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„Wir sollen dir aus den Schwierigkeiten helfen? Ich dachte, es müßte umgekehrt sein.“ Sie-lachte. „Übrigens: Ich bin allein auf dieser Insel, ohne meine Gefährten“, sagte sie. „Die sind schon vor vielen Monaten mit Schlauchbooten und Flößen in Richtung auf den Landeplatz von Modul zwei tiefer in dieses Archipel vorgedrungen. Ich hoffe, daß sie dort gut angekommen sind und sich mit der anderen Gruppe vereinigen konnten. Mein Modul ist nämlich beschädigt.“
„Was?“ schrie er empört. „Sie haben dich einfach deinem Schicksal überlassen?“
Sie hob beschwichtigend die Hand. „Ich wollte es so. Ich bin Kontaktlerin. Auf der Erde bezeichneten uns manche Leute auch als Sensibilisten. Die Menschheit wird hier auf ARCHIPELKA einen Stützpunkt für die Raumflotte einrichten. Und dann brauchen wir eine Grundlage für das gegenseitige Verstehen zwischen Menschen und Krabbieren. Deshalb spielt es keine Rolle, wenn ich zunächst erst einmal ›verschollen‹ bin. Ich hätte sowieso mehrere Jahre allein unter den Krabbieren leben müssen, um ihre Eigenheiten kennenzulernen und ihre Fremdheit zu begreifen.“
Jill staunte über diese unbegrenzte Zuversicht. Offenbar hatte Vitree damit gerechnet, irgendwann einmal gefunden zu werden und dann gute Ergebnisse ihres Auftrages vorlegen zu können. Er versuchte sich zu erinnern, was eine Kontaktlerin eigentlich für eine sonderbare Spezialistin unter den Angehörigen der Raumflotte darstellte. Soweit er das noch wußte, umfaßte ihre Ausbildung sowohl extraterrestrische Linguistik, Anthropologie und Ethnographie als auch außerirdische Ökologie, Psychologie, Soziologie und vieles mehr. Mit anderen Worten: Sie stützt sich auf nichts als auf ihre Intuition, auf Geduld und Zähigkeit, denn was man auf den genannten Gebieten wußte, war eigentlich gleich Null. Er konnte nur hoffen, daß sie wenigstens ein doppelt so gutes Überlebenstraining absolviert hatte wie die übrigen Erkunder der Raumflotte. Daß jemand ohne Rückhalt und ohne die Übermacht einer umfassenden irdischen Ausrüstung eine solche Aufgabe übernehmen konnte, war ihm unbegreiflich. Vitree hatte wahrscheinlich nicht einmal eine Waffe.
„Und nun?“ fragte er.
„Was, und nun?“
„Hast du die Fremdheit der Chitiner schon annähernd begriffen?“
Was für ein sonderbares Gespräch er hier führte, bewacht, mitten im Pflanzendickicht einer fremden Vegetation unter den Strahlen der Wega mit einer unbekannten Frau. Er sollte besser an seine Befreiung und an Flucht denken. Es war unklug, akademische Überlegungen anzustellen, kurz bevor einem vielleicht der Kopf von einer Krebszange abgetrennt wurde.
„Nein, das ist wohl nicht der Fall, noch nicht. Erst vor wenigen Monaten habe ich ihre Sprache einigermaßen gelernt. Seitdem kann ich mich den Krabbieren nähern. Bis dahin hatte ich mich ihnen nur von fern gezeigt. Die Kapsel war meine Festung. Von dort aus habe ich sie vorsichtig von meiner Ungefährlichkeit überzeugt. Und nun stellen sich die ersten Erfolge ein, jetzt erst geht es mit meiner Aufgabe voran.“
„Wie schön für dich. Aber dafür bist du auch ziemlich verdreckt und runtergekommen. Ich sage dir in aller Freundschaft: Komm mit zum Raumgleiter! Wir flüchten! Das ist hier kein Leben. Es wird Zeit, daß du mal wieder unter Menschen gehst.“
„Nein, dann wäre alles Durchhalten vergebens gewesen. Dazu steht für die Kontakte zwischen Menschen und Krabbieren gerade jetzt, da die ABENDSTERN eingetroffen ist, zuviel auf dem Spiel.“
„Vitree Laväl, du bist verrückt! Du bist — ach ich weiß nicht, für wie töricht ich dich halten soll“, sagte er und winkte resigniert ab.
