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Sie blieb unbeweglich, wie erstarrt sitzen und hielt unter dem Umhang die Börse, die Desgray ihr gegeben, in verkrampften Händen.
»Ihr mögt es mir glauben oder nicht, Herr Abbé«, sagte die Scharfrichtersfrau, »aber meine größte Sünde ist der Stolz.«
»Da verblüfft Ihr mich freilich«, rief der Priester aus und schlug mit den Händen auf die Knie. »Ohne mich wider die christliche Nächstenliebe vergehen zu wollen, meine Tochter, aber Ihr, die Ihr wegen des Berufs Eures Mannes von allen verachtet werdet, Ihr, deren Nachbarinnen Verwünschungen murmeln und sich abwenden, wenn Ihr vorübergeht - ich möchte wissen, wie Ihr da noch an Stolz und Überheblichkeit leiden könnt!«
»Na ja, ist schon richtig«, seufzte die gute Frau. »Und dennoch, wenn ich meinen Alten so betrachte, wie er breitbeinig dasteht, sein großes Beil schwingt und - peng! - mit einem einzigen Hieb einen Kopf rollen läßt, dann muß ich einfach stolz auf ihn sein. So mit einem Hieb ist das nämlich gar nicht leicht, müßt Ihr wissen, Herr Abbé.«
»Meine Tochter, Ihr macht mich erschauern«, sagte der Priester.
Nachdenklich setzte er hinzu:
»Der Menschen Herz ist unerforschlich.«
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und ein Riese mit massigen Schultern trat schweren und ruhigen Schrittes ein. Er brummte ein Grußwort und ließ den gebieterischen Blick desjenigen in die Runde gehen, der stets und überall im Recht ist. Sein volles, von Blatternnarben gezeichnetes Gesicht zeigte derbe, strenge Züge. Er wirkte nicht böse, nur kalt und hart wie eine Maske aus Stein. Er hatte das Gesicht der Menschen, die unter gewissen Umständen weder lachen noch weinen dürfen, das Gesicht der Leichenträger ... und der Könige, dachte Angélique, die trotz des groben Handwerkerkittels eine Ähnlichkeit mit Ludwig XIV. an ihm entdeckte.
Es war der Scharfrichter.
Sie stand auf, und der Priester tat desgleichen; wortlos hielt er das Schreiben des Polizeikommissars hin. Meister Aubin trat mit einer Kerze herzu, um es zu lesen.
»Es ist gut«, sagte er. »Morgen bei Tagesanbruch gehe ich mit Euch hinüber.«
»Ginge es nicht schon heute abend?«
»Unmöglich. Alles ist verschlossen. Nur ich allein kann Euch zu dem Verurteilten einlassen, und offen gesagt, Herr Abbé, ich hab’ einen Mordshunger. Den übrigen Arbeitern ist es untersagt, nach Feierabend zu arbeiten, aber für mich gibt es weder Tag noch Nacht. Wenn sie es sich in den Kopf gesetzt haben, diese Herren von der hohen Justiz, einen armen Sünder zum Geständnis zu zwingen, dann sind sie sogar imstande, dort drüben die Nacht zu verbringen, verbissen, wie sie sind! Heute ist wieder mal nichts ausgelassen worden: weder Wasser noch spanische Stiefel, noch das hölzerne Pferd.«
Der Priester faltete die Hände.
»Der Unglückliche! Allein in der Finsternis eines Verlieses mit seinen Leiden und der Angst vor dem nahen Tod! Mein Gott, steh ihm bei.«
Der Scharfrichter warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Ihr werdet mir doch nicht auch noch Unannehmlichkeiten machen? Es langt mir grade, daß ich diesen Mönch Becher ewig auf den Fersen habe, der immer findet, ich täte nicht genug. Beim heiligen Kosmus und Eligius, es sieht mir eher danach aus, daß er selber vom Teufel besessen ist!«
Während des Redens leerte Meister Aubin die weiten Taschen seines Kittels. Er warf ein paar Gegenstände auf den Tisch, und plötzlich stießen die kleinen Mädchen einen Schrei der Bewunderung aus. Ein entsetzter Schrei antwortete ihnen.
Angélique hatte unter einigen Goldstücken das mit Perlen besetzte Etui erkannt, in dem Joffrey die Tabakstäbchen unterzubringen pflegte, die er rauchte.
Mit einer jähen Bewegung nahm sie es und preßte es an sich.
Ohne böse zu werden, öffnete der Scharfrichter ihr die Finger.
»Hübsch langsam, mein Kind. Was ich in den Taschen des Verurteilten finde, gehört rechtens mir.«
»Ihr seid ein Dieb«, sagte sie keuchend, »ein gemeiner Aasgeier, ein Leichenfledderer.«
Seelenruhig holte der Mann vom Sims ein silbernes Kästchen herunter und legte seine Beute hinein, ohne etwas zu erwidern. Die Frau spann achselzuk-kend weiter. Sie murmelte in nachsichtigem Ton, während sie den Priester ansah:
»Sie sagen alle das gleiche, müßt Ihr wissen. Man darf es ihnen nicht übelnehmen. Die da sollte sich freilich klarmachen, daß einem ein Verbrannter nicht grade viel einbringt. Ich kann nicht mal die Leiche an mich nehmen, um mir mit dem Fett, das die Apotheker haben wollen, kleine Nebeneinkünfte zu verschaffen, oder mit den Knochen, die .«
»Oh, habt Erbarmen, meine Tochter«, sagte der Priester und hielt sich die Ohren zu.
