wie er von selbst wieder auf die Beine kam.

So schnell er konnte, stellte sich Bob neben den jungen Piloten. »Da drinnen«, erklärte er.

Sie kletterten durch das Fenster in einen vom Schnee verschont gebliebenen Raum. Offenbar war er Teil eines Bekleidungsgeschäfts, denn Reihe um Reihe hingen von vereisten Gestellen Herrenanzüge herab. An Wandhaken waren noch Messbänder und Klemmbretter angebracht, und auf einem Pult in einer Nische kauerte eine verwaiste Computeranlage. Weiter hinten wirbelte Pulverschnee über den schwarz-grauen Linoleumboden.

Inzwischen hatten alle drei ihre Instrumente gezückt und wurden schnell fündig. Aus einem Wäschekorb voller Lumpen stieg Wärme empor. Hatte tatsächlich jemand darunter überlebt? Ein Kind vielleicht? Dr. William Hanks, ein Marinearzt, der nach Einsätzen in Grönland und der Antarktis mit der Behandlung von Frostbeulen vertraut war, trat näher heran. »Können Sie mich hören?«, rief er mit von seiner Skimaske gedämpfter Stimme.

Ihr Auftrag lautete, Opfer zu identifizieren, sie zu bergen, wenn möglich zu behandeln und die Suche fortzusetzen. Aber zuallererst mussten sie die jeweilige Person zu Gesicht bekommen. Vorsichtig zupfte Bob an der steif gefrorenen obersten Lumpenschicht. Sie ließ sich erstaunlich leicht lösen. Plötzlich gellte ein spitzes Kreischen durch den Raum, und irgendetwas flitzte los. Bill prallte erschrocken zurück, direkt gegen Mike, der vor Schreck aufschrie. Und dann sahen sie es. Auf der Schulter eines der Anzüge kauerte ein extrem abgemagertes, über alle Maßen empörtes Eichhörnchen.

»Muss aus dem Bryant Park sein«, brummte Mike, während das Tier sie aus seinen dunklen Augen misstrauisch anstarrte. Mike musste es wissen – er war in Manhattan aufgewachsen.

Sie gingen zurück ins Freie. Bob funkte den Fund ins Basislager, das auf der festen Schneedecke über dem Central Park, da wo die Sheep Meadow gewesen war, errichtet worden war. Von dort waren die Suchtrupps ausgeschwärmt, nachdem zwei Helikopter sie abgesetzt hatten. Mary Travis und der andere Pilot waren gerade dabei, Zelte aufzubauen, die Feldküche einzurichten und die Vorbereitungen für die Rückkehr der Trupps zu treffen.

»Zwei Uhr«, sagte Bill Hanks. Um vier Uhr sollten sie die Sixth Avenue erreicht haben und sich vorbei an den Hüllen der Wolkenkratzer wieder den anderen nähern. Sie freuten sich schon auf die wärmende Suppe. Bevor sie sich ausruhen durften, gab es allerdings noch einige Arbeit zu leisten. Zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehörten mehrere große Gebäude, darunter die Zentralbibliothek. Wenn es noch überlebende Flüchtlinge gab, so nahm man an, hatten sie sich in öffentlichen Gebäuden gesammelt. Die Notfallmaßnahmen hatten nicht mehr durchgeführt werden können, aber es war nicht auszuschließen, dass ein paar Leute mitbekommen hatten, dass dort während der zweiten Sturmwoche Lebensmittellager angelegt worden waren.

Als sie den Rückweg antraten, blieb Bill kurz stehen und ließ den Blick über die zugeschneite Stadt zum mächtigen Turm des Empire State Building schweifen. Bob folgte seinen Augen. Vor dem strahlenden Blau des Himmels wirkte das Gebäude unglaublich schön. Das Glas seiner Fenster mochte dunkel und geborsten, sein berühmter Funkturm verschwunden sein, aber es hatte sich gegen das Wüten des Sturms auf eine Weise behauptet, die in Bob ein Gefühl von Stolz und Entschlossenheit weckte.

