129787.fb2 Zwischen zwei Welten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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10.

Als der junge Lucas Martino auf die Universität Boston kam, war er überzeugt, daß mit ihm etwas nicht stimmte, und er war entschlossen, es abzustellen, wenn er konnte. Aber schon bald mußte er erkennen, daß dieses so naheliegende Vorhaben schwieriger war, als er sich erträumt hatte.

Die Studenten der Technischen Hochschule waren auserlesene junge Menschen, von denen man erwartete, daß sie eines Tages Stellungen von höchster Verantwortung übernehmen würden. In der alliierten Welt gab es tausend Unternehmen, die nur darauf warteten, besetzt zu werden. Ein System basierte auf dem anderen; sie waren so sehr ineinander verwoben, daß ein schwaches Glied der Kette die ganze Entwicklung zunichte machen konnte. Ein unzuverlässiger Mann bedeutete den Untergang einer ganzen Reihe von mühsam erarbeiteten Projekten. Man hatte ihn so schnell wie möglich herauszufinden und zu entlassen.

Die Lehrer des Technikums waren hervorragende Kapazitäten auf ihrem Gebiet. Ihre Vorträge waren klar und ohne zweifelhafte Argumente. Sie trieben ihre Klassen nicht oder schenkten dem einen Studenten mehr Aufmerksamkeit als dem anderen. Sie erwarteten von ihren Schülern, daß sie fähig waren, das vorgeschriebene Pensum ohne Wiederholungen aufzunehmen.

Lucas hielt diese Art des Unterrichts für die beste Methode. Wenn gewisse Tatsachen gegeben waren, war es besser, daß man Studenten, die sie nicht sogleich verarbeiteten und einordnen konnten, ausmerzte, bevor sie die übrigen an einem zügigen Vorwärtskommen hinderten. Für ihn war diese Unterrichtsmethode ein natürlicher Prozeß, und es kam des öfteren vor, daß er ungeduldig wurde, wenn sein Nebenmann ihn um Hilfe bat und bereits schon soweit zurück war, daß er den Anschluß nicht mehr finden würde. Gleich in den ersten Wochen erweckte er unter seinen Klassenkollegen den Eindruck, daß er unnahbar, kalt und unfreundlich sei.

Seine Lehrer schenkten ihm während des ersten Schuljahres kaum Beachtung. Sie wurden dafür bezahlt, die Schwachen und Unfähigen herauszufinden, nicht aber die Tüchtigen.

Auf Lucas machte es keinen Eindruck, daß man ihn nicht hinreichend würdigte. Er stürzte sich in seine Arbeit und war froh darüber, daß man ihn arbeiten ließ und daß man ihm jede Möglichkeit gab, seine Fähigkeiten anzuwenden. Für ihn war diese Welt eine Idealwelt; eine Welt, in der es nur Leute gab, die an nichts anderes dachten als an Arbeit.

Es dauerte fast zwei Monate, bis er sich so sehr an das Neue gewöhnt hatte, daß er sich einen nahezu regelmäßigen Tageslauf einrichten konnte und dadurch etwas Zeit für andere Dinge fand.

Aber was er fand, war, daß er isoliert war. Irgendwie hatte er es nicht fertiggebracht, Freunde zu gewinnen. Wenn er versuchte, mit anderen zusammenzukommen, mußte er immer wieder entdecken, daß man ihm aus dem Wege ging oder stark beschäftigt war. Er fand es eigentümlich, daß seine Kollegen nahezu doppelt solange für eine Arbeit benötigten, und er stolperte über die Vorstellung, daß auch diese Leute Studenten des gleichen Technikums waren.

Er hatte erwartet, daß er hier auf der Universität eine andere Sorte von Menschen treffen würde. Natürlich gab es eine ganze Reihe, die ihm nicht unähnlich waren; sie schliefen kaum, aßen in aller Eile und kannten nichts als ihre Studien. Sie machten ellenlange Notizen während der Vorlesungen und arbeiteten bis spät in die Nacht. Sie ließen die Briefe, die sie von zu Hause bekamen, unbeantwortet, und Abstecher in die nahegelegene Stadt waren ihnen unbekannt. Wenn sie sich irgendwo trafen, diskutierten sie über ihre Arbeit. Ob der eine oder andere persönliche Probleme hatte, konnte man ihnen nicht ansehen.

