129787.fb2 Zwischen zwei Welten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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9.

Es wurde acht Uhr abends. Rogers legte den Hörer auf das Telefon und sah zu Finchley hinüber. »Er hat bei Nedick’s einen Kaffee getrunken und dazu ein Sandwich gegessen. Das war an der Ecke Achte Straße und Sechste Avenue. Er hat immer noch mit niemand gesprochen und sich nicht um ein Nachtquartier bemüht. Er geht immer noch spazieren.«

Immerhin hat der Kerl was gegessen, dachte Rogers. Finchley und ich dagegen bis jetzt noch nichts. Auf der anderen Seite sitzen wir beide hier gemütlich in unseren Sesseln, während dem Mann da draußen bei jedem Schritt gute zweihundertsechzig Pfund auf die ohnehin schon zerschundenen Füße fallen. Aber warum hört er dann nicht auf, herumzulaufen? Er hatte seit Sonnenaufgang in Europa nicht mehr geschlafen.

»Ich möchte gern wissen, was ihn dazu treibt«, sagte Finchley. »Ob er hinter etwas her ist? Vielleicht hofft er, auf jemanden zu stoßen?«

Rogers seufzte. »Vielleicht hat er nichts anderes vor, als uns sauer zu machen.« Er öffnete die Akte Martino, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Mit dem Finger fuhr er über die spärliche Liste von Namen. »Martino hatte nicht mehr als einen einzigen Verwandten hier in New York. Keine intimen Freunde. Mit dieser Frau hier scheint er eine Weile befreundet gewesen zu sein, während er auf der Abendhochschule war. Sie hat ihm eine Hochzeitsanzeige geschickt. Vielleicht ist hier eine Möglichkeit für uns.«

»Soll das heißen, daß dieser Mann doch Martino ist?«

»Ich habe nichts dergleichen behauptet. Er hat noch keinen Schritt in der Richtung ihrer Wohnung gemacht, obwohl er schon seit ein paar Stunden in nächster Nähe herumläuft. Wenn ich etwas sage, so sage ich, dieser Mann ist nicht Martino.«

»Würden Sie eine alte Bekannte aufsuchen, die über fünfzehn Jahre verheiratet ist?«

»Unter Umständen.«

»Womit nichts bewiesen wäre, weder das eine noch das andere.«

»Haben wir das nicht die ganze Zeit über gesagt?«

Finchley zuckte mit dem Mund. Seine Augen waren ohne jeden Ausdruck. »Und wie steht es mit diesem Verwandten?«

»Sein Onkel? Martino hat bei ihm gearbeitet. Er hatte eine Espressobar. Heute ist in dem Lokal ein Friseurgeschäft. Der Onkel hat mit dreiundsechzig Jahren noch geheiratet und ist dann nach Californien gezogen, wo er vor zehn Jahren starb. Damit ist auch der Punkt erledigt. Martino war kein großer Gesellschafter, er schloß sich keinem anderen Menschen an. Er schrieb genauso wenig ein Tagebuch oder lange Briefe, die man heute noch einsehen könnte. Er war, mit einem Wort gesagt, genau der richtige Mann für dieses Unternehmen.«

»Und dennoch«, sagte Finchley. »Wer kam sofort nach New York, ging sofort nach Greenwich Village und in die Straßen seiner Jugend? Das muß doch einen Grund haben. Aber im Augenblick zeigt er uns nur, wie schön er herumlaufen kann; immer in Kreisen, ohne Ziel. Für einen Mann wie Martino ist das außergewöhnlich.« Finchleys Stimme klang betrübt und nachdenklich.

Rogers war es müde, weiter mit Finchley zu argumentieren; er nahm den Hörer von der Gabel, und während er die Nummer wählte, sagte er: »Ich werde etwas zu essen bestellen.«

* * *

Der Drugstore an der Ecke Sechste Avenue West Siebente Straße war klein und schmal. Man konnte kaum etwas von dem ohnehin spärlichen Fußboden sehen, überall hatten Vertreter von Kosmetikfirmen, Rasierklingenkonzernen und Pinselfabrikanten ihre Reklameschilder aufgebaut. Nirgendwo konnte man die eigentlichen Wände des Raumes sehen; sie waren voll besetzt mit Waren aller Art, die der Inhaber des kleinen Geschäftes auf Lager haben mußte, wollte er nicht seine Kunden an den mächtigen Konsum am anderen Ende der Straße verlieren. Die beiden Leuchtplatten an der Decke spendeten ein so merkwürdiges Licht, daß man nie wußte, ob sie eingeschaltet waren oder nicht. In diesem Zwielicht saß zwischen einem Stapel Bücher und einem überdimensionalen Stoppelbartplakat der einzige Verkäufer und las eine Zeitung. Vor sich hatte er die Registrierkasse, so daß er so gut wie eingeschlossen war. Da es selten vorkam, daß er einmal hinter seiner Barrikade hervorkommen mußte, hatte er es sich angewöhnt, solange sitzen zu bleiben, bis ein Kunde ihn darum bat.

Als er die Tür aufgehen hörte, schaute er über seine Zeitung in die Metallwand eines Ausstellungskastens, der ihm als Spiegel diente. Die Spiegelfläche war etwas beschlagen und schmutzig. Der Verkäufer konnte die vagen Umrisse eines Mannes erkennen. Er versuchte sein Gesicht zu sehen und hielt seine Hand an den Oberrand seiner Brille. Dabei beugte er sich ein wenig vor.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte er automatisch.

Der Mann vor ihm, dessen glitzerndes Gesicht das Licht des Raumes eigenartig widerspiegelte, sagte mit ruhiger Stimme: »Darf ich mal Ihr Telefonbuch einsehen?«

Der Drogist wußte nicht, was er zu einer anderen Zeit getan hätte. Aber die selbstverständliche Art dieses Mannes ließ ihn augenblicklich antworten: »Ja, natürlich. Gleich da drüben ist die Telefonzelle.«

»Danke.« Der Mann quetschte sich durch den schmalen Eingangsspalt in die Telefonzelle. Man konnte hören, wie er in dem dicken Telefonbuch blätterte und mit einem Klick seinen Bleistift aus der Brusttasche zog. Kurze Zeit danach trat er wieder in den Laden. Er faltete das Stück Papier, auf das er die gesuchte Nummer geschrieben hatte, und steckte es in seine Tasche. Als er an der Kasse vorbeikam, sagte er zu dem Verkäufer: »Recht vielen Dank und gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Dann verließ der Mann das Geschäft, und der Drogist vertiefte sich wieder in seine Zeitung.

Aber lesen konnte er nicht. Er mußte immer wieder an das eigentümliche Gesicht des Mannes denken. Komisch, dachte er, aber irgendwie schien der Mann nicht zu wissen, daß er außergewöhnlich aussieht. Sonst hätte er doch versucht, Erklärungen zu geben. Er tat jedoch nichts anderes, als eine ganz normale Frage zu stellen, wie sie normale Menschen zehn-, zwanzigmal am Tag vorbringen.

Es war also nichts, worüber man sich hätte aufregen können, sagte der Drogist zu sich, obwohl — aber der Mann selbst war doch augenscheinlich nicht beunruhigt über seinen Metallkopf, und es ist doch in erster Linie seine Angelegenheit.

Der Verkäufer beschloß, über die Sache später noch einmal nachzudenken. Das war etwas, um es seiner Frau zu erzählen, aber es war nichts, um in kopflose Panik zu verfallen. Mit diesem Gedanken fand er seine Konzentration wieder, und automatisch begannen seine Augen zu lesen. Als Rogers Agent eine Minute später in den Laden trat, durchlebte er gerade die spannenden Abenteuer eines Reporters am Nordpol.

Dieser Agent gehörte einer Gruppe von Zweien an. Sein Kollege war ihrem Opfer auf der Spur geblieben, während er in den Laden kam, um seine Nachforschungen zu treiben.

