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Bourié lachte sarkastisch.
»Der Gerichtshof wird eine so weit zurückliegende Zeugenschaft gebührend zu würdigen wissen.«
Es trat nun ein Augenblick der Unschlüssigkeit ein, währenddessen die Richter sich zueinander beugten und sich schlüssig zu werden versuchten, ob man die Verhandlung fortsetzen oder bis zum nächsten Morgen vertagen solle.
Es war spät geworden. Die Leute wirkten zugleich erschöpft und überreizt. Eigentlich wollte niemand gehen.
Angélique verspürte keine Müdigkeit. Sie war wie von sich selbst losgelöst. Mehr oder weniger bewußt, stellten ihre Gedanken fieberhafte Überlegungen an. Es war doch nicht möglich, daß die Demonstration der Goldausscheidung eine für den Angeklagten ungünstige Auslegung fand ...? Hatte der Unfug des Mönchs Becher den Richtern nicht sichtlich mißfallen? Dieser Masseneau mochte seine Unparteilichkeit noch so sehr betonen, es schien offenkundig, daß er im Grunde seinem gaskognischen Landsmann wohlgesinnt war. Aber setzte sich sonst dieses ganze Gericht nicht aus harten, unduldsamen Leuten des Nordens zusammen? Und im Publikum gab es nur diesen verwegenen Maître Gallemand, der den Mut hatte, sich gegen die offenkundige Lenkung dieses Prozesses durch den König zu äußern. Was die Nonne betraf, die Angélique begleitete, so war sie hilfreich, soweit sie es vermochte, doch etwa in der Art eines Eiswürfels, den man auf die heiße Stirn eines Kranken legt.
Ach, wenn die Sache doch in Toulouse vonstatten gegangen wäre ...!
Und dieser Advokat, auch er ein Pariser Kind, unbekannt, arm obendrein - wann würde man ihn zu Wort kommen lassen? Würde man ihm zuhören? Warum schaltete er sich nicht mehr ein? Und wo blieb der Pater Kircher? Vergeblich versuchte Angélique, unter den Zuschauern der ersten Reihe das schlaue Bauerngesicht des Großexorzisten von Frankreich zu entdecken .
Der Präsident Masseneau räusperte sich.
»Meine Herren, die Verhandlung wird fortgesetzt. Angeklagter, habt Ihr dem, was wir gesehen und gehört haben, etwas hinzuzufügen?«
Der Große Hinkefuß des Languedoc richtete sich auf seinen Stöcken auf, und seine Stimme erhob sich voll und geprägt von einem Akzent der Wahrhaftigkeit, der das Publikum erschauern ließ:
»Ich schwöre vor Gott und auf die gesegneten Häupter meines Weibes und meines Kindes, daß ich weder den Teufel noch seine Zauberkünste kenne, daß ich niemals eine Goldtransmutation vorgenommen noch nach teuflischen Anweisungen Leben gezeugt noch versucht habe, meinen Mitmenschen durch Zauberei oder Behexung Schaden zuzufügen.«
Zum erstenmal in dieser endlosen Sitzung stellte Angélique eine Bewegung der Sympathie zugunsten des Angeklagten fest. Eine helle Stimme erhob sich inmitten der Menge und rief:
»Wir glauben dir.«
Doch schon sprang der Richter Bourié auf und fuchtelte mit den Armen. »Seht Euch vor! Das ist die Wirkung eines Zaubers, von dem hier noch nicht genügend gesprochen wurde. Vergeßt nicht: Die Goldene Stimme des Königreichs! Die gefürchtete Stimme, die die Frauen verführte!«
Dasselbe kindliche Organ rief:
»Er soll singen! Er soll singen!«
Diesmal stieg dem Präsidenten das südliche Blut ins Gesicht; er schlug mit der Faust auf sein Pult.
»Ruhe! Ich lasse den Saal räumen! Wachen, schafft die Störenfriede hinaus! Monsieur Bourié, setzt Euch! Schluß mit den Zwischenrufen. Kommen wir zum Ende! Maître Desgray, wo seid Ihr?«
»Hier bin ich, Herr Präsident«, erwiderte der Advokat.
