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Das Kind regte sich in ihr. Sie legte die Hände auf ihren Leib und preßte ihn in plötzlich aufflammendem Zorn. Warum wollte dieses Kind leben, da Joffrey sterben mußte .?
In diesem Augenblick zerriß der Schneevorhang, und etwas Dunkles sprang keuchend unter das Gewölbe. Angélique erkannte den Hund Sorbonne. Er näherte sich ihr, legte die Pfoten auf ihre Schultern und leckte mit seiner rauhen Zunge ihr Gesicht.
Angélique streichelte ihn und spähte forschend in die von Flocken durchwirbelte Finsternis: Sorbonne, das war Desgray. Desgray würde kommen, und mit ihm die Hoffnung. Sicher hatte er einen Gedanken. Er würde ihr sagen, was man jetzt noch tun konnte, um Joffrey zu retten.
Schon hörte sie den Schritt des jungen Mannes auf der Holzbrücke. Er näherte sich vorsichtig.
»Seid Ihr da?« flüsterte er.
»Ja.«
Er kam näher. In der Dunkelheit unter dem Gewölbe sah sie ihn nicht, aber er neigte sich beim Sprechen so dicht zu ihr, daß der Tabakgeruch seines Atems sie schmerzlich an Joffreys Küsse erinnerte.
»Sie haben versucht, mich beim Verlassen des Justizpalastes festzunehmen. Sorbonne hat einen der Polizisten erwürgt. Ich konnte entkommen. Der Hund ist Eurer Spur gefolgt und hat mich hierhergeführt. Ihr müßt nun verschwinden. Habt Ihr verstanden? Keinen Namen, keine Versuche, nichts mehr. Andernfalls findet Ihr Euch eines Morgens in der Seine - wie der Pater Kircher -, und Euer Sohn wird Doppelwaise sein. Was mich betrifft, so habe ich den Ausgang des Prozesses vorausgesehen. Ein Pferd erwartet mich an der Porte Saint-Martin. In ein paar Stunden bin ich weit fort.«
Angélique klammerte sich an das durchnäßte Wams des Advokaten. Ihre Zähne klapperten.
»Ihr werdet doch nicht fliehen? Ihr könnt mich nicht im Stich lassen!«
Er ergriff die zarten Handgelenke der jungen Frau und löste die verkrampften Finger.
»Ich habe für Euch alles aufs Spiel gesetzt und alles verloren, außer meiner Haut.«
»So sagt mir doch ... sagt mir, was ich für meinen Gatten tun kann!«
»Alles, was Ihr für ihn tun könnt .«
Er zögerte, dann fuhr er überstürzt fort:
»Sucht den Scharfrichter auf und gebt ihm dreißig Silberstücke, damit er ihn erdrosselt - ja, vor dem Feuer. So wird er wenigstens nicht leiden. Da, hier habt Ihr dreißig Silberstücke.«
Sie spürte, daß er ihr eine Börse in die Hand schob. Ohne ein weiteres Wort ging er davon. Der Hund zögerte, seinem Herrn zu folgen, kehrte zu Angélique zurück und schaute sie aus warmen Augen an. Desgray pfiff. Der Hund spitzte die Ohren und verschwand in der Nacht.
Meister Aubin, der Scharfrichter, wohnte an der Place du Pilori, bei der Fischhalle. Hier mußte er wohnen und nirgendwo sonst. Die Bestallungsurkunde der Scharfrichter von Paris bestimmte das seit undenklichen Zeiten. Alle Läden und Verkaufsstände des Platzes gehörten ihm, und er vermietete sie an kleine Krämer. Überdies stand ihm das Recht zu, sich von jedem der Marktstände eine gute Handvoll Gemüse oder Korn zu nehmen, einen Süßwasserfisch, einen Seefisch und ein Bündel Heu. Wenn die Hökerinnen die Königinnen der Markthallen waren, so war der Scharfrichter ihr heimlicher und verlästerter Herr.
Angélique begab sich bei Einbruch der Dunkelheit zu ihm. Der junge Corde-au-cou führte sie. Selbst zu dieser späten Tagesstunde war die Gegend sehr belebt. Durch die Rue de la Poterie und die Rue de la Fromagerie drang Angélique in diesen »Bauch von Paris« ein. Hier hallten die seltsamen Rufe der Marktfrauen wider, die mit ihren derben, roten Gesichtern und ihrer originellen malerischen Sprache eine berühmte und privilegierte Gilde bildeten. Die Hunde stritten sich in den Gassen um die Abfälle. Heu- und Holzkarren versperrten die Straßen. Über allem lag der scharfe Meeresgeruch, der den Ständen der Fischhalle entströmte.
Der Pranger erhob sich mitten auf dem Platz. Es war ein kleiner, achteckiger Turm mit spitzem Dach.
Er bestand aus einem Erdgeschoß und einem einzigen Stockwerk mit hohen Spitzbogenfenstern, durch die man das große eiserne Rad erkennen konnte, das in der Mitte des Turms angebracht war.
Eine beträchtliche Menschenmenge drängte sich am Fuße des Prangers, weniger, um den Dieb zu betrachten, der an diesem Tage aufs Rad gebunden worden war, als um sich mit zwei Knechten zu verständigen, die im Erdgeschoß Marken ausgaben.