Aber Lucas erkannte bald, daß diese Typen weder besonders glücklich, noch hervorragend tüchtige Schüler waren. Sie waren nichts anderes als vorübergehend einseitig Beschränkte.

Eine Zeitlang glaubte Lucas, einer von ihnen zu sein. Aber irgendwie paßte diese Vorstellung nicht so recht, und er kam wieder einmal zu der Schlußfolgerung, daß er irgendeinen Schritt versäumt hatte, den andere Menschen so natürlich taten, daß sie ihn kaum bemerkten. Er war über diese Entdeckung wie immer beunruhigt und dachte über sie nach, sobald er dazu Zeit hatte.

Den einzigen Fortschritt, den er in dieser Hinsicht während der ersten Zeit machte, war die Entdeckung seines Stubenkameraden.

Frank Heywood war der ideale Partner für Lucas Martino. Er war ein stiller, zurückgezogener Mensch, der nur dann sprach, wenn es unbedingt notwendig war, und er schien seine Bewegungen so in ihrem Zimmer zu verteilen, daß sie nie mit denen von Lucas in Konflikt gerieten. Für ihn war das Zimmer nur zum Schlafen und Studieren da; sobald er Zeit hatte, war er fort. Lucas glaubte, daß auch er eine ganze Zeit auf Studien verwandte und dadurch keine Zeit fand, mehr als höflich zu ihm zu sein. Als Frank eines Abends zu ihm sagte: »Weißt du, du bist zweifelsohne die große Nummer in dieser illustren Gesellschaft«, schloß Lucas, daß auch, er inzwischen ein Arbeitssystem gefunden haben mußte und nun Zeit hatte, neben seinen Studien auch noch private Unterhaltungen zu führen.

Lucas saß an seinem Schreibtisch, das Kinn auf seine Hände gestützt und las. Als er Frank sprechen hörte, drehte er sich um und sagte: »Meinst du mich?«

»Ja, dich.« Heywood hatte einen glaubwürdigen Gesichtsausdruck. »Ich meine es ehrlich. Jeder sagt von dir, daß du ein Streber bist. Aber das ist großer Blödsinn. Ich habe dich beobachtet und festgestellt, daß du halb so viel in den Büchern wühlst wie die anderen Affen. Du hast es ja gar nicht nötig. Du siehst es dir einmal an und weißt es bis in alle Ewigkeit.«

»So?«

»Das aber bedeutet, daß du Grütze hast.«

»Ich glaube nicht, daß man Idioten auf diese Schule läßt.«

»Idioten?« Frank fuchtelte wild mit den Händen in der Luft.

»Bestimmt nicht! Schließlich ist dieses Loch die Wiege von Amerikas Intelligenzbonzen, das Magazin der geschliffensten Wissenschaftlerjugend, mit einem Wort: die Hoffnung von morgen. Und dabei kann keiner von ihnen das Quadrat von Plus Eins nennen, ohne sich stundenlang darüber den Kopf zu zerbrechen. Warum? Weil man ihnen gezeigt hat, in welchem Buch sie es nachlesen können, nicht aber, wie man es gebraucht. Du dagegen bist anders.«

Lucas sah Frank erstaunt an. Immerhin war das bisher die längste Rede, die er gehalten hatte. Hinzu kam, daß diese Ansicht für Lucas völlig neu war! Von dieser Seite hatte er das Technikum noch nie betrachtet.

»Was meinst du damit?« fragte er. Er war neugierig geworden und wollte so viel wie möglich über diesen neuen Standpunkt wissen.