Masseneau kam wieder zu Atem und faßte sich mühsam. In ruhigerem Tone fuhr er fort:
»Meine Herren, obwohl dieser Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, wollte der König in seiner Großherzigkeit den Angeklagten nicht aller Verteidigungsmittel berauben. Dieserhalb und um Licht in die magischen Verfahren zu bringen, die anzuwenden der Angeklagte beschuldigt wird, glaubte ich jede, selbst gefährliche Demonstration gestatten zu müssen. Schließlich hat der Monarch in seiner Milde dem Angeklagten den Beistand eines Verteidigers gewährt, dem ich hiermit das Wort erteile.«
Desgray erhob sich, grüßte das Gericht, dankte dem König im Namen seines Mandanten und bestieg sodann eine zwei Stufen hohe Tribüne, von der aus er sprechen sollte.
Als sie ihn sehr gerade und sehr ernst sich aufrichten sah, hatte Angélique größte Mühe, sich vorzustellen, daß dieser schwarzgekleidete, würdige Mann derselbe langaufgeschossene Bursche mit der ewig witternden Spürnase war, der, seinem Hund pfeifend, mit rundem Rücken unter dem schäbigen Mantel durch die Straßen von Paris zu schlendern pflegte.
Der alte Gerichtsbeamte Clopot trat hinzu und kniete nach dem Brauch vor ihm nieder. Nun blickte der Advokat zum Gerichtshof hinüber, dann ins Publikum. Er schien in der Menge jemand zu suchen. Kam es vom gelblichen Schein der Kerzen? Angélique erschien er leichenblaß. Doch als er sprach, klang seine Stimme klar und bestimmt.
»Meine Herren, als vorhin der Herr Generalstaatsanwalt in seiner Anklagerede unsern geliebten König sehr zu Recht mit der Sonne verglich, hat er in großartigem Gedankenflug die ganze Leuchtkraft der Gestirne erschöpft, um diesen Prozeß ins richtige Licht zu rücken. Wie vermöchte da ein unbedeutender Advokat, für den dies der erste große Fall ist, nach ihm noch ein paar winzige Strahlen zu entdecken, die ihn befähigten, die in den tiefsten Gründen des Abgrunds der grausigsten aller Beschuldigungen verborgene Wahrheit aufzuhellen?
Ach, diese Wahrheit scheint mir dermaßen fern und ihre Offenbarung so gefährlich, daß ich innerlich erzittere und innig wünschte, die kümmerliche Flamme, mit der ich sie aufzuhellen versuche, möchte erlöschen und mich im friedlichen Dunkel meines unbelasteten Gewissens lassen. Doch es ist zu spät! Ich habe gesehen, und ich muß reden. Und ich muß Euch zurufen: Seht Euch vor, Ihr Herren! Seht Euch vor, auf daß die Entscheidung, die Ihr trefft, Eurer Verantwortung gegenüber kommenden Jahrhunderten nicht widerspricht. Macht Euch nicht zu Mitschuldigen derer, über die unsere Kindeskinder sagen werden, wenn sie auf unser Jahrhundert zurückblicken: Es war ein Jahrhundert der Heuchler und Unwissenden. Denn in jener Zeit, so werden sie sagen, gab es einen großen und hochsinnigen Edelmann, der allein darum der Hexerei angeklagt wurde, weil er ein großer Gelehrter war.«
Der Advokat machte eine Pause. Dann fuhr er leiser fort:
»Vergegenwärtigt Euch, Ihr Herren, eine Szene aus jenen längst vergangenen, dunklen Zeiten, da unsere Vorfahren sich nur plumper Steinwaffen bedienten. Da kommt nun ein Mann unter ihnen auf die Idee, die Schlammerde gewisser Gebiete ins Feuer zu werfen, zu bearbeiten, bis er einen bis dahin unbekannten, scharfen und harten Stoff aus ihr gewinnt. Seine Gefährten zeihen ihn der Hexerei und verurteilen ihn. Indessen werden ein paar Jahrhunderte später aus ebendiesem Stoff, dem Eisen, unsere Waffen hergestellt.
Ich gehe noch weiter. Werdet Ihr, wenn Ihr in unseren Tagen das Laboratorium eines Parfümfabrikanten betretet, entsetzt zurückweichen und von Hexerei reden angesichts der Retorten und Filter, denen Dämpfe entströmen, die man nicht immer als wohlriechend bezeichnen kann? Nein, denn Ihr kämt Euch lächerlich vor. Gleichwohl, was für Geheimnisse gehen doch im Gewölbe dieses Handwerkers vor: er materialisiert in flüssiger Form das unsichtbarste Ding, das es gibt: den Geruch.