Es war ziemlich dunkel in dem Geschäft, und da er niemand sah, rief er: »Ist hier jemand?«

Der Drogist erschien hinter seiner Kasse. »Ja, mein Herr.«

Der Sicherheitsbeamte suchte in seiner Tasche und sagte: »Geben Sie mir ein Paket Chesterfield.«

Der Drogist nickte und holte ein Paket aus dem Ständer neben der Kasse. Dann nahm er den halben Dollar, den der Beamte auf die Theke gelegt hatte.

»Sagen Sie«, der Geheimpolizist legte seine Stirn in Falten, »habe ich richtig gesehen, daß eben ein Mann mit Blechmaske hier herauskam?«

Der Drogist nickte mit dem Kopf. »Das stimmt. Aber es sah nicht so aus, als wäre es eine Maske.«

»Hab’ ich mir doch gleich gedacht. Obwohl es schwer ist, es zu glauben, wenn man es sieht.«

Der Sicherheitsbeamte schüttelte den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie in dieser Gegend alle möglichen Typen sehen. Glauben Sie, daß er verkleidet war, um irgend etwas zu propagieren? Zum Beispiel ein Theaterstück?«

»Da fragen Sie mich zu viel. Ich habe ihn kein Plakat tragen sehen.«

»Was wollte er denn hier — Metallpolitur kaufen?« Der Beamte grinste.

»Nee, er hat nur nach dem Telefonbuch gefragt. Telefoniert hat er nicht.« Der Drogist kratzte sich den Kopf. »Ich nehme an, daß er eine Adresse gesucht hat.«

»Wen der wohl besuchen will! Übrigens, kann ich auch mal das Telefon benutzen?«

»Ja, natürlich. Gleich da drüben ist die Telefonzelle.«

»Vielen Dank.« Der Mann schob sich durch die Tür in die Zelle, besah sich genau den kleinen Raum und untersuchte den Schreibblock nach eingeprägten Schriftzügen. Er konnte welche erkennen, aber sie ergaben keinen Sinn. Als er die sechs dicken Telefonbücher sah, verwarf er sofort den Gedanken, eine Verbindung zwischen dem undeutlichen Schrifteindruck und einem möglichen Namen zu suchen. Er schloß die Tür hinter sich, steckte eine Münze in den Apparat und rief Rogers an.

* * *

Die Uhr auf Rogers Schreibtisch zeigte fünf Minuten nach Neun. Rogers und Finchley warteten auf den nächsten Bericht.

Rogers fühlte eine lähmende Müdigkeit in sich aufsteigen. Er war jetzt über zweiundzwanzig Stunden auf den Beinen, und die Tatsache, daß Finchley und dieser Martino-Mann ebensolange aufgewesen waren, tröstete ihn nur wenig.

»Ich bin nicht sehr glücklich darüber, Finch, daß Sie solange aufsitzen«, sagte er.

Finchley sah ihn abwesend an. »Es ist unser Beruf, nicht wahr?« Er nahm das letzte Stück Kuchen, das vom Abendessen übriggeblieben war, steckte es in den Mund und spülte es mit einem Schluck kalten Kaffee hinunter. »Trotzdem hoffe ich, daß er uns nicht jede Nacht so lange aufhält.«

Rogers spielte mit dem Löschblatt; er hatte schon eine ganze Armee kleiner Männchen darauf gemalt. »Der nächste Bericht muß gleich eintreffen. Vielleicht hat er irgend etwas unternommen.«

»Ja. Vielleicht hat er sich im Park schlafen gelegt.«

»Dann wird er von der Polizei aufgefischt.«

»Und was geschieht dann? Was geschieht, wenn er sich eines Vergehens schuldig macht?«

»Dann wird die ganze Sache noch komplizierter.« Verzweiflung stand in Rogers Gesicht. »Das Polizeipräsidium ist informiert. Man hat uns Unterstützung zugesagt. Aber man hat davon abgesehen, alle Polizisten zu unterrichten, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Theoretisch heißt es, sollen die Polizisten ihr Revier anrufen, wenn sie einen Mann mit Metallkopf sehen. Dann wird ihnen gesagt, daß sie ihn in Ruhe lassen sollen. Wie es allerdings aussieht, wenn man ihn festnimmt, bevor man einen solchen Anruf macht, weiß ich nicht. In einem solchen Fall müßten wir alles tun, um ihn wieder auf freien Fuß zu setzen.« Rogers seufzte. »Die ganze Sache ist verrückt. In dieser Welt ist eben niemand darauf eingerichtet, einem gesichtslosen Mann zu begegnen.«

Rogers mußte an das Wort von Emerson denken: »Begehe ein Verbrechen, und du wirst sehen, daß die ganze Welt aus Glas besteht.«

Das Telefon schellte. Rogers griff nach dem Hörer.

»Gut«, sagte er, nachdem er eine Welle zugehört hatte. »Gehen Sie zu ihrem Kollegen zurück. Ich werde jemand schicken, der den Zettel abholt. Rufen Sie wieder an, wenn er irgendwo hingeht.« Er legte den Hörer auf. »Ich glaube, er hat etwas vor, Finchley. Er hat in einem Telefonbuch eine Adresse gesucht.«

»Können Sie sich denken, wessen Adresse?«

»Ich bin nicht sicher …« Rogers schlug die Martino-Akte auf.

»Das Mädchen«, sagte Finchley kurz, »das er vor Jahren gekannt hat.«

»Kann sein. Vorausgesetzt, daß er glaubt, daß sie ihm noch irgendeine Hilfe sein kann. Aber warum mußte er ihre Adresse suchen? Sie wohnt immer noch an der gleichen Stelle wie damals.«

»Das war vor fünfzehn Jahren, Shawn. Vielleicht hat er sie vergessen.«

»Oder hat sie niemals gewußt.« Außerdem war es nicht sicher, ob er sich jetzt an diese Adresse wenden würde. Vielleicht hatte er sie notiert, um sie später einmal zu verwenden. Vielleicht handelte es sich um eine ganz andere Adresse. Es war ganz klar, die Telefonbücher mußten untersucht werden. Möglicherweise gab es da irgendeinen Hinweis: einen fettigen Fingerabdruck, ein Bleistiftzeichen oder irgendeine andere Spur.

Aber sechs New Yorker Telefonbücher? Jedes mit mindestens dreitausend Seiten?

»Finch, Ihre Leute müssen mir einen Satz Telefonbücher besorgen, gebrauchte, wohlverstanden. Wir werden sie gegen einen anderen Satz austauschen, den ihr in euren Laboratorien untersuchen sollt. Ich muß die Bücher sofort haben.«

Finchley nickte und griff nach dem Telefon.

* * *

Ein junger Mann in abgetragenem Reiseanzug betrat den Drugstore an der Ecke Sechste Avenue West Siebente Straße. In seiner Hand hielt er einen alten Koffer aus Pappe.

»Kann ich mal telefonieren?« sagte er zu dem Drogisten.

Der Drogist zeigte ihm die Telefonzelle. Der junge Mann ging auf die schmale Tür zu und preßte sich und seinen Koffer mit Mühe in den kleinen Raum. Einige Augenblicke lang machte er einen dumpfen Lärm, stieß seinen Koffer hin und her und verärgerte auf diese Weise den Drogisten. Endlich wurde es ruhig, und man sah, daß der Mann telefonierte.

Als der Reisende das Geschäft verließ, befanden sich in seinem Koffer die ausgetauschten Telefonbücher, um im Laboratorium der Sicherheitspolizei untersucht zu werden, wo man bereits vergeblich versucht hatte, den eingeprägten Schriftzug auf dem Notizblock zu entziffern.

Das Buch für Manhattan wurde zuerst untersucht, da man annahm, daß er hierin am ehesten nachgesehen hatte. Die Techniker nahmen jede Seite unter die Lupe. Man hatte eine Liste, die nach den Adressen der Telefonteilnehmer aufgestellt war, und man begann damit, um den Drugstore ein abgegrenztes Viereck zu legen. Ein elektronisches Gehirn arrangierte die nächsten Adressen in alphabetischer Reihenfolge. Auf diese Art und Weise wurde eine große Anzahl Adressen übergangen, die nach der neuen, spezifischeren Aufstellung unwahrscheinlich waren.