»Es ist so: bei der Methode, die man hier anwendet, können die meisten nur durchkommen, wenn sie alles auswendig lernen. Ich kenne meine Pappenheimer, ich habe mit manch einem gesprochen. Was gilt die Wette, daß allein auf unserem Flur mindestens zehn Genossen ihre Bücher in- und auswendig herunterrasseln können, und daß in fünfzehn Jahren unsere Wissenschaft zum Teufel geht, weil niemand den Mut besitzt — ganz abgesehen von dem Können — die Fehler zu verbessern, die sie ohne zu denken, aus ihren Büchern gelernt haben. Ganz bestimmt nicht jene zehn Genossen. Sie werden ihr ganzes Leben lang Kontrollsysteme für Fernraketen konstruieren, wie sie es aus ihren Kinderbüchern gelernt haben.«

»Ich verstehe dich immer noch nicht«, sagte Lucas. Er zog seine Stirn in Falten.

»Paß auf. Diese Typen hier sind keine Idioten. Sie sind verflucht intelligent, sonst wären sie nicht hier. Aber man hat sie eben nur gelehrt, Neues durch Auswendiglernen aufzunehmen. Ihnen bleibt dabei aber keine Zeit zum Denken. Natürlich werden sie, wenn die Zeit kommt, ihr Gedächtnis öffnen und Stück für Stück aus ihrer Erinnerung produzieren.

Ich will damit sagen, daß dies verdammt gefährlich ist. Daß ein intelligenter Mensch sich bewußt zu werden hat, was er macht und was er in sich aufnimmt, und daß jeder, der sich dessen bewußt wird, versuchen muß, eine Änderung herbeizuführen. Diese Schlafmützen aber stört das alles nicht im geringsten. Ich habe damit nicht gesagt, daß sie nicht schlau sind, wohl aber, daß sie nicht schlau genug sind.

Soweit die anderen. Nun kommst du dran. Wenn du arbeitest, macht es Spaß, dir zuzuschauen. Dein Gesicht leuchtet, wenn du einen Artikel über Elektronen liest, genauso als hättest du einen Liebesbrief vor dir. Du führst ein Projekt aus, als seist du der Mann, der einen riesigen Staudamm baut. Es ist offensichtlich; du kaust, bevor du herunterschluckst. Wenn man so etwas sieht, weiß man, wofür dieses Institut wirklich errichtet worden ist.«

Lucas sah auf: »Für wen? Für mich?«

»Ja, für dich. Glaub’ mir, ich habe mir jeden Vogel in diesem Käfig einzeln angesehen. Es gibt noch ein paar außer dir, aber in unserer Gruppe, in unseren vier Klassen, bist du der einzige. An dich kommt keiner heran. Und darum sage ich, daß man dich nicht aus den Augen lassen darf, du wirst einmal eine ganz große Nummer auf deinem Gebiet sein, ganz gleich, ob es sich um Hochbau oder Kerndynamik handelt.«

»Elektronen-Physik, schätze ich.«

»Schön. Elektronen-Physik. Ich bin sicher, daß die Sowjets in ein paar Jahren ganz nett aus dem Häuschen sein werden, wenn sie erfahren, woran du bastelst.«

Lucas blinzelte. Er war überwältigt. »Ich bin der uneheliche Sohn von Guglielmo Marconi«, sagte er. »Sieh dir die Ähnlichkeit unserer Namen an.« Mehr konnte er im Augenblick nicht zu seiner Verteidigung sagen. Immerhin hatte er vorübergehend Heywoods Redeschwall gestoppt und konnte jetzt beginnen, die vielen neuen Gedanken zu ordnen und zu überdenken.

Zum erstenmal hatte er hier ein überzeugendes Argument, daß Verschiedensein von anderen Menschen nicht notwendigerweise schlecht war. Dann fand er sich plötzlich jemandem gegenüber, der sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu beobachten und zu analysieren. Das hatte er bis jetzt nur von seinen Eltern erwartet. Diese zweite Erkenntnis führte zu einer dritten: wenn Frank so dachte und Dinge sah, die die anderen nicht zu sehen schienen, dann war auch er von den anderen verschieden.