»Seht, Madame«, sagte Corde-au-cou nicht ohne Stolz, »das sind alles Leute, die für die Hinrichtung morgen Plätze haben wollen. Sicher kriegen nicht alle welche.«
Mit der seinem Beruf eigenen Gefühllosigkeit, die ihn zu einem vorzüglichen Henker prädestinierte, zeigte er ihr den Anschlagzettel, dessen Inhalt die Ausrufer an diesem Morgen an allen Straßenecken verkündet hatten:
»Der Sieur Aubin, Scharfrichter der Stadt Paris und ihrer Umgebung, macht bekannt, daß er auf seiner Tribüne zu mäßigem Preise Plätze vermietet, die es erlauben, das Feuer zu sehen, das morgen auf der Place de Grève für einen Hexenmeister entzündet wird. Die Billette sind am Pranger bei den Knechten erhältlich. Die Plätze werden durch eine Lilie bezeichnet, die Marken durch ein Andreaskreuz.«
»Soll ich ’nen Platz für Euch nehmen, falls Ihr’s zahlen könnt?« schlug der Scharfrichterlehrling dienstfertig vor.
»Nein, nein«, wehrte Angélique entsetzt ab.
»Das solltet Ihr aber tun«, meinte der Junge. »Denn ohne das bekommt Ihr bestimmt nichts zu sehen. Fürs Henken interessiert sich kaum jemand: da sind die Leute dran gewöhnt. Aber einen Scheiterhaufen gibt’s nicht alle Tage. Wird ein schönes Gedränge werden, o lala! Meister Aubin sagt, daß es ihn schon im voraus graust. Er hat’s nicht gern, wenn die Leute in dicken Haufen drum herumstehen und schreien. Er sagt, man kann nie wissen, was ihnen plötzlich einfällt. So, da sind wir, Madame. Geht nur hinein.«
Die Wohnung in die Corde-au-cou sie geführt hatte, war reinlich und gut gehalten. Man hatte gerade die Kerzen angezündet. Um den Tisch saßen drei kleine, blonde, sauber gekleidete Mädchen und aßen Brei aus Holznäpfen. Am Herd flickte die Scharfrichtersfrau das scharlachrote Trikot ihres Mannes.
»’n Abend, Meisterin«, sagte der Lehrling. »Ich hab’ die Frau da hergebracht, weil sie mit dem Meister sprechen will.«
»Er ist im Justizpalast, muß aber jeden Augenblick kommen. Setzt Euch doch, junge Frau.«
Angélique ließ sich auf einer Bank an der Wand nieder. Die Frau warf ihr verstohlene Blicke zu, stellte ihr aber keine Fragen, wie es jede andere Kleinbürgersfrau getan hätte. Wie viele verstörte Ehefrauen, schmerzerfüllte Mütter, verzweifelte Mädchen mochte sie schon auf dieser Bank haben sitzen sehen, die gekommen waren, um vom Scharfrichter eine letzte Fürsprache, das Abkürzen der Qualen eines geliebten Wesens oder gar das Verhelfen zur Flucht zu erflehen!
Ob aus Gleichgültigkeit, ob aus Mitgefühl, die Frau schwieg jedenfalls, und man hörte nur das unterdrückte Kichern der kleinen Mädchen, die Cordeau-cou neckten.
Ein Schritt auf der Schwelle ließ Angélique aufschrecken. Aber es war noch nicht der, den sie erwartete. Der Ankömmling war ein junger Priester, der seine verschmutzten, derben Schuhe abstrich, bevor er eintrat.
»Meister Aubin ist nicht da?«
»Er muß gleich kommen. Tretet ruhig ein, Herr Abbé, und setzt Euch ans Feuer, wenn Ihr mögt.«
»Das ist sehr freundlich, Madame. Ich bin ein Priester des Missionshauses, und man hat mich dazu ausersehen, dem Verurteilten beizustehen, der morgen hingerichtet wird. Ich wollte Meister Aubin meinen vom Herrn Polizeikommissar unterzeichneten Brief vorweisen und ihn bitten, mich zu dem Unglücklichen zu lassen. Eine im Gebet verbrachte Nacht ist nicht zuviel, um sich auf den Tod vorzubereiten.«
»Freilich wohl«, sagte die Scharfrichtersfrau. »Setzt Euch, Herr Abbé, und trocknet Euren Mantel. Cordeau-cou, leg ein paar Scheite auf.«
Sie legte das rote Trikot beiseite und holte ihren Spinnrocken.
»Ihr seid mutig«, meinte sie dabei. »Habt Ihr vor einem Hexenmeister keine Angst?«
»Alle Geschöpfe Gottes, auch die schuldigsten, verdienen es, daß man sich mitleidvoll über sie neigt, wenn die Todesstunde geschlagen hat. Aber dieser Mann ist nicht schuldig. Er hat das furchtbare Verbrechen nicht begangen, dessen man ihn anklagt.«
»Das sagen sie alle«, erklärte die Henkersfrau tiefsinnig.
»Wäre Monsieur Vincent noch am Leben, so gäbe es morgen keinen Scheiterhaufen. Ein paar Stunden vor seinem Tode noch habe ich ihn mit Besorgnis von der Ungerechtigkeit reden hören, mit der man gegen einen Edelmann des Königreichs vorzugehen im Begriff stand. Lebte er noch, würde er neben dem Verurteilten den Scheiterhaufen besteigen und dem Volk zurufen, man möge ihn an Stelle eines Unschuldigen verbrennen.«
»Ach, das ist es ja, was meinen armen Mann so quält«, rief die Frau aus. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, Herr Abbé, was für Gewissensbisse er sich wegen der morgigen Hinrichtung macht. Er hat in Saint-Eustache sechs Messen lesen lassen, eine in jeder Seitenkapelle. Und er will noch eine am Hauptaltar lesen lassen, wenn alles gutgeht.«
»Wenn Monsieur Vincent noch da wäre .«
». gäbe es keine Diebe und Hexenmeister mehr, und wir wären ohne Arbeit.«
»Ihr würdet vor den Markthallen Heringe verkaufen oder Blumen auf dem Pont-Neuf, und es würde Euch bestimmt nicht schlechter gehen.«
»Meiner Treu .«, sagte die Frau lachend.