Rogers hatte den Technikern nichts von Edith Chester gesagt. Bis sie etwas gefunden hatten, würde Martino schon längst bei ihr angekommen sein, wenn er überhaupt zu ihr ging. Und darüber hinaus war es noch nicht erwiesen, daß er nur eine Adresse aufgesucht hatte. Es blieb also nichts übrig, als alle sechs Bücher zu untersuchen.

* * *

Edith Chester Hayes lebte im zweiten Stock eines Hinterhauses in der Sullivan Straße. Der Ruß von achtzig Jahren lag auf jedem Stein, und giftige Industriedämpfe hatten die letzten Reste von Farbe vor langer Zeit abgebeizt. Der Durchgang zur Straße war schmal und schlecht beleuchtet. Vor dem Eingang standen einige zerbeulte Mülltonnen.

Rogers saß in einem Wagen des amerikanischen Sicherheitsdienstes und sah auf den Eingang des Hauses. »Man sollte nicht glauben, daß es in New York immer noch solche- Häuser gibt.«

»Man reißt sie ab«, sagte Finchley, »aber andere Häuser werden schneller alt, als man diese hier niederreißen kann.« Er hörte kaum, was er sagte; er war so vertieft in seine Gedanken, daß. er nicht bemerkte, wie einer der Beobachtungsagenten die Straße heraufkam und auf den Wagen zuschritt.

»Er ist im Treppenhaus im zweiten Stock, Herr Rogers«, sagte der Agent. »Seit fünfzehn Minuten steht er da oben. Er hat weder irgendwo angeklopft noch geschellt. Er steht nur da, gegen die Wand gelehnt.«

»Er hat also nirgendwo geschellt? Wie ist er denn in das Haus hineingekommen?«

»Die Leute schließen die Haustür nie ab. Jeder kann zu jeder Zeit in das Haus.«

»Wie lange, glauben Sie, kann er dort oben stehen, ohne gesehen zu werden? Wann schätzen Sie, wird jemand vorbeikommen und einen Heidenlärm vom Zaune brechen? Und vor allem, was hat er davon, wenn er nur da herumsteht?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, Herr Rogers. Ist nicht alles, was er macht, vollkommen verrückt?«

Rogers beugte sich zu dem Techniker auf dem Vordersitz. Er trug Kopfhörer und lehnte über einem kleinen Empfangsgerät.

»Was macht er?«

Der Techniker gab ein Ohr frei und sah auf Rogers. »Soweit noch nichts. Ich höre seinen Atem und von Zeit zu Zeit, wie er mit den Füßen schabt.«

»Werden Sie ihn verfolgen können, wenn er hineingeht?«

»Solange er in einem kleinen Raum bleibt oder dicht an einer Wand steht, ja. Diese Induktionsmikrophone sind unerhört empfindlich. Ich habe es jetzt an einer Stufe im ersten Stock. Ich kann es ihm folgen lassen, wenn er hineingeht.«

»Und wenn er es sieht?«

»Er wird es nicht sehen, höchstens dann, wenn es sich bewegt. Wir wissen jedoch immer, wann er auf das Mikrophon sieht, denn dann steigt die Lautstärke momentan um ein Vielfaches. In einem solchen Augenblick halten wir es sofort an. Es sieht übrigens aus wie eine Streichholzschachtel und hat kleine Plastikrollen, auf denen es sich bewegt. Es ist vollständig geräuschlos, und die Drähte, die es hinter sich herzieht, haben nur die Stärke eines feinen Haares. Sie können beruhigt sein, wir haben bis jetzt noch nie Schwierigkeiten mit diesem Ding gehabt.«

»Ausgezeichnet. Geben Sie Bescheid, wenn —«

»Er bewegt sich!« Der Techniker bediente einen Hebel, und Rogers hörte die schweren Schritte des Mannes über den Fußboden gehen. Dann war eine Sekunde lang Ruhe, bis man das zaghafte Klopfen seiner Knöchel an der Wohnungstür vernahm.

»Ich werde versuchen, etwas näher heranzukommen«, sagte der Techniker. Er bediente die Fernsteuerung und bald hörte man das schwere Atmen des Mannes.

»Warum ist er wohl so aufgeregt?« sagte Rogers leise vor sich hin.

Sie hörten, wie er wieder klopfte. Seine Füße kratzten nervös auf dem Boden.

Irgend jemand kam von innen auf die Tür zu. Sie wurde geöffnet und durch den Lautsprecher kam das Geräusch eines überraschten Atemzuges. Niemand hätte sagen können, ob er von dem Mann stammte oder demjenigen, der die Tür geöffnet hatte.

»Ja?« Es war die Stimme einer Frau.

»Edith?« Der Mann sprach leise und voller Scham.

Finchley fuhr aus seinen Gedanken auf. »Ich hab’s. Das war’s. Er hat den ganzen Tag daran gearbeitet, sich und seine Nerven auf diesen Augenblick vorzubereiten.«

»Quatsch! Ruhe!« schrie Rogers.

»Meine Name ist Edith Hayes«, sagte die Frau vorsichtig.

»Edith — ich bin Luke. Lucas Martino.«

»Luke!«

»Ich hatte einen Unfall, Edith. Ich bin erst seit ein paar Wochen aus dem Krankenhaus. Man hat mich pensioniert.«

Rogers brummte: »Hat sich ’ne schöne Geschichte zurechtgelegt.« .

»Er hat den ganzen Tag darauf verwandt, die richtige Formulierung zu finden«, sagte Finchley. »Glaubten Sie, daß er ihr die Geschichte von zwanzig Jahren erzählen würde, während er in der Wohnungstür steht?«

»Vielleicht.«

»Verflucht, Shawn, wenn dies hier nicht Martino ist, wie sollte er über sie Bescheid gewußt haben?«

»Es gibt eine Menge Wege, solche Einzelheiten aus einem Mann herauszuholen.«

»Unwahrscheinlich.«

»Nichts ist unwahrscheinlich. Wir dürfen nicht vergessen, daß Azarin ein gründlicher Mann ist.«

»Edith —«, seine Stimme zögerte, »kann — kann ich einen Augenblick hereinkommen?«

Die Frau sagte nach einer Weile: »Bitte schön, natürlich.«

»Danke.«

Der Techniker bewegte sein Mikrophon gegen die Wand und preßte es ganz dicht an sie heran.

»Bitte nimm Platz, Luke.«

»Danke.« Sie schienen sich wortlos gegenüberzusitzen. »Du hast eine schöne Wohnung hier, Edith. Es ist sehr gemütlich.«

»Sam — mein Mann — arbeitete gerne mit seinen Händen«, sagte die Frau umständlich. »Er hat das alles selbst gemacht. Es hat viel Zeit gekostet. Jetzt ist er tot. Er ist beim Arbeiten von einem Gerüst gefallen.«

Wieder entstand eine Pause. Dann sagte der Mann: »Es tut mir leid, daß ich euch niemals aufgesucht habe, nachdem ich die Universität verließ.«

»Ich glaube, du und Sam hättet euch gut verstanden. Er war dir nicht unähnlich; er war sehr ordnungsliebend.«

»Ich glaube nicht, daß du bei mir viel davon gesehen hast.«

»Und wenn schon, ich hab’s gespürt.«

Der Mann hustete nervös. »Du siehst gut aus, Edith. Ich hoffe, daß es dir seit dem Tode deines Mannes nicht schlecht ergangen ist.«

»Nein. Ich habe gearbeitet und tue es auch heute noch. Susan geht nachmittags immer zu Bekannten, bis ich sie nach Dienstschluß dort abhole.«

»Ich wußte nicht, daß du Kinder hast.«

»Susan ist jetzt elf Jahre alt. Sie ist ein feines Mädchen. Ich bin sehr stolz auf sie.«

»Ist sie schon zu Bett?«

»O ja! Schon lange.«

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so spät kam. Ich werde mich bemühen, leise zu sprechen.«

»Das sollte keine Aufforderung sein zu gehen.«

»Ich … ich weiß. Aber es ist schon spät. Ich werde gleich gehen.«

»Du brauchst dich nicht gedrängt fühlen, ich gehe nie vor Mitternacht zu Bett.«

»Aber du hast doch sicher noch allerhand zu erledigen: Bügeln, Susans Butterbrote packen und was weiß ich noch?«

»Das nimmt keine zwei Minuten in Anspruch. Luke —« Die Frau schien jetzt ruhiger und gefaßter. »Es war immer so unruhig, wenn wir zusammen waren. Wir sollten diese dumme Angewohnheit nicht beibehalten.«

»Verzeih’, Edith, du hast recht. Aber, weißt du, ich konnte mich noch nicht einmal dazu bringen, dich anzurufen, um dir zu sagen, daß ich dich aufsuchen werde. Ich hab’s versucht, aber immer wieder glaubte ich, du würdest mich nicht sehen wollen. Ich habe den ganzen Tag gebraucht, um mich soweit zu kriegen.« Der Mann war offensichtlich immer noch verlegen. Er hatte, den Geräuschen nach zu urteilen, seinen Mantel noch nicht abgelegt.