Das aber war ungeheuerlich. Nicht nur, daß Lucas nun jemanden hatte, mit dem er sprechen konnte, sondern daß sein Gegenüber mindestens genauso tüchtig war wie er. Ja, sogar noch mehr, denn schließlich hatte er die Dinge erkannt, nicht Lucas.

Lucas fand Franks Hypothese nicht uninteressant. Wenn er sie logisch durchdachte, konnte er nicht umhin, sich selbst als ein Genie zu erkennen. Zwar fand er diese Tatsache sehr zweifelhaft, aber er fand kaum ein ernsthaftes Argument gegen sie. Im Gegenteil, diese Hypothese erlaubte es ihm endlich, sein ganzes bisheriges Leben zu interpretieren.

In den folgenden Wochen durchlebte Lucas eine Art beschwingenden Rausches. Es war ihm endlich gelungen, sich selbst zu erkennen. Er sprach mit Frank über das, was ihn gerade im Augenblick interessierte, und nur selten brachen sie ihre Diskussionen vor Mitternacht ab. Eines Abends fiel es Lucas ein, Frank nach seinen Fortschritten in der Klasse zu fragen.

»Was, ich? Prima. Immer schön Drei bis Vier.«

»Drei bis Vier?«

Heywood grinste. »Hör’ zu, mein Täubchen, du gehst in deine Kirche und ich in meine. Wenn ich hier durch bin, bekomme ich genauso ein Pergament mit der Aufschrift Massachusetts Technikum, wie du.«

»Ja. Aber das ist doch keine Promotion —«

»Ist das alles, woran du denkst? Schön, wenn du nach dem Examen weitermachen willst; aber ich persönlich habe keine Lust, vierzig Jahre lang meine Tage in Yucca Flat abzuschwitzen und mich dann pensionieren zu lassen. Ich mache mein Examen hier und benutze es als Eintrittskarte für einen schönen, runden Posten bei der Regierung, wo ich auch vierzig Jahre herumsitzen werde, aber immerhin unter einer Klimaanlage und mit einer größeren Pension in Aussicht.«

»Und das ist alles?«

Heywood lachte. »Das ist alles, Dummkopf.«

»Deine Pläne kotzen mich an, sie hätten nicht billiger sein können. Du, mit deinem Kopf!«

Ein breites Grinsen lag auf Heywoods Gesicht. »Warum sollte ich mich hier abrackern? Auf diese Weise komme ich durch und habe genügend freie Zeit, um mich zum Beispiel mit meinem Stubenkollegen zu unterhalten. Glaub’ nur nicht, daß man hierfür kein Köpfchen braucht.«

Daß man Köpfe wie Frank auf diese Art und Weise verschwendete, war Lucas im Innersten zuwider. Er verstand ihn nicht und begann, sich von ihm zurückzuziehen. Der Gedanke, daß er ein Genie war, verlor sich ebenso schnell; und nur manchmal in seinem späteren Leben, wenn ihm etwas besonders Wichtiges gelungen war, tauchte der nutzlose Gedanke wieder auf, um dann genauso schnell wieder unterdrückt zu werden.

Lucas und Heywood blieben bis zu ihrem ersten Examen zusammen. Heywood war und blieb während dieser ganzen Zeit auch weiterhin der ideale Stubenkollege. Es schien ihm nichts auszumachen, wenn Lucas wochenlang kein Wort von sich gab und von morgens bis abends über seinen Arbeiten saß. Manchmal konnte Lucas sehen, daß Frank ruhig in einer Ecke saß und ihn beobachtete.

Nach dem Examen verließ Heywood Boston und verschwand aus Lucas’ Gesichtskreis. Einige Jahre später sagte einer seiner Lehrer zu ihm: »Diese Hypothese, über die Sie neulich sprachen, ist es wert, daß man darüber eine Arbeit schreibt. Von mir aus können Sie sich ransetzen, Martino.«

So kam es, daß Heywood die Geburt des K-88 nicht miterlebte, ja noch nicht einmal etwas von ihr wußte. Für Lucas begann mit dieser Arbeit eine weitere Periode intensivster Beschäftigung und äußerlicher Abgeschlossenheit.