Als Klimatologe kannte er die grausame Konsequenz dieser Situation nur zu gut. Falls die Schneemassen schmolzen, war die Stadt der Zerstörung durch eine Flut preisgegeben, wie sie noch kein Mensch erlebt hatte. Schmelzwasser aus dem bergigen Norden würde alles ertränken. Irgendwann würden die meisten Wolkenkratzer einstürzen, wenn ihre Fundamente von den gewaltigen Wassermassen fortgerissen wurden.

Blieb die Schmelze aus, würde das nächste Jahr mehr Schnee bringen, und das Jahr darauf noch viel größere Mengen. Es würde überhaupt nicht mehr aufhören zu schneien, nicht in der nächsten Zukunft und auch nicht in absehbarer Zeit.

Bob sah noch immer hinauf zum Empire State Building. Es hatte immer zum Hintergrund seiner Welt gehört, etwas, das man seinen Kindern zeigte, wenn man mit ihnen nach New York fuhr. Mehr hatte es ihm nicht bedeutet. Aber jetzt empfand er es als ein Heiligtum, das der Erinnerung der Menschheitsgeschichte gewidmet war.

Sie setzten ihren Weg fort und näherten sich der Bibliothek. Keiner rechnete damit, dass sie noch etwas Besonderes finden würden. Schnell gingen sie nicht – das war einfach nicht möglich. Jeder hatte vier Energieriegel dabei, ihre einzige Nahrung bis zur Rückkehr zum Lager. Als sie die Fifth Avenue erreichten, bogen sie in Richtung Norden ab. Ein Straßenplan und ein Computerausdruck erleichterten ihnen die Orientierung. So konnten sie sich stets in der Mitte der Straßen halten. Turmhohe Schneeverwehungen schmiegten sich gegen die Häuser, wenn sie sie nicht ganz zudeckten. Man kam sich vor wie in einer Hügellandschaft, aus der hier und dort Gruppen von Wolkenkratzern herausragten. Sich auf diese Verwehungen zu wagen wäre lebensgefährlich, konnte man doch in die Tiefe sinken bis hinab zu den Trümmern der darunter begrabenen Häuser.

Auch von der Bibliothek versprachen sie sich nichts. Bis auf Teile des Dachs und die oberen drei Meter der Säulenhalle lag sie unter den Schneemassen begraben.

Ihre Geräte meldeten keinerlei Spuren von Leben. Bob schaltete das Funkgerät ein. »Kein Erfolg an der Ecke Forty-second, Fifth Street. Bibliothek ist nur noch eine Ruine.«

Er holte tief Luft. Und blieb abrupt stehen. Dann schnüffelte er. »Jungs«, sagte er unvermittelt, »riech ich da vielleicht Rauch?«

Die anderen schnupperten nun ebenfalls. Bill nahm sogar seine Gesichtsmaske ab und schloss die Augen. Dann begegneten sich ihre Blicke. Worte waren nicht nötig.

Kaum hatten sich die drei Männer wieder in Bewegung gesetzt, sahen sie es direkt vor sich: eine dünne weiße Rauchfahne, die sich in den blauen Himmel kringelte. Sie beschleunigten ihre Schritte.

Vor dem wuchtigen Dach der Bibliothek stießen sie auf einen ausgetretenen Pfad, der von den Säulen bis ins Dunkel der Vorhalle führte. Die ganze Umgebung war verrußt. In den festgetretenen Schnee waren richtige Stufen gehauen worden.

Aufgeregt strebten sie darauf zu. Bob spürte, wie sein Herz immer schneller pochte. Er wollte schon hinter den Säulen nachsehen gehen.

»Bleib stehen«, zischte Bill.

Schlagartig besann sich Bob wieder auf seine militärische Ausbildung. Sie hatten Waffen, und jetzt war der richtige Moment, sie bereitzuhalten. Er öffnete den Parka, seine Hand wanderte zum Griff seiner Pistole. »Okay«, raunte er. »Gib mir Deckung, Bill. Und du hältst hier die Stellung, bis ich dich rufe, Mike.«

Während Mike zurückblieb, huschten Bob und Bill weiter in die Dunkelheit. Die Luft unter der mächtigen Steindecke wurde immer verrauchter. Bald war es so dunkel, dass sie ihre Nachtsichtbrillen aufsetzen und die Taschenlampen einschalten mussten.

»Hör nur«, flüsterte Mike.

Stimmen, und zwar viele, alle schrill und aufgeregt.