»Was hast du, Luke?«

»Du mußt verstehen, es ist sehr kompliziert. Als ich in ihrem — in dem — Krankenhaus war, habe ich sehr oft über uns nachgedacht. Nicht über uns als Liebespaar — sondern als Freunde, als Menschen. Wir haben uns nie so recht kennengelernt, nicht wahr? Zumindest habe ich dich nie gekannt. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, mit den Dingen, die mich interessierten, die ich realisieren wollte. Dir habe ich nie echtes Interesse geschenkt. Du warst für mich ein Problem, nicht ein Mensch. Und heute abend bin ich gekommen, um mich für alles dies bei dir zu entschuldigen.«

»Luke —« In der Stimme der Frau lag leichte Erregung. Man hörte, wie sie sich in ihrem Stuhl bewegte. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

»Ich weiß, daß diese Situation für dich sehr peinlich ist. Ich hätte sie geschickter handhaben sollen, feinfühliger. Aber ich habe nicht die Zeit dazu, und ich glaube, daß es fast aussichtslos ist, geschickt und feinfühlig zu sein, wenn man so aussieht wie ich.«

»Das ist überhaupt nicht wichtig«, sagte sie schnell, »Es macht mir gar nichts aus, wie du aussiehst, wenn ich nur weiß, daß du es bist. Nun, Luke, wie ist es mit einer Tasse Kaffee?«

Der Mann sprach fast stoßweise: »Danke, Edith, danke. Irgendwie können wir es nicht lassen, zueinander wie Fremde zu sein. Findest du nicht?«

»Wie kommst du darauf? Ich finde … aber vielleicht hast du doch recht. Ich werde das Wasser aufsetzen.« Man hörte sie mit schnellen Schritten in die Küche laufen.

Der Mann war jetzt allein. Er atmete tief und geräuschvoll.

»Was sagen Sie jetzt?« fragte Finchley zu Rogers gewandt. »Hört sich das an, als brüte der Geheimagent X-8 einen teuflischen Plan aus, um Genf in die Luft zu blasen?«

»Es hört sich an, als spräche ein Pennäler«, sagte Rogers.

»Sein ganzes Leben hat er hinter einer hohen Mauer verbracht. Es ist immer dasselbe. Diese Kerle wissen genug, um die ganze Erde in Stücke zu schlagen, und dabei hat es ihnen nicht erlaubt, reifer zu werden als ein sechzehnjähriger Bursche.«

»Finchley, wir sind nicht hier, um neue Regeln für den Umgang mit Wissenschaftlern aufzustellen, wir sind hier, um herauszubekommen, ob dieser Mann Lucas Martino ist oder nicht.«

»Und wir haben’s rausbekommen.«

»Wir haben nichts anderes rausbekommen, als daß ein raffinierter Kerl spielend leicht kleinste Informationen über gewisse Leute zu einem eindrucksvollen Gesprächsthema machen kann. Und daß er eine Frau an der Nase herumführt, die sein Original zwanzig Jahre lang nicht gesehen hat.«

»Sie reden, als wären Sie dabei, ihr letztes Argument zu verlieren.«

»Wie ich rede, sollte Sie überhaupt nicht interessieren!«

»Danke. Und warum glauben Sie, geht er durch dieses Fegefeuer?«

»Um irgendwo unterkriechen zu können. Um jemanden zu haben, der Botengänge für ihn erledigt, während er im Hintergrund bleibt. Mit einem Wort: um eine Operationsbasis zu haben.«

»Rogers, geben Sie denn niemals auf?«

»Vergessen Sie nicht, Finch, daß ich es mit einem Mann zu tun habe, der schlauer ist als ich.«

»Und der sehr wahrscheinlich auch mehr Gefühl hat als Sie.«

»So! Glauben Sie?«

»Natürlich nicht, Shawn. Es tut mir leid.«

Die Schritte der Frau kamen aus der Küche zurück. Sie schien die kurze Zeit dazu benutzt zu haben, um sich zu sammeln. Ihre Stimme klang überzeugter und fester als zuvor.

»Lucas, ist das heute dein erster Tag in New York?«

»Ja.«

»Und zuerst dachtest du daran, hierher zu kommen. Warum?«

»Ich weiß nicht so recht«, sagte der Mann. Es klang, als wolle er es nicht sagen. »Wie ich dir schon gesagt habe, ich habe eine Menge über uns nachgedacht. Aber ich beginne zu erkennen, daß ich nicht hätte kommen sollen.«

»Warum nicht? Ich bin sehr wahrscheinlich der einzige Mensch in New York, den du kennst; und nachdem du so lange allein gewesen bist, brauchst du jemanden, mit dem du sprechen kannst. Warum also hättest du nicht herkommen sollen?«

»Schon, aber ich weiß nicht.« Der Mann schien hilflos. »Man wird dich jetzt, nachdem ich hier war, überprüfen, deine Vergangenheit ausgraben, um endlich herauszubringen, wohin ich gehöre. Ich hoffe, daß du mir vergibst — ich würde es niemals getan haben, wenn ich gewußt hätte, daß man dir damit weh tun könnte. Aber ich glaube, ich hätte dich selbst dann besucht. Irgendwie war das andere noch wichtiger.«

»Was, Lucas?«

»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.«

»Hattest du Angst, ich würde dich hassen? Warum? Wegen deines Aussehens?«

»Nein! Für so kleinlich habe ich dich nie gehalten. Bis jetzt hast du mich noch nicht einmal angestarrt oder peinliche Fragen gestellt. Nein, ich habe gewußt, daß du das niemals tun würdest.«

»Nun —« Die Stimme der Frau war jetzt ganz ruhig und milde. »Glaubtest du, ich würde dich hassen, weil du mir das Herz brachst, als du damals fortgingst?«

Der Mann antwortete nicht.

»Ich liebte dich sehr«, sagte die Frau. »Und es hat sehr weh getan, daß du es nie gemerkt hast.«

Unten im Wagen verzog Rogers sein Gesicht zu einer Grimasse. Der Techniker sah kurz auf und sagte: »Lassen Sie sich nicht von diesem Gerede umwerfen, Herr Rogers. Wir hören es immer wieder. Im Anfang war ich auch ein wenig betreten, aber bald schon wurde mir klar, daß man sich nicht zu schämen braucht, wenn man so etwas überhört. Überall auf der Welt sagen Menschen sich solche Dinge, und sie schämen sich nicht, wenn sie sich dabei gegenübersitzen.«

»Das ist genug«, sagte Finchley. »Ich denke, wir hören weiter zu.«

»Können wir«, gab der Techniker zurück, »aber wir brauchen es nicht. Wird alles auf Band aufgenommen.«

»Edith, es tut mir leid.«

»Du hast dich bereits einmal heute abend entschuldigt, Lucas.« Der Stuhl der Frau kratzte über den Boden. »Ich möchte nicht, daß du vor mir auf dem Boden liegst. Ich hasse dich nicht — ich habe es niemals getan. Ich habe dich geliebt. Als ich Sam begegnete, wußte ich, daß ich jemanden zum Leben gefunden hatte.«

»Ich bin froh, Edith, daß du es so gesehen hast.«

»Glaub’ mir, ich habe nicht immer so gedacht. Aber man kann in zwanzig Jahren über eine Menge nachdenken.«