Er betrachtete Angélique mit mitfühlenden Augen, aber sie sah es nicht. Sie zitterte und zerbiß sich die Lippen. Sie hatte den Scharfrichter beschimpft; nun würde er die schauerliche Bitte ablehnen, die sie an ihn richten wollte.
Mit seinem schweren, wiegenden Schritt kehrte Meister Aubin um den Tisch herum zu ihr zurück. Die Daumen in seinem breiten Gürtel, musterte er sie gelassen.
»Davon abgesehen, was habt Ihr auf dem Herzen?«
Zitternd, unfähig, ein Wort zu äußern, hielt sie ihm die Börse hin. Er nahm sie, wog sie ab, dann starrte er sie abermals aus seinen ausdruckslosen Augen an.
»Ihr wollt, daß man ihn erdrosselt .?«
Sie nickte.
Der Mann öffnete die Börse, ließ ein paar Silberstücke auf seine breite Handfläche gleiten und sagte: »Gut, es wird geschehen.«
Da er den bestürzten Blick des jungen Priesters bemerkte, der dem Gespräch gelauscht hatte, runzelte er die Stirn.
»Ihr laßt nichts verlauten, Pfarrer, wie? Für mich ist das nämlich ’ne gefährliche Sache. Wenn’s rauskommt, krieg’ ich ’ne Menge Ärger. Ich muß es im letzten Augenblick machen, wenn der Pfahl schon im Rauch verschwunden ist und die Menge es nicht mehr sehen kann. Ich tu’s nur, um einen Gefallen zu erweisen, versteht Ihr?«
»Ja ... Ich werde nichts sagen«, brachte der Abbé mühsam hervor. »Ich ... Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«
»Ich mach’ Euch angst, wie?« sagte der Scharfrichter. »Ist es das erstemal, daß Ihr einem Verurteilten beisteht?«
»Im Krieg habe ich gar oft die Unglücklichen, die gehenkt werden sollten, bis zum Fuße des Baums begleitet. Aber da war, wie gesagt, Krieg ... während hier .«
Er deutete auf die blonden kleinen Mädchen, die vor ihren Näpfen saßen. »Hier ist es die Justiz«, sagte der Scharfrichter nicht ohne Würde.
Ungezwungen lehnte er sich an den Tisch wie einer, dem es Freude macht, sich zu unterhalten.
»Ihr seid mir sympathisch, Pfarrer. Ihr erinnert mich an einen Gefängnisgeistlichen, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe. Ich kann ihm das Zeugnis ausstellen, daß alle Verurteilten, die wir gemeinsam begleiteten, im Sterben das Kruzifix küßten. Wenn es vorbei war, weinte er, als habe er sein eigenes Kind verloren, und er war so blaß, daß ich ihn zwingen mußte, einen Becher Wein zu trinken, damit er sich wieder erholte. Ich nehme immer einen Krug guten Weins mit. Man kann nie wissen, was passiert, besonders mit den Lehrlingen. Mein Vater war Knecht, als man Ravaillac, den Königsmörder, auf der Place de Grève vierteilte. Er hat mir erzählt ... Na ja, das sind für Euch keine erfreulichen Geschichten. Ich werde sie Euch später erzählen, wenn Ihr dran gewöhnt seid. Kurz, manchmal sagte ich zu dem Gefängnisgeistlichen:
>Pfarrer, glaubst du, daß ich verdammt werde?<
>Wenn du es wirst, Scharfrichter, dann werde ich Gott bitten, daß er mich mit dir verdammt<, erwiderte er.
Wartet mal. Abbé, ich will Euch was zeigen, das Euch jedenfalls ein wenig beruhigen wird.«
Nachdem er eine Weile in seinen vielen Taschen gewühlt hatte, zog Meister Aubin ein kleines Fläschchen hervor.
»Das ist ein Rezept, das mir mein Vater vererbt hat, der es seinerseits von seinem Onkel, dem Henker unter Heinrich IV., bekam. Ich lasse es heimlich von einem befreundeten Apotheker herstellen, dem ich dagegen menschliche Schädel liefere, aus denen er sein >Zauberpulver< fabriziert. Er sagt, gegen Blasengrieß und Apoplexie gebe es nichts Besseres als das Zauberpulver, aber es sei nur wirksam, wenn man Schädel von jungen Männern verwende, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Schon möglich. Das ist seine Sache. Ich liefere ihm einen oder zwei Schädel, und er braut mir insgeheim meinen Trank. Wenn ich einem Todeskandidaten ein paar Tropfen davon gebe, wird er höchst vergnügt und weniger empfindlich. Freilich, das kriegen nur diejenigen, die gut zahlende Familien haben. Immerhin, ich erweise mich dadurch gefällig, ist es nicht so, Herr Abbé?«
Angélique hörte offenen Mundes zu. Der Scharfrichter wandte sich an sie. »Soll ich ihm auch ein bißchen davon geben, morgen früh?«
Sie brachte mit bleichen Lippen heraus:
»Ich ... ich habe kein Geld mehr.«