Gehört nicht zu denen, auf die man das schreckliche Wort des Evangeliums anwenden könnte: >Sie haben Augen und sehen nicht. Sie haben Ohren und hören nicht.<
Ich glaube nicht, daß allein der Vorwurf der Beschäftigung mit seltsamen Dingen Euren durch das Studium vielen Perspektiven geöffneten Geist zu beunruhigen vermochte. Aber verwirrende Umstände, ein ungewöhnlicher Ruf umgeben die Persönlichkeit des Angeklagten. Laßt uns, meine Herren, einmal untersuchen, auf welche Tatsachen dieser Ruf sich gründet und ob jede einzelne, aus ihrer Gesamtheit herausgelöst, die Anschuldigung der Hexerei rechtfertigen könnte.
Als katholisches Kind einer hugenottischen Amme anvertraut, wurde Joffrey de Peyrac mit drei Jahren von Hitzköpfen aus einem Fenster in den Hof eines Schlosses geworfen. Er wurde verkrüppelt und entstellt. Soll man, Ihr Herren, alle hinkenden und alle die, deren Anblick erschreckt, der Hexerei anklagen?
Indessen besitzt der Graf allen sonstigen Nachteilen zum Trotz eine wundervolle Stimme, die er von italienischen Meistern ausbilden ließ. Soll man, Ihr Herren, all jene Sänger, deren goldene Kehlen die vornehmen Damen und auch unsere eigenen Frauen in Ekstase versetzen, der Hexerei anklagen?
Von seinen Reisen bringt der Graf zahllose seltsame Berichte mit. Er hat unbekannte Gebräuche beobachtet und neue Theorien studiert. Soll man alle Reisenden und Philosophen verurteilen?
Oh, ich weiß! All das formt keinen schlichten Menschen. Ich komme zum merkwürdigsten Phänomen: Diesem Mann, der ein tiefgründiges Wissen erworben hat und der dank dieses Wissens reich geworden ist, diesem Mann, der so wunderbar zu reden und zu singen vermag, diesem Mann gelingt es trotz seines Äußeren, den Frauen zu gefallen. Er liebt die Frauen und verheimlicht es nicht. Er preist die Liebe und hat zahllose Abenteuer. Daß sich unter den in ihn verliebten Frauen auch überspannte und schamlose befinden, bringt ein freies Leben mit sich, das die Kirche zwar mißbilligt, das aber nichtsdestoweniger sehr verbreitet ist. Wollte man alle Edelleute verbrennen, die die Frauen lieben, diejenigen eingeschlossen, die von ihren verschmähten Liebhaberinnen verfolgt werden, dann wäre, so will mir scheinen, die Place de Grève nicht geräumig genug, um ihren Scheiterhaufen Platz zu bieten ...«
Eine zustimmende Bewegung entstand. Angélique war über die Geschicklichkeit von Desgrays Verteidigungsrede verblüfft. Mit welchem Takt er es vermied, Joffreys Reichtum zu betonen, der den Neid dieser Bürgersleute geweckt hatte, und wie er es ihnen als eine bedauerliche, aber unabänderliche Tatsache darstellte, daß ein zügelloses Leben das Erbteil des Adels war.
Unmerklich verengte er die Dimensionen der Anklage und führte sie auf Provinzklatschereien zurück, was bewirkte, daß man sich mit einem Male wunderte, so viel Lärm um nichts vollführt zu haben.
»Er gefällt den Frauen«, wiederholte Desgray sanft, »und angesichts seiner kläglichen Erscheinung wundern wir uns, wir übrigen Vertreter des starken Geschlechts, daß die Damen aus dem Süden so viel Leidenschaft für ihn empfinden. Nun, Ihr Herren, wir wollen nicht gar zu vermessen sein. Wer hat, seitdem die Welt steht, das Herz der Frauen und das Warum ihrer Leidenschaften zu erklären vermocht? Bleiben wir respektvoll an der Schwelle des Mysteriums stehen. Andernfalls wären wir gezwungen, alle Frauen zu verbrennen .!«
Das Eingreifen Bouriés, der von seinem Sessel aufsprang, schnitt das losbrechende Gelächter und den Beifall ab.