»Ja, das stimmt.«

»Es ist irgendwie eigenartig. Wenn man so die Vergangenheit überdenkt, sieht man plötzlich Dinge, die dir zu der Zeit, als du sie durchlebt hast, nicht bewußt geworden sind. Man erkennt, daß alles anders gekommen wäre, hätte man nur ein einziges Wort anders gesagt.«

»Das ist wahr.«

»Natürlich muß man sich immer wieder daran erinnern, daß man vielleicht das sieht, was man gern sehen möchte. Es ist schwer zu entscheiden, ob man träumt oder nicht.«

»Ja. Ich glaube auch.«

»Das ist typisch für die Erinnerung. Sie perfektioniert. In ihr werden die Menschen, die du am liebsten hattest, idealer und perfekter, als es menschlich ist. Sie werden niemals alt, sie verändern sich kaum. In der Erinnerung schieben sich keine zwanzig Jahre zwischen das Du und Ich. In der Erinnerung hast du die besten Freunde, in den Gedanken der Vergangenheit die größte Liebe.«

»Ja.«

»Ich glaube, das Wasser kocht. Ich werde den Kaffee fertig machen.«

»Ja.«

»Du hast immer noch deinen Mantel an, Lucas.«

»Ich werde ihn ausziehen.«

»Bin gleich wieder zurück.«

Rogers sah Finchley an. »Was glauben Sie, wird sie jetzt machen?«

Finchley schüttelte den Kopf.

Die Frau kam aus der Küche zurück; man hörte das Klappern von Tassen.

»Mir fiel gerade ein, daß du nie Milch und Zucker in deinem Kaffe trankst.«

Der Mann zögerte einen Moment. »Das ist lieb von dir, Edith. Aber — ich mag schwarzen Kaffee überhaupt nicht mehr. Entschuldige.«

»Warum? Weil du deine Gewohnheiten geändert hast? Gib deine Tasse her, ich werde dir deinen Kaffee in der Küche fertigmachen.«

»Nur ganz wenig Milch, bitte. Und zwei Löffel Zucker.«

Finchley sagte: »Was wissen wir über Martinos Gewohnheiten in bezug aufs Kaffeetrinken?«

»Das liegt alles fest. Wir können es sofort feststellen lassen«, antwortete Rogers.

»Um ganz sicher zu gehen, lassen wir es gleich durchgeben.« Finchley hatte sich wieder nach vorn gebeugt.

Die Frau kam mit dem Kaffee zurück. »Hoffentlich ist er so richtig, Lucas.«

»Ganz ausgezeichnet, Edith, danke. Ich hoffe, daß es dir nichts ausmacht, mich trinken zu sehen.«

»Warum, Lucas? Ich weiß noch zu genau, wie du es damals getan hast.«

Eine Weile lang hörte man nichts. Dann fragte die Frau: »Fühlst du dich jetzt besser, Lucas?«

»Besser?«

»Ja. Bis jetzt warst du genau so angespannt wie an jenem ersten Tag, als du mich ansprachst, weißt du, damals im Zoo.«

»Ich kann nichts dagegen machen.«

»Ich weiß, Lucas. Du kamst hierher, um etwas zu finden, aber du kannst es nicht in Worte fassen. So warst du immer.«

»Ich weiß darum, Edith!«

»Glaubst du, es wird besser, wenn du darüber lachst?«

Nach einer Pause: »Ich weiß nicht.«

»Lucas, wenn du dort wieder beginnen möchtest, wo wir damals aufgehört haben, ich habe nichts dagegen.«

»Edith?«

»Wenn du mir den Hof machen willst.«

Einen Augenblick lang war der Mann totenstill. Er atmete kaum. Dann stand er auf und sagte erregt: »Edith — sieh mich an! Denk doch nur an die Menschen, die dir und mir folgen werden, bis ich sterbe; und ich werde sterben. Nicht morgen, auch nicht übermorgen, aber sehr wahrscheinlich vor dir, und dann bist du wieder allein. Ich kann nicht arbeiten, ich kann dich nirgendwo hinführen, ich kann überhaupt nichts. Nein, Edith, das geht nicht. Außerdem bin ich nicht deshalb zu dir gekommen.«

»War es nicht das, woran du gedacht hast, als du im Krankenhaus lagst? Auf das du gehofft gegen alle mißgünstigen Tatsachen?«

»Edith —«

»Damals konnte aus uns nichts werden. Ich liebte Sam und war gerne seine Frau. Aber heute ist es etwas anderes. Du darfst nicht vergessen, daß auch ich gedacht habe, zwanzig Jahre lang.«

Im Wagen saß Finchley gespannt über dem Lautsprecher. Plötzlich schrie er wild auf: »Mensch, Kerl, nimm die Chance! Ruiniere dich nicht wieder selbst!« Als er bemerkte, daß Rogers ihn mit großen Augen ansah, verstummte er.

In der Wohnung ging der Mann nervös im Zimmer auf und ab. »Nein, Edith, nein, ich kann nicht!« Seine Stimme war laut und heiser.

»Du kannst, wenn du willst«, sagte die Frau gütig.

Ein letztes Mal seufzte der Mann. Rogers konnte ihn sehen, wie er seine Schultern langsam fallen ließ und die geballten Hände entspannte. Wer er auch war, Martino oder nicht, Verräter oder Spion, dieser Mann hatte einen Hafen gefunden.

In der Wohnung öffnete sich eine Tür. Die schläfrige Stimme eines Kindes war zu hören: »Ich bin aufgewacht, Mutti. Ich hörte einen Mann sprechen. Oh — Mutti — was ist das!«

Der Frau verschlug es den Atem. »Das ist Luke, Susan. Er ist ein alter Freund von mir und eben erst in New York angekommen. Ich wollte dir morgen von ihm erzählen.« Sie ging durch den Raum auf das Kind zu. Sie sprach leiser, als ob sie sich zu ihm heruntergebeugt habe. »Lucas ist ein netter Mann, Liebling. Er ist verunglückt — sehr schwer sogar — und die Ärzte haben ihm das antun müssen. Aber es ist nicht so schlimm, mein Kleines.«

»Mutti, wie der mich ansieht.«

»Hab’ keine Angst, Susan — ich will dir nichts tun. Bestimmt nicht.« Der Fußboden knarrte unter seinem Gewicht, als er sich auf das Kind zu bewegte. »Schau mich an, eigentlich bin ich doch ein sehr lustig aussehender Mann, nicht wahr? Sieh’ mal, wie ich mit meinen Augen blinken kann. Ist das nicht komisch?« Man konnte hören, daß er laut atmete. Es klang wie das Schnaufen eines vorsintflutlichen Tieres. »Nun, Susan, du hast doch keine Angst vor mir, nicht wahr?«

»Doch, doch! Mach, daß du weggehst! Mutti, Mutti, laß ihn nicht an mich heran!«

»Aber er ist wirklich ein lieber Mensch, Susan, er möchte dein Freund sein.«

»Guck’ mal, ich kann noch andere Späße. Siehst du, wie ich, meine Hand drehe? Komisch, nicht? Paß’ mal auf, jetzt schließ ich meine Augen!« Der Mann sprach hastig und zitternd…

»Nein, ich mag dich nicht! Wenn du ein lieber Mensch bist, warum lachst du nicht?«

Der Mann ging ein paar Schritte zurück.

Die Frau suchte nach Worten und sagte schwerfällig: »Er — er lacht in seinem Herzen, Kleines.« Aber der Mann fiel ihr ins Wort: »Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe, Edith. Ich würde sie nur noch mehr aufregen, wenn ich bliebe.«

»Lucas, bitte —«

»Ich werde ein andermal wiederkommen. Ich gebe dir Bescheid.« Man hörte ihn die Türklinke ergreifen.

»Luke — hier ist dein Mantel — Du, ich werde mit ihr sprechen. Ich werde es ihr erklären. Du mußt verstehen, sie ist gerade aufgewacht, und vielleicht hatte sie einen Alptraum.«

»Ja«, sagte der Mann und schritt aus der Tür, so daß der Techniker kaum das Mikrophon zurückholen konnte.