„Immerhin habe ich erreicht, daß sie mich dulden und ich ein paar Brok- ken ihrer Sprache begriffen habe.“
„Wenn die knackenden Nuschellaute vorhin Sprache waren, dann lief die Konversation schon faßt fließend“, spottete er. „Was hast du dem Chitiner mitgeteilt?“
„Dir sei nicht bekannt gewesen, daß dein heulender Himmelsfloßler im Glitzerpanzer die Dottersäfte der Gierschnabler wuppen wollte und davon wie gelähmt über den Waben hocken bleiben würde. Du hättest ihn sonst an einen anderen Himmel geritten.“
„Danke. Sehr liebenswürdig, ein gutes Wort für mich bei ihnen einzulegen. Hat man dich wenigstens verstanden?“
„Nur teilweise.“
„Was heißt das, nur teilweise?“ fuhr er auf.
„Schuldlosigkeit ist ein Begriff, der außerhalb ihres Denkens und Fühlens ltegt“
„Und so etwas nennst du Primaten mit Veranlagung zur Intelligenz?“ rief er.
„Nur keine voreiligen Schlußfolgerungen!“ warnte sie. „Intelligenz läßt sich auf vielerlei Weise definieren. Das ist nicht nur eine Frage der Fähigkeiten zur moralischen Bewertung einer Tat.“
„Was, beim roten Fleck des Jupiters, heißt eigentlich wuppen?“
„Das ist ein nicht übersetzbarer Gedankeninhalt.“
„Oho. Ich als Homo cosmonauticus bin geistig also so beschränkt, daß ich die Gedankeninhalte eines Krabbieren nicht verstehen kann?“
„Sei nicht kindisch. Du weißt genau, wie es gemeint ist. Ich sprach von meiner Unfähigkeit, es zu interpretieren.“
„Und worüber habt ihr noch geplaudert?“
„Ich fragte, ob ich dich aus dem Kokon rausnehmen darf.“
„Laß mich raten. Bestimmt lautet die Antwort: ja!“
„Sehr witzig ist das nicht. - Im Gegenteil: Es ist mir verboten worden, aber ich habe es trotzdem getan.“
Jill drehte den Kopf zur Seite. „Entschuldige“, sagte er kleinlaut und dachte, wer weiß, was sie mit ihrer Eigenmächtigkeit für mich riskiert hat. Er fühlte plötzlich eine starke Zuneigung zu ihr, weil sie sich seiner annahm und auch weil sie die Krabbieren so ernsthaft verteidigte. „Am besten, du steckst mich schleunigst wieder in den Kokon zurück, ehe die Wächter nebenan merken, daß ich mir mal die Beine vertreten habe“, schlug er vor. Sie überhörte es. Jill war darüber froh, weil es ihm die Flucht erleichterte, die er. plante.
Er wußte nur nicht, ob er Vitree einweihen sollte oder ob es besser wäre, auf eigene Faust zu handeln und mehr auf die Unterstützung der ABENDSTERN zu setzen. Dort mußte man inzwischen bemerkt haben, daß etwas nicht in Ordnung war. So wie die Kontaktlerin bisher geredet hatte, konnte er nicht sicher sein, von ihr bei der Flucht unterstützt zu werden.
Vitree merkte ihm seine Gedankengänge nicht an und sagte: „Man kann die Wesenszüge einer fremden Kultur nur begreifen, wenn man selbst in sie eintaucht und alles genau so erduldet oder durchleidet wie jene, die man begreifen will.“
Für ihn hörte es sich wie eine verspätete Entschuldigung dafür an, daß sie so abgerissen aussah. „Ausgeschlossen. Das gelingt dir nur zur Hälfte, weil du dabei ein Mensch bist und bleibst, es sei denn, du wärst hier schon unter Krabbieren geboren worden“, antwortete er.
„Warte es ab. So etwas kommt noch, wenn es hier einmal einen irdischen Stützpunkt gibt. Ich habe aber auch so schon Erfolge. Doch zunächst mußte ich mich in den vergangenen Jahren nach und nach von so vielen Ausrüstungsgegenständen trennen wie irgend möglich, um der Mentalität und dem Leben der Krabbieren näherzukommen.“
„Das wäre mir zu dornenreich. Zu soviel Entsagung könnte ich mich nicht durchringen, ganz abgesehen von der Gefährlichkeit eines solchen Entschlusses“, stellte er fest. Aus lauter Mitgefühl hätte er sie jetzt gern berührt.-
Der Knubbelkopf des Wächters drang wieder durch die Blätterwand und nuschelte knackend etwas. Das unterbrach ihren Disput. Vitree stand auf und ging weg. „Es gibt etwas zu verhandeln“, erklärte sie. „Eine Weile muß ich dich allein lassen.“
Jetzt habe ich eine Gelegenheit abzuhauen, dachte Jill; jetzt schadet es ihr nicht. Er schlängelte sich mit Kopf und Hals durch die Laubwand und spähte vorsichtig hinter Vitree her. Neben der Gondel war eine Art Planke. Das knorrige Astwerk eines urwüchsigen Baumes erstreckte sich bis zu vierzig Meter nach allen Seiten und bildete auch das Stützwerk für diesen Teil der merkwürdigen Seilbahn aus zähen Pflanzensträngen. Vier von diesen apokalyptischen Krabbierenkriegern hatten sich im Geäst rings um die Planke verteilt, hockten aber friedlich neben ihren abgelegten Schilden.