»Himmel«, murmelte Bob.

Sie gingen weiter. Vor ihnen tauchte ein zerborstenes Deckenfenster auf, dann das Innere der Bibliothek. Weiter unten flackerte Licht – ein kleines Feuer. Bob beugte sich vor. Ihm bot sich der wohl verblüffendste Anblick seit Ausbruch des Sturms, ja, seines ganzen Lebens. Auf dem Marmorboden des Stockwerks unter ihnen kauerten ungefähr zwanzig Kinder. Bei ihnen stand eine junge Frau. Sie waren alle total verschmutzt. Mit Büchern hatten sie ein Feuer entfacht, auf dem sie etwas kochten.

»Hey!«, rief Bob.

Schlagartig erstarb das Stimmengewirr. Alle Gesichter starrten nach oben. »Daddy!«, schrie eine piepsige Stimme. Mit einem Mal liefen alle Kinder auf die Leiter zu, die ihre Höhle mit der Außenwelt verband.

»Kinder!«, bellte die junge Frau. »Zurück!«

Sie blieben abrupt stehen. Dieses Mädchen hatte ihnen doch tatsächlich Gehorsam wie bei der Armee beigebracht.

»In Reih und Glied aufstellen!«, befahl sie. »Und zurück in den Lesesaal!«

»Im Lesesaal ist es doch so kalt, Schwester«, wimmerte ein Kind.

»Kein Widerspruch!«

Inzwischen war Bob unten angekommen. Die junge Frau näherte sich ihm zögernd. Ihre Augen wirkten in dem düsteren Licht riesig, ihr Gesicht war eingefallen, um ihre linke Hand hatte sie Lumpen gewickelt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

»Wir können Ihnen helfen«, erwiderte Bob sanft und zog sie behutsam an sich.

Sie brach in Tränen aus.

Als die Kinder sahen, dass ihre Lehrerin sich umarmen ließ, kamen sie langsam auf ihn zu. Es waren insgesamt 19, die ganze vierte Klasse der Saints Peter and Paul Elementary School in Far Rockaway. Sie hatten eine Klassenfahrt nach Manhattan unternommen, um etwas über Bibliotheken zu erfahren. Als der Schneesturm immer heftiger wurde und der Bus einfach nicht kam, hatte sie in der Schule angerufen. Man hatte sie aufgefordert zu warten; der Fahrer hätte gemeldet, er sei noch unterwegs.

Der Bus kam nicht mehr. Die Bibliothek leerte sich, bald waren sie dort ganz allein. Die Telefone fielen aus. Der Strom fiel aus. So ging sie mit den Kindern ins Restaurant auf der anderen Straßenseite und wartete dort. Dann funktionierte auch die Gasheizung nicht mehr. Als es zu kalt geworden war, hatte sie beschlossen, mit den Kindern in die Bibliothek zurückzukehren, wo sie wenigstens mit den Büchern heizen konnten.

Die junge Frau war Schwester Rita O’Connor und gehörte dem Orden Sisters of Divine Providence an. Seit Beginn des Sturms hatte keines ihrer Kinder seine Eltern erreichen können. Sie waren erschöpft und verängstigt, hatten Heimweh und froren entsetzlich. Eines der Kinder hatte eine Lungenentzündung, zwei hatten Frostbeulen, die Hand der Schwester war erfroren und, wie sie befürchtete, brandig.

Bill untersuchte sie sogleich. Nun, eine Gangrän war es nicht, aber schlimm sah es trotzdem aus.

Danach gaben sie ihre Entdeckung ans Basislager durch. Allem Anschein waren in New York doch nicht alle tot. Die anderen Teams meldeten ebenfalls, dass sie hier und dort Schlupflöcher gefunden hatten.

Die Einsatzzentrale in Quantico bestimmte, dass die Flüchtlinge, die als »überlebensfähig, aber auf medizinische Hilfe angewiesen« eingestuft wurden, zur Sheep Meadow transportiert werden sollten. Dort würde eine C-130 im Anschluss an einen ähnlichen Einsatz in Washington noch vor sechs Uhr eine Palette mit Zelten und drei Tagesrationen Lebensmitteln für 50 Personen abwerfen. Morgen sollten für die Arktis geeignete Schneeanzüge abgeworfen werden.