»Du kommst doch bestimmt wieder, Lucas?«

»Natürlich, Edith.« Er zögerte einen Moment »Ich werde mich mit dir in Verbindung setzen.«

»Luke —«

Der Mann stand schon auf der Treppe. Mit hastigen Schritten kam er heruntergelaufen. Er hatte das Mikrophon nicht gesehen. Rogers gab den beiden Beobachtungsagenten ein Zeichen, worauf sie sich von dem Gebäude entfernten. Als der Mann auf die Straße trat, zog er seinen Hut ins Gesicht und lief, so schnell er konnte, auf die nächste Ecke zu, bog in die Seitenstraße ein und war verschwunden. Hinter ihm liefen die beiden Agenten.

Das Mikrophon auf der Treppe war immer noch auf Empfang gestellt.

»Mutti — Mutti, sag’, wer ist Lucas?« Die Frau sprach ganz leise zu dem Kind: »Es ist egal, wer er ist, Susan, jetzt ist es egal.«

* * *

»Los, Jungs«, sagte Rogers. »Wir müssen uns beeilen, wenn er uns nicht entwischen soll.« Über sein Nachrichtengerät gab er Anweisungen an eine andere Beobachtungsgruppe, die er der ersten zur Hilfe schicken wollte, damit sie den schnell davoneilenden Mann nicht aus den Augen verloren. Finchley saß in eine Ecke gekauert, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gesicht sah eingefallen aus.

Der Wagen passierte den ersten Agenten. Er sah besorgt aus und versuchte schnell genug zu laufen, um dem fliehenden Mann auf den Versen zu bleiben. Auf der anderen Seite mußte er acht geben, nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Man sah, daß er sich auf die Lippen biß und Mühe hatte, den Schritt des Mannes zu halten.

Die Scheinwerfer des Wagens streiften die klobige Gestalt des Mannes. Seine Schritte waren schnell und geräumig. Er hatte die Hände in den Taschen und den runden Kopf tief nach vorn gebeugt.

»Wo er wohl hingeht?« sagte Rogers.

»Ich glaube nicht, daß er es weiß.« Finchley hatte Rogers überflüssige Frage kalt beantwortet.

Der Mann schritt in der Dunkelheit auf die Mac-Dougal-Straße zu. Als er die Lichter eines Kaffeehauses sah, machte er kehrt und bog in eine kleine Gasse ein.

Eine Frau war aus dem dunklen Eingang eines Hauses getreten. Er ging an ihr vorbei, blieb dann stehen und fragte sie etwas. Sein Mund war offen, und die grellen Lichter des Wagens spiegelten sich auf seiner zu einer Maske erstarrten Fratze.

Die Frau schrie auf, ihre Hände vor die Augen legend. Der Klang ihres Schreis hallte von den hohen Wänden der dunklen Häuser wider.

In diesem Augenblick begann der Mann davonzulaufen. Man konnte seine schweren Schritte bis in den Wagen hören. Sie klangen, als klopfe jemand auf eine hohle Kiste.

»Ihm nach!« schrie Rogers. Er war selbst überrascht über die Art seines Ausrufs.

Der Mann war ihnen ein gutes Stück voraus. Auf seinem Rücken glitzerte das reflektierte Scheinwerferlicht. Er lief schwerfällig, kam aber trotzdem mit unglaublicher Geschwindigkeit voran.

»Mein Gott!« sagte Finchley, »seht euch das an!«

»Ein menschliches Wesen kann so schnell nicht laufen«, sagte Rogers, »aber der da hat ja keine Lungen. Ihm bleibt die Luft nicht weg. Er rennt, so schnell es sein Herz aushalten kann.«

»Oder noch schneller.«

Der Mann rannte gegen eine Mauer und bremste mit einem Ruck. Er drehte sich um und lief zurück nach Süden zu.

»Los!« bellte Rogers den Fahrer an. »Jag’ den Hasen, bis er umfällt!«

Mit lautem Bremsen jagte der Wagen um eine Ecke. Immer noch war der Mann weit voraus. Er sah sich nicht ein einziges Mal um. Die Straße war dunkel, und nur in der Ferne sah man die regelmäßig wechselnden Farben einiger Verkehrsampeln. Es schien, als fege ein heftiger Wind den Mann durch diese menschenleere Gasse.

»Aufhören«, schrie Finchley. »Er wird sich noch umbringen!«

Der Fahrer gab mehr Gas und steuerte den Wagen über die aufgerissene Straßendecke. Jetzt hatte der Mann eine Ecke erreicht. Er blieb kurz stehen und sah sich um. Als er die Lichter heranbrausen sah, schoß er wieder davon, noch schneller und noch unmenschlicher.

»In diese Straße können wir nicht! Einbahnstraße!« Der Fahrer war nun ebenso aufgeregt wie Rogers und Finchley.

»Quatsch nicht, Idiot, fahr’ zu!« schrie Finchley. Er fiel in seinen Sitz zurück, als der Wagen nach vorn schoß. »Wir müssen ihn kriegen, bevor er sich zu Tode läuft!«

Auf beiden Seiten der Straße standen dicht gedrängt parkende Autos. Der verbleibende Raum war gerade noch breit genug, um einem Wagen die Durchfahrt zu ermöglichen, und wenige Häuserblocks weiter sah man bereits ein Lichterpaar auf sie zukommen.

Im Lauf des Mannes lag jetzt Verzweiflung. Als der Wagen näher an ihn herankam, sah Rogers, daß sein Kopf suchend von rechts nach links zuckte. Es war klar, daß er nach einem neuen Fluchtweg Ausschau hielt.

Als sie auf gleicher Höhe waren, schraubte Finchley sein Fenster herunter und rief dem Mann zu: »Martino! Bleiben Sie stehen! Hören Sie, es ist alles in Ordnung, aber um Gottes Willen bleiben Sie stehen, Martino!«

Der Mann blieb stehen, sah auf die dunklen Umrisse des Wagens und rannte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.

In diesem Augenblick trat der Fahrer auf die Bremse und schaltete gleichzeitig den Rückwärtsgang ein. Die Kupplung brach, während sich die Kardanwelle feststellte. Der Wagen rutschte mit blockierten Rädern über die Straße. Sekunden später standen sie in Flammen. Rogers Körper schoß nach vorn, seine Zähne schlugen aufeinander. Finchley riß die Tür auf und sprang auf die Straße.

»Martino!«

Der Mann war auf der anderen Straßenseite angelangt und lief, so schnell er konnte, auf das Ende zu. Er sah sich nicht um und kümmerte sich nicht um Finchleys verzweifelte Rufe.

Als Rogers auf der anderen Seite des Wagens aus der Tür sprang, sah er den entgegenkommenden Wagen kaum zehn Meter entfernt.

»Finch! Paß auf!«

Inzwischen war der Mann an der Straßenecke angekommen. Finchley war nur noch wenige Meter hinter ihm. Er eilte weiter auf der Straße, um nicht um die parkenden Wagen herumlaufen zu müssen.

»Martino! Bleiben Sie stehen! Sie können es nicht aushalten — Martino — Sie machen sich ja kaputt!«

In diesem Augenblick brauste ein Wagen aus der Seitenstraße heraus, erfaßte Finchley mit dem Kotflügel und warf ihn mit voller Wucht gegen einen der parkenden Wagen.

Eine Sekunde lang stand alles still. Der Wagen mit dem zerbeulten Kotflügel stand wippend am Eingang der Straße. Rogers hielt sich an seinem Wagen fest, er glaubte, in den Erdboden zu versinken. Um ihn schwelte der Geruch von verbranntem Gummi. In der Ferne sah er den Mann laufen und fragte sich, ob er überhaupt irgendetwas gehört hatte seit die Frau jenen unbarmherzigen Schrei ausgestoßen hatte.

»Abblasen«, sagte er gereizt zu dem Fahrer. »Geben Sie an Ihr Hauptquartier durch, in welche Richtung er gelaufen ist, und sehen Sie zu, daß Sie seine Verfolgung wieder aufnehmen.«

Dann lief er über die Straße zu Finchley. Er war tot.