Die Kontaktlerin verschwand in einer Öffnung des Baumstammes, begleitet von einem der Wächter. Jill schätzte den Durchmesser des Stammes auf zwölf bis fünfzehn Meter. Offensichtlich war dieser ausgehöhlt, enthielt Kammern und sogar eine Wendeltreppe hinab zum Waldboden. Jill wagte jedoch nicht, sie zur Flucht zu benutzen. Er sah sich nach anderen Möglichkeiten um, auf den Waldboden zu gelangen.
Das Blätterdach des Waldes hoch oben war schirmartig, so daß nur wenig Licht einfiel. Wohin Jill auch spähte, überall bildeten ösenartige Äste Plattformen, auf denen sich große Körbe erhoben. Sie stellten wahrscheinlich die Behausungen der Krabbieren dar. Die glattgewetzte Rinde bei den stärkeren, fast waagerecht verlaufenden Hauptästen deutete auf häufige Benutzung hin. Offenbar spielte sich der Fußgängerverkehr nicht nur auf dem Waldboden ab, den Jill in dämmriger Tiefe gerade noch erkannte. Ein Trupp Krabbieren folgte auf dem Nachbarbaum einem solchen Gehweg im Geäst, der anscheinend nach unten führte. Jill merkte sich die Stelle und zog den Kopf in die Gondel zurück.
Eigentlich hatte Jill vorgehabt, seinen Einsatzanzug auszuziehen und ihn samt Helm in den Kokon zu stopfen, damit es so aussah, als liege er drin. Er würde ohne die Schutzkleidung beweglicher sein, vor allem, wenn es darum ging, einen längeren Fluchtweg im Astwerk zu benutzen. Doch schon nach den ersten Handgriffen, sich seiner zu entledigen, verwarf er diesen Gedanken und entschloß sich, den Anzug doch anzubehalten. Dieser bot ihm eine gewisse Abschirmung, selbst wenn er ihn schwerfälliger machte. Es mochte Gefahren geben, gegen die so ein Spezialanzug besser schützte als nur die Unterkombination. Außerdem enthielt der Anzug in den Taschen die Minimalausrüstung, auf die Jill besser nicht verzichten wollte.
Jill nahm den Nadler aus dem Futteral, konzentrierte sich auf die Flucht, holte tief Luft, sprang durch die Blattwand und — verhedderte sich hoffnungslos in Pflanzensträngen. Er purzelte über die Planke und mußte sich erst aus den Verschlingungen befreien. Der Nadler entglitt ihm, rutschte bis an die Kante und blieb dort gerade lange genug vor dem Absturz liegen, daß Jill ihn eben noch im letzten Moment ergreifen, aufspringen und loslaufen konnte.
Die Krabbieren fuhren aus ihrer Ruhehaltung auf, packten ihre Schilde und starrten ihn an, ohne sich vom Fleck zu rühren. Sie waren unentschlossen. Jill nutzte diesen Vorteil und stapfte auf einem dicken Ast zwischen ihnen hindurch zum Nachbarbaum. Er beglückwünschte sich, schwindelfrei zu sein, denn die Stege in den Baumkronen waren ohne Geländer. Bald fand er den Gehweg nach unten und erreichte schneller als erwartet den Waldboden. Ein Blick zurück ließ ihn erkennen, daß ihm die Wachen folgten.
Jill wandte sich in die erste beste Richtung und stolperte davon. Hastig riß er sich dabei den Helm vom Kopf und hakte ihn am Gürtel fest. Das gab ihm Sichtfreiheit. Die Verfolger holten auf, und einer der Krieger warf eine hartschalige Frucht. Sie zerplatzte über Jill an einem Stamm und schleuderte Dutzende von Stacheln auf ihn hinab. Sie blieben an ihm haften. Jill wich den Krabbieren aus, die ihm den Fluchtweg verlegten, und änderte die Richtung. Vor einem Dickicht zögerte er. Hoffentlich sind dort keine Buschwak- kerer, was auch immer das für Tiere sein mögen, dachte er. Dann brach er sich entschlossen Bahn, obwohl ihn mehrmals kleine Tiere attackierten, die sich mit Saugnäpfen an ihn hefteten. Den Nadler hatte er inzwischen wieder weggesteckt; im Buschwerk nützte er ihm nichts. Er schützte sein Gesicht mit dem Arm. Der Anzug hielt den Saugnäpfigen stand. Überraschend schnell stellten die Tiere ihre Angriffe ein. Mühsam arbeitete sich Jill weiter durch das zähe Gestrüpp. Die Krabbieren schienen die Verfolgung verlangsamt zu haben.