Für Schwester Rita und die vierte Klasse der Saints Peter and Paul endete so der letzte Schulausflug. Weinend ging sie neben Bob her. Die Hoffnung auf Hilfe hatte sie bereits aufgegeben. Was geschehen war, hatte sie noch nicht begriffen. Sie hatte die ganze Zeit geglaubt, der Blizzard sei auf New York beschränkt gewesen. Als sie erfuhr, wie viele Teile der Welt ebenfalls davon betroffen waren, blieb sie lange stumm.

Die Kinder verhielten sich außerordentlich diszipliniert. Alle halfen sich gegenseitig und auch Schwester Rita so gut sie konnten.

Bei ihrer Rückkehr ins Lager senkte sich Dunkelheit über die Stadt. Weil Manhattan ohne Licht war, konnte man alle Sterne sehen. Der Mond war eine Scheibe aus reinstem Silber, als er sich anschickte, der Sonne in den noch orangefarben leuchtenden Westen zu folgen.

Mary hatte ein Zelt aufgebaut, ein Wasserkessel dampfte, und die Luft roch nach Essen. Wiener Würstchen, dachte Bob. Die Kinder konnten es nach dem langen Hungern kaum noch erwarten. Endlich gab es wieder etwas Warmes.

Als sie das einzige bereitgestellte Zelt betraten, gab es eine Überraschung. Es war bereits mit 30 Leuten gefüllt und drohte aus allen Nähten zu platzen. Die Luft darin war so schlecht, dass Bob Brechreiz davon bekam. Irgendwie schaffte er es, ihn zu unterdrücken.

Es waren Leute aus allen Gesellschaftsschichten – Einheimische oder Besucher wie Rita und ihre Klasse, die vom Sturm Überrascht worden waren, Menschen, die in der U-Bahn Zuflucht gefunden hatten oder in irgendwelchen Gebäuden, wo es zufällig etwas Verheizbares oder irgendwelche Vorräte gegeben hatte.

Die meisten waren am Verhungern. Alle hatten Frostbeulen und Probleme mit dem Atmen. Einige würden bald sterben.

Doch jeder Einzelne strahlte etwas aus, das Bob nur aus Büchern kannte, aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte: die Würde und die Entschlossenheit eines Menschen, der etwas Schreckliches überlebt hat. Selbst die Kinder zeigten eine sanfte, beharrliche Stärke und Einfühlungsvermögen für all die anderen um sie herum.

An ihnen erkannte Bob, was tatsächlich in einem Menschen steckt – etwas, das es ihm ermöglicht, schreckliche Ereignisse zu überleben. Es war das Gleiche, das Schwester Rita die Kraft gegeben hatte, 19 Kinder auf einer Reise durch die Hölle am Leben zu erhalten, und das in den anderen sämtliche Reserven mobilisiert hatte. Die verkrümmten Rücken, die fahlen Gesichter, die weit geöffneten Augen in jedem Einzelnen von ihnen konnte er einen unbändigen Lebenswillen erkennen.

Über ihnen gab es plötzlich ein Donnern, ein Flugzeugmotor, der nun gedrosselt wurde. Alle drängten ins Freie hinaus.

Die Nacht hatte eine brutale Kälte gebracht. Das Thermometer zeigte inzwischen minus 68 Grad an. Bei solchen Temperaturen hielten sich keine Schadstoffe mehr in der Luft. Die Sterne schienen regelrecht zu singen, so hell und klar standen sie am Himmel. Und es waren so viele.

Plötzlich fing Michael an laut zu rufen und zu gestikulieren. In den Hochhäusern rings um den Central Park wurden jetzt hinter allen möglichen Fenstern auf einmal Kerzen angezündet. Leute hatten das Flugzeug gehört. Sie hatten die Zelte und die Lichter gesehen und gaben ein Lebenszeichen.

Es waren so viele Kerzen, dass man meinen konnte, die Sterne wären heruntergestiegen. Kein Laut war zu hören, aber die Botschaft der Kerzen konnte jeder verstehen.

Wir sind da, sagten sie, und wir sind viele, mehr als ihr für möglich gehalten hättet, viel mehr.

Wir sind immer noch da.