* * *

Das Hotel in der Bleeker Straße hatte einen schmalen Eingang zwischen zwei Ladengeschäften. Das Büro lag im Erdgeschoß, aus dem eine schmale Treppe zu den Zimmern herausführte. Müde und wenig interessiert saß der Portier auf einem Stuhl hinter dem Eingang. Er war ein alter Mann mit Stoppelbart und verschwommenen Augen. Er träumte auf seinem Stuhl und wartete auf den Morgen, daß er nach Hause gehen konnte.

Die Tür wurde geöffnet, jemand trat in die kleine Eingangshalle. Der alte Portier döste weiter, ohne sich darum zu kümmern. Wenn jemand ein Zimmer mieten wollte, mußte er schon zu ihm heraufkommen, und dann würde es noch früh genug sein, die Augen zu öffnen.

Seit zwanzig Jahren hatte er auf diesem Stuhl gesessen; er hatte nur Nachtdienst gemacht und war es inzwischen gewöhnt, alle möglichen Menschen zu sehen. Als er noch jünger war, verfolgte er wie alle anderen außerordentliche Vorkommnisse in der Zeitung, aber jetzt, da es ihm, nachts schwerfiel, die Augen aufzuhalten, kümmerte er sich kaum noch um das Leben in den Straßen. Es war so weit gekommen, daß ihn nichts mehr erschütterte oder überraschte; warum sollten die verrückten Ärzte von heute nicht einem Menschen einen Metallkopf aufsetzen? Sie machten ja auch Beine aus Aluminium. Und die hatte er oft genug hinter sich die Treppe herunterkommen hören.

Der Mann, der jetzt vor seinem Schreibtisch stand, versuchte zu sprechen. Aber während einer geraumen Zeit brachte er nur langgezogene, saugende Laute heraus. Man hätte fast sehen können, wie er die Luft durch seinen Mund einsog. Er stand vor dem Schreibtisch und hielt seine Hand an die linke Brustseite. Endlich sagte er, nachdem er krampfhaft nach Worten gesucht hatte: »Wieviel kostet bei Ihnen ein Zimmer?«

»Fünf Dollar«, sagte der Portier. Er griff nach hinten, um ihm einen Schlüssel zu geben. »Im voraus natürlich.«

Der Mann suchte nach seiner Brieftasche, nahm einen Geldschein heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. Er versuchte den Alten nicht anzusehen, und schaute verzweifelt zu Boden.

»Die Zimmernummer steht auf dem Schlüssel«, brummte der Portier. Dabei stopfte er die Banknote in den Schlitz einer Geldkassette.

Der Mann nickte. »Danke.« Verlegen zeigte er auf sein Gesicht. »Ich hatte einen Unfall. Einen Betriebsunfall. Eine Explosion.«

»Interessiert mich nicht im geringsten«, brummte der Portier. »Aber damit Sie es wissen: keine Trinkerei in Ihrem Zimmer und um acht Uhr raus, sonst kostet es weitere fünf Dollar.«

* * *

Es war neun Uhr morgens. Rogers saß in seinem kalten, unfreundlichen Büro. Das Telefon schellte. Nach einem Augenblick hob er den Hörer ab.

»Rogers.«

»Avery hier, Chef. Unser Mann steckt immer noch in seinem Hotel. Kurz vor acht ist er heruntergekommen, hat die Miete für einen weiteren Tag bezahlt und ist wieder in sein Zimmer gegangen.«

»Danke. Dranbleiben!«

Er ließ den Hörer auf die Gabel fallen und neigte seinen Kopf soweit nach vorn, daß er fast die Tischplatte berührte.

Sekunden später summte der Wecker seines Bürosprechgerätes. Er richtete sich auf und drückte auf den Empfangsknopf. »Ja?«

»Fräulein DeFillipo ist hier, Herr Rogers.«

»Schicken Sie sie herein.«

Er wartete bis das junge Mädchen in der Tür stand, erst dann hob er den Finger von dem Knopf. »Bitte, treten Sie ein. Nehmen Sie Platz — dort steht ein Stuhl für Sie.«

Angela DeFillipo war ein attraktives junges Mädchen mit rotblondem Haar und von schlankem Wuchs. Rogers schätzte sie auf ungefähr achtzehn Jahre. Ihre Bewegungen waren selbstsicher und zeigten nicht die geringste Nervosität. Rogers stellte sich vor, daß sie unter normalen Umständen wohl kaum zu erschüttern war und daß sie frei von jeglichem Schuldgefühl sein mußte, das normalerweise selbst die unschuldigen Leute leicht unsicher machte, wenn sie in dieses Gebäude kamen.

»Mein Name ist Shawn Rogers«, sagte er und versuchte zu lächeln.

Sie gaben sich die Hand, und Rogers war überrascht über ihren festen Griff. »Guten Tag«, sagte sie.

»Ich weiß, daß Sie zur Arbeit müssen, und ich werde mich mit meinen dummen Fragen beeilen, so daß wir Sie so schnell wie möglich wieder entlassen können.« Er stellte das Tonbandgerät an.

»Ich hoffe, daß ich Ihnen helfen kann.«

»Danke. Ihr Name ist Angela DeFillipo, und Ihre Anschrift Mac-Dougal-Straße 33, hier in New York. Stimmt das?«

»Ja.«

»Gestern abend — es war der zwölfte — befanden Sie sich gegen halbelf an der Ecke Mac-Dougal-Straße Bleeker Straße. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir bitte erzählen, wie Sie dorthin kamen und was dort geschah.«

»Ja, das war so: ich verließ gerade unser Haus, das nur wenige Schritte von der Ecke entfernt ist, um in dem Lebensmittelgeschäft in der Houston Straße Milch zu holen. Ich hörte die Fußschritte eines Mannes, der die Straße heraufkam, aber ich beachtete ihn zunächst nicht.«

»Der Mann kam auf die Bleeker Straße zu, auf der linken Seite, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sprechen Sie weiter, Fräulein DeFillipo. Ich werde Sie vielleicht noch einmal unterbrechen, um das eine oder andere ganz klar zu machen; aber was Sie angeht, so machen Sie es sehr gut.«

»Nun, wie ich schon sagte, ich hörte jemand, kümmerte mich aber zunächst nicht um ihn. Als ich ihn dann sah, stellte ich fest, daß er sehr schnell ging. In diesem Augenblick kam er auf meine Seite herüber, und es schien, als wolle er in unsere kleine Gasse einbiegen. Er kam direkt auf mich zu, und ich bemühte mich, ihm aus dem Weg zu gehen. Hinter ihm brannte eine Straßenlaterne, so daß ich ihn erkennen konnte. Er war groß und breit. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Es sah so aus, als sähe er mich überhaupt nicht, denn er rannte, ohne aufzuschauen, in mich hinein. Sie können sich vorstellen, daß es mir in diesem Augenblick ein wenig ungemütlich wurde.

Als er ganz dicht vor mir war, trat ich einen Schritt zur Seite. Er streifte meinen Rock und sah auf. Sein Gesicht war irgendwie komisch.«

»Was meinen Sie mit ›irgendwie komisch‹, Fräulein DeFillipo?«

»Nichts besonderes, nur eben komisch. So jedenfalls schien es mir in diesem Augenblick.«

»Ich verstehe.«

»Einen Augenblick später leuchtete sein Gesicht auf. Ich glaube, durch die Lichter eines Wagens. Es war ungeheuerlich: sein Gesicht war aus Metall, und sein Mund, oder was an dieser Stelle war, klaffte herunter und schien zu staunen. Dann sagte er auf eine ganz eigentümliche Art: ›Barbara — ich bin’s — der Deutsche!‹ «

Überrascht beugte Rogers sich vor. »Barbara — ich bin’s — der Deutsche? Sind Sie sicher, daß er das gesagt hat?« .