Plötzlich hatte er den Wald hinter sich gelassen. Vor ihm breiteten sich felsige Küste und das Meer aus. Mitten in den Klippen lag das Modul. So aus der Nähe betrachtet, hatte es nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Felsklotz. Wind blies Jill ins Gesicht und ließ seine Haare wehen. So blindlings, wie er losgelaufen war, schien es ihm unfaßbar, auf das Modul gestoßen zu sein. Schnell kletterte er zu ihm hinunter. Vitree hatte gesagt, das Modul wäre ihr lange Zeit eine sichere Festung gewesen. Und so, wie es nun vor ihm aufragte, wirkte es auch auf ihn wie eine Burg. Sollten die Krabbieren ihn hier belagern, wäre er lange Zeit sicher. Keuchend ruhte er aus, ehe er das Magnetschloß betätigte. Das aufflammetfde Licht in der Schleuse und der vertraute Bordgeruch verliehen ihm ein heimatliches Gefühl. Seine Gelassenheit kehrte zurück. Er blieb vor der Schleuse stehen und spähte nach den Verfolgern.
Oben am Felssaum der Küste standen vier Krabbierenkrieger vor der Kulisse des Waldes. Sie warteten ab. Ihre Chitinrüstung schimmerte im Abglanz des Meeres kupfern und wirkte martialisch wie mittelalterliche Bronze. Bei einiger Phantasie vermochte sich Jill auf diese Entfernung sogar Schwerter, Lanzen, Federbusch und Kettenhemd vorzustellen. Was er als Kettenhemd ansah, waren vermutlich jedoch nur Armschuppen. Ähnlich mochte es mit den anderen Details sein.
Er versetzte sich in die Lage des Verfolgers und schmunzelte unwillkürlich, denn er bot ihnen einen kaum weniger phantastischen Anblick: Vor dem Eingang eines zauberkräftigen Seeschlosses von mysteriöser Herkunft stand die silberglänzende Figur eines Himmelsdämons, mit den Dornen der Kampffrucht gespickt. Der Himmelsdämon hatte schockierenderweise seinen Außenkopf abgerissen und an den Gürtel gehängt. Den Innenkopf umrahmten die Haare als ein. Kranz von Flimmertentakeln. Mittendrin prangte ein fleischiger Sporn, dessen Funktion als Atemorgan sicherlich nicht zu erraten war. So machten sie sich also gegenseitig furchtbare Bilder voneinander.
In diesem Augenblick erschien zwischen den martialischen Kriegern eine Gestalt in einem sonnengelben Umhang: Vitree Laväl! An Leinen führte sie Tiere, die Jill für Riesenwürmer hielt. Langsam schritt sie zwischen den Klippen herab und überquerte den verwitterten Steg zum Modul. Dabei erwiesen sich die Würmer als Madenmöpse mit glasigen Schnürwülsten, wie sie auf der Erde Engerlinge besaßen. Gemächlich buckelten und walkten sie über das Geröll. Die Körperwallungen gingen von einer blumenkohlartigen Flachnase aus, über der Augenhörnchen standen und unter der ein ausstülpbares Mundloch schmatzte. Die Scheitellinie war mit lachsfarbenen Lockenfedern geschmückt. Arabeske Hautmuster an den Flanken komplettierten den Körperschmuck. Da die Kosmonautin sie an der Leine führte, stufte Jill die Madenmöpse als zahm ein. In angemessenem Abstand folgte ihr ein unbewaffneter Krabbiere, der Jills leeren Kokon trug.
„Meine Aufgabe ist es, Schwierigkeiten zwischen uns und einer fremden Kultur wie die der Krabbieren soweit wie möglich zu vermeiden, Vertrauen aufzubauen und bei Konflikten jede Chance zu nutzen, um eine Lösung zu finden“, referierte Vitree, als hätte nie eine Unterbrechung ihres Gespräches stattgefunden. Sie betrat mit ihren merkwürdigen Haustieren die Schleuse und winkte ihm, ihr zu folgen.