»Genug des Geschwätzes!« schrie er mit zornbebender Stimme. »Ihr macht Euch über das Gericht und die Kirche lustig. Habt Ihr vergessen, daß die Beschuldigung der Hexerei ursprünglich von einem Erzbischof erhoben wurde? Habt Ihr vergessen, daß der Hauptbelastungszeuge ein Ordensgeistlicher ist und daß ein ordnungsgemäßer Exorzismus bei dem Angeklagten vorgenommen wurde, der diesen als einen Gehilfen Satans erwies ...?«
»Ich habe nichts vergessen, Monsieur Bourié«, erwiderte Desgray ernst, »und ich werde Euch antworten. Es ist richtig, daß der Erzbischof von Toulouse die erste Anklage wegen Hexerei gegen Monsieur de Peyrac erhob, mit dem er seit langem in Rivalität stand. Hat dieser Kirchenfürst eine Geste bereut, die er sich in seinem Groll nicht reiflich genug überlegt hatte? Ich möchte es annehmen, denn ich besitze eine Reihe von Dokumenten, in denen Monseigneur de Fontenac wiederholt fordert, der Angeklagte möge wieder einem kirchlichen Gericht ausgeliefert werden, und sich von allen Entscheidungen distanziert, die hinsichtlich desselben von einem Zivilgericht getroffen werden sollten. Er distanziert sich außerdem
- ich besitze den Brief, meine Herren, und ich kann ihn Euch vorlesen - von den Handlungen und Worten desjenigen, den Ihr den Hauptbelastungszeugen nennt: des Mönchs Conan Becher. Was diesen betrifft, so erinnere ich daran, daß er für den einzigen Exorzismus verantwortlich ist, auf den sich jetzt die Anklage zu stützen scheint. Einen Exorzismus, der am 4. Dezember vergangenen Jahres in der Bastille in Gegenwart der hier anwesenden Patres Frelat und Jonathan stattgefunden hat. Ich fechte die Echtheit des Exorzismus-Protokolls nicht in dem Punkte an, daß es tatsächlich von diesem Mönch und seinen Akoluthen verfaßt wurde, über die ich mich nicht äußern möchte, da ich nicht weiß, ob sie leichtgläubig, dumm oder mitschuldig sind. Aber ich fechte die Gültigkeit dieses Exorzismus überhaupt an!« rief Desgray mit donnernder Stimme. »Ich möchte mich nicht mit den Einzelheiten dieser finsteren Zeremonie befassen, aber ich will wenigstens zwei Punkte erwähnen: erstens, daß die Nonne, die schon bei dieser Gelegenheit in Gegenwart des Angeklagten Symptome der Besessenheit simulierte, eben jene Carmencita de Mérecourt war, die uns vorhin eine Probe ihres Komödiantentalents zum besten gab und von der ein Gerichtsdiener bezeugen kann, daß er sie beim Verlassen des Saals das Stück Seife ausspucken sah, mit dem sie den Schaum der Epilepsie vorgetäuscht hat. Punkt zwei: Ich komme auf jenes gefälschte Stilett zurück, auf jene teuflische Nadel, die zu Protokoll zu nehmen Ihr Euch wegen mangelnder Beweiskraft geweigert habt. Und dennoch, Ihr Herren, wenn es so wäre, wenn wirklich ein sadistischer Narr einen Mann solcher Folter unterzogen hätte, in der Absicht, Eure Urteilskraft fehlzuleiten und Euer Gewissen mit dem Tod eines Unschuldigen zu belasten? Ich habe hier die Erklärung des Arztes der Bastille, die wenige Tage nach dieser schauerlichen Prozedur abgegeben wurde.«
Mit stockender Stimme verlas Desgray einen Bericht des Sieur Malinton, Arzt der Bastille, der, an das Lager eines ihm unbekannten, aber im Gesicht durch auffällige Narben gezeichneten Häftlings gerufen, festgestellt hatte, daß dessen ganzer Körper mit eitrigen Wunden bedeckt war, die durch tiefe Nadelstiche verursacht zu sein schienen.
Lautlose Stille folgte dieser Verlesung. Der Advokat fuhr ernst und gemessen fort:
»Und jetzt, meine Herren, ist die Stunde gekommen, einer grandiosen Stimme Gehör zu verschaffen, deren unwürdiger Mittler ich bin, einer Stimme, die, über alle menschliche Schändlichkeit erhaben, immer bemüht war, ihre Getreuen mit Mäßigung aufzuklären. Sie sagt Euch folgendes.« Desgray entfaltete einen großen Bogen und las:
»>In der Nacht des 25. Dezember 1660 wurde im Gefängnis des Justizpalastes von Paris eine exor-zistische Prozedur an der Person des Sieur Joffrey de Peyrac de Morens vorgenommen, welcher des Einvernehmens und des Umgangs mit dem Teufel angeklagt ist.
Da gemäß dem Ritual der Römischen Kirche die wirklich vom Teufel Besessenen über drei ungewöhnliche Kräfte verfügen müssen:
1. Kenntnis von Sprachen, die sie nicht erlernt haben;