»Ja. Es klang sehr überrascht und —«

»Was und, Fräulein DeFillipo?«

»Jetzt gerade im Augenblick wird mir bewußt, warum ich aufschrie.«

»Und?«

»Er sagte es auf Italienisch.« Sie blickte verwundert auf Rogers. »Erst jetzt wird es mir bewußt.«

Rogers blickte auf die weiße Decke seines Büros. »Er sagte es auf Italienisch? Und es war bestimmt ›Barbara — ich bin’s — der Deutsche?‹ Aber das gibt doch keinen Sinn! Können Sie sich etwas darunter vorstellen?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

Rogers sah auf den Bleistift, mit dem er auf seiner Schreibunterlage spielte. »Wie gut sprechen Sie Italienisch, Fräulein DeFillipo?«

»Zu Hause spreche ich es den ganzen Tag.«

Rogers winkte ab. Ihm war etwas anderes eingefallen. »Sagen Sie, soviel ich weiß, spricht man in Italien mehrere Dialekte. Könnten Sie mir sagen, wie der seine klang?«

»Man könnte es amerikanisches Italienisch nennen.«

»So wie man es spricht, wenn man sehr lange in diesem Land gelebt hat?«

»Ja, so ungefähr. Aber ich bin kein Fachmann für Sprachen. Ich spreche sie nur.«

»Hm. Kennen Sie jemand, der Barbara heißt und Ihnen sehr ähnlich sieht?«

»Nein … nein, nicht, daß ich wüßte.«

»Schön, Fräulein DeFillipo. Als er Sie ansprach, schrien Sie auf. Was geschah weiter?«

»Nichts. Er drehte sich um und lief in die Gasse. Ein Wagen folgte ihm, und ein paar Augenblicke später kam einer Ihrer Männer und fragte mich, ob ich in Ordnung sei. Ich sagte ja, und er begleitete mich nach Hause. Den Rest kennen Sie.«

»Ja. Haben Sie recht vielen Dank, Fräulein DeFillipo. Sie haben uns ganz erheblich geholfen, und ich glaube nicht, daß wir Sie noch einmal bemühen werden müssen. Sollte es doch sein, werden wir Sie benachrichtigen.«

»Ich freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann, Herr Rogers. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Fräulein DeFillipo, und nochmals herzlichen Dank.«

Das war ein Mädchen, dachte Rogers. Die würde nicht unruhig werden, wenn ihr Mann einen Posten wie ich hätte.

»Barbara — ich bin’s — der Deutsche.« Wieder ein Umstand mehr, der untersucht werden mußte.

Er versuchte sich vorzustellen, was Martino wohl empfand, nun er sich in seinem Hotelzimmer eingeschlossen hatte, und wann er wohl den einen oder anderen schlüssigen Beweis erbringen würde.

Wieder summte der Apparat auf seinem Schreibtisch.

»Ja?«

»Herr Rogers? Hier spricht Reed. Ich bin noch einmal die Liste mit Martinos Bekannten durchgegangen.«

»Und?«

»Da ist jener Francis Heywood. Er war Martinos Stubenkamerad auf der Universität von Boston.«

»Meinen Sie den, der die große Nummer bei der Regierung der Alliierten Nationen geworden ist? Der das Büro zur Verwendung von technischem Personal unter sich hatte? Der ist tot. Bei einem Flugzeugunglück umgekommen. Warum? Was ist los mit ihm?«

»Der amerikanische Geheimdienst hat gerade einen Bericht über ihn zusammengestellt. Bei der Aufdeckung eines sowjetischen Spionageringes in Washington hat man herausgefunden, daß er, als er noch lebte, zu ihm gehörte.«

»Sind Sie sicher, daß es der gleiche Francis Heywood ist?«

»Todsicher. Wir haben seine Fingerabdrücke und Photos mit den unsrigen verglichen.«

Rogers ließ den Atem pfeifend durch seine Lippen entweichen. »Schön. Bringen Sie die Papiere herauf. Wir wollen sie uns mal ansehen.«

Als Rogers die Akte durchgesehen hatte, wußte er nicht mehr, warum er noch zweifelte. Die ganze Heywood-Affäre war so lückenlos und perfekt, daß selbst der gerissenste Geheimagent seine Bewunderung nicht zurückhalten konnte.

Francis Heywood besuchte zur gleichen Zeit wie Martino die Universität Boston. Beide lebten während ihrer Studienzeit zusammen in einer der kleinen Studentenwohnungen ihres Instituts. Ob er damals schon ein sowjetischer Agent war, war fraglich. Aber es bestand kein Zweifel darüber, daß er einem Geheimring angehörte, als er von der amerikanischen Regierung zu den Alliierten Nationen versetzt wurde. Seine Aufgabe bestand darin, Schlüsselfiguren auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet mit den notwendigen Arbeitsvoraussetzungen zu versehen. Man sah in ihm den hervorragendsten Experten auf diesem Gebiet. Jetzt, nachdem man seine Zugehörigkeit zu dem sowjetischen Spionagering aufgedeckt hatte, schloß man, daß er unter Umständen auch Martino in die Hände der Sowjets gespielt hatte.

Ob er wußte, worum es sich bei dem K-88-Projekt handelte, war nicht klar. So weit es seine Direktiven anging, sollte er nur grobe Kenntnisse von den Dingen haben, die er bearbeitete, aber es war ganz selbstverständlich, daß er eher als irgendein anderer über das eine oder andere Projekt Einzelheiten erfahren konnte.

Das alles war interessant; aber wichtiger war sein Verschwinden.

Einen Monat, nachdem Lucas Martino verschwunden war, flog Heywood mit einer planmäßigen Verkehrsmaschine nach Europa. Sein Flug wurde als Informationsreise deklariert und konnte insofern Vorwand für alles mögliche sein. Mitten über dem Ozean, berichtete der Funker des Flugzeuges, sei ein Motor durch eine Explosion ausgefallen. Minuten später funkte er Notsignale und gab durch, daß sie notwassern würden. Als Rettungsflugzeuge an die Stelle des Absturzes kamen, fanden sie nur noch einige Wrackteile und Leichen. Es wurde festgestellt, daß das Flugzeug beim Aufsetzen zerbrochen war; mit Echolotmessungen konnte man sogar den Hauptteil des versunkenen Rumpfes feststellen. Es war ein ganz gewöhnlicher Motorenausfall. Nichts ließ darauf schließen, daß sowjetische Jagdflugzeuge die Verkehrsmaschine angegriffen hatten. Bis zum letzten Augenblick gab der Funker routinemäßige Meldungen durch.

Es wollte Rogers jedoch nicht aus dem Sinn, daß man einen Mann an einem vorher festgelegten Ort auf das Wasser hat niederkommen lassen, um ihn dann an Bord eines Unterseebootes zu nehmen.

Um das Verschwinden des Mannes vollständig zu verwischen, war es nicht ausgeschlossen, daß man ein ganzes Verkehrsflugzeug zum Absturz brachte. Wer würde schon einen einzigen Passagier vermissen, wenn so viele andere untergegangen waren? Natürlich war es ein wenig riskant. Aber wenn man, die richtige Art von Notfall konstruierte und den Mann vorher darauf vorbereitet hatte, würde es nicht unmöglich sein, selbst wenn mehr Passagiere als vorgesehen mit dem Leben davonkamen. Für deren Ableben würde das Unterseeboot schon Sorge tragen können.

Rogers sah auf die Akte Heywood.

Er war ein Meter achtzig groß gewesen und hatte einhundert Kilo gewogen. Er war etwas untersetzt und von leichter, dunkler Hautfarbe. Er hatte genau das gleiche Alter wie Martino gehabt. Während er in Europa gewesen war, hatte er etwas Italienisch sprechen gelernt, wahrscheinlich mit amerikanischem Akzent.

Nicht festzustellen war, ob Lucas Martino ihm während ihres dreijährigen Zusammenlebens viel über sich und seine privaten Probleme erzählt hatte. Es stand auch nirgends, ob er ein Bild Ediths auf seinem Tisch zu stehen hatte, oder sogar eines von Barbara, das Heywood jeden Tag sah und mit der Zeit in sich aufgenommen hatte. Vielleicht hätte Heywood erklären können, was Angela DeFillipo in der vergangenen Nacht so erschreckt hatte.

War dieser Martino-Mensch ein so guter Schauspieler? Konnte ein Mensch überhaupt ein so guter Schauspieler sein?