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Angélique murmelte einen Gruß und verließ den Raum. Sie verspürte eine bohrende Übelkeit und fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen. Aber der Lärm des Platzes schien ihr weniger peinigend als die düstere Atmosphäre der Scharfrichterwohnung.
Trotz der Kälte standen die Ladentüren noch offen: es war die Stunde der nachbarlichen Unterhaltungen. Polizisten führten den Dieb, den man vom Pranger heruntergeholt hatte, ins Chätelet-Gefängnis; ein Schwarm Gassenjungen verfolgte die Gruppe mit Schneebällen.
Angélique hörte hinter sich hastige Schritte. Der kleine Abbé tauchte atemlos neben ihr auf.
»Meine Schwester ... meine arme Schwester«, stammelte er, »ich konnte Euch nicht so fortgehen lassen!«
Sie wich vor ihm zurück. Im kümmerlichen Licht der Laterne über einer Ladentür erblickte der Geistliche ein wachsbleiches Gesicht, in dem zwei grüne Augen von geradezu phosphoreszierender Leuchtkraft funkelten.
»Laßt mich«, sagte Angélique mit metallischer Stimme. »Ihr könnt mir nicht helfen.«
»Meine Schwester, betet zu Gott .«
»Im Namen Gottes verbrennt man morgen meinen unschuldigen Gatten!«
»Macht es Euch nicht noch schwerer, meine Schwester, indem Ihr Euch gegen den Himmel auflehnt. Vergeßt nicht, daß der Heiland im Namen Gottes gekreuzigt wurde.«
»Euer Geschwätz macht mich wahnsinnig!« schrie Angélique mit schriller Stimme, die ihr wie aus weiter Ferne zu kommen schien. »Ich werde keine Ruhe finden, bevor ich einen der Euren gestraft, bevor ich ihn unter den gleichen Foltern umgebracht habe.«
Sie lehnte sich an die Mauer, barg ihr Gesicht in den Händen, und ein heftiges Schluchzen durchbebte sie.
»Da Ihr ihn sehen werdet . sagt ihm, daß ich ihn liebe, daß ich ihn liebe ... Sagt ihm ... ach, daß er mich glücklich gemacht hat! Und dann ... fragt ihn, welchen Namen ich dem Kind geben soll, das ich zur Welt bringen werde.«
»Ich will es tun, meine Schwester.«
Er wollte ihre Hand ergreifen, aber sie entzog sich ihm und verschwand in der Menge.
Der Priester verzichtete darauf, ihr zu folgen. Unter der Last menschlichen Jammers gebeugt, wanderte er durch Gassen, in denen der Schatten Monsieur Vincents umging.
Angélique eilte dem Temple zu. Es kam ihr vor, als summten ihre Ohren, denn mit einem Male hörte sie rings um sich her rufen:
»Peyrac! Peyrac!«
Schließlich blieb sie stehen, und diesmal träumte sie nicht.
». der dritte, der hieß Peyrac, der dritte, der hieß Peyrac!«
Auf einem jener Randsteine hockend, die den Reitern dazu dienten, sich in den Sattel zu schwingen, brüllte ein junger Bursche mit heiserer Stimme die letzten Verse eines Liedes, von dem er ein ganzes Bündel unter dem Arm hielt.
Angélique kehrte um und verlangte ein Blatt. Das grobe Papier roch noch nach frischer Druckerschwärze. Da sie die Buchstaben in der dunklen Gasse nicht entziffern konnte, faltete sie es und setzte ihren Weg fort. Je mehr sie sich dem Temple näherte, desto intensiver beschäftigten sich ihre Gedanken mit Florimond. Sie war immer unruhig, wenn sie ihn allein lassen mußte, zumal er immer lebhafter wurde. Man mußte ihn in seinem Bettchen geradezu festbinden, und dieses Verfahren mißfiel dem kleinen Mann aufs äußerste. Meistens weinte er während ihrer Abwesenheit, und bei ihrer Rückkehr fand sie ihn hustend und fiebernd vor. Sie wagte nicht, Madame Scarron zu bitten, ihn zu beaufsichtigen, denn seit Joffreys Verurteilung ging diese ihr aus dem Weg und bekreuzigte sich beinahe, wenn sie doch einmal einander begegneten.
Auf der Treppe hörte Angélique das Schluchzen des Kleinen, und sie verdoppelte ihre Eile.
»Da bin ich ja, mein Liebling, mein kleiner Prinz. Warum benimmst du dich nicht wie ein großer Junge?«
Rasch warf sie Reisig in den Kamin und stellte den Breitopf auf die Feuerböcke. Florimond schrie aus Leibeskräften und streckte kläglich die Arme aus. Schließlich befreite sie ihn aus seinem Gefängnis, worauf er wie durch Zauberei verstummte und sogar höchst lieblich zu lächeln geruhte.
»Du bist ein kleiner Gauner«, sagte Angélique und wischte ihm die Tränen ab.
Mit einem Male schmolz ihr Herz. Sie nahm ihn auf den Arm und betrachtete ihn im wabernden Flammenschein, der die schwarzen Augen des Kindes aufleuchten ließ.
»Mein kleiner König! Du wenigstens bleibst mir. Wie schön du bist!«
Nachdem Florimond eingeschlafen war, stand sie auf und streckte ihren zerschlagenen Körper. Wirkten sich die Folterungen, durch die man Joffrey gebrochen hatte, auf sie selbst aus? Schmerzhaft kamen ihr die Worte des Scharfrichters in Erinnerung: »Heute ist wieder mal nichts ausgelassen worden: weder Wasser noch spanische Stiefel, noch das hölzerne Pferd.« Sie wußte nicht, was für Schrecken diese Worte bargen, aber sie wußte, daß man ihm Qualen verursacht hatte. Ach, wenn es doch rasch zu Ende ginge!
Sie sagte laut: »Morgen wirst du Ruhe finden, Liebster. Endlich erlöst von den unwissenden Menschen .«
Auf dem Tisch hatte sich das vorhin gekaufte Blatt mit dem Lied entfaltet. Sie stellte die Kerze neben sich und las:
»In der Hölle tiefstem Schlund Satan vor dem Spiegel stund und fand sich gar nicht so übel geraten, wie droben auf Erden die Menschen taten.«
Das Gedicht beschrieb im folgenden in zuweilen drolligen, häufig zotigen Ausdrücken, wie der Teufel Betrachtungen darüber anstellte, ob letzten Endes sein von den Kirchenmalern so sehr in Verruf gebrachtes Gesicht neben dem der Menschenwesen nicht doch bestehen könne. Die Hölle schlug ihm vor, mit den in nächster Zeit ankommenden Erdenkindern einen Schönheitswettbewerb zu veranstalten.
»Grade warf man in das Feuer drei Hexenmeisterungeheuer.
Der eine hatte ein blaues Gesicht, der andre war ein kohlschwarzer Wicht, der dritte, der hieß Peyrac, der dritte, der hieß Peyrac!
Als diese scheußlichen Gestalten kamen, alle Höllengeister Reißaus nahmen.
Nur der Teufel war voll Wonnen,
hatt’ er doch den Schönheitspreis gewonnen!«
Angélique suchte nach der Unterschrift. Dort stand sie: »Claude Le Petit, der Schmutzpoet.«
Erbittert knüllte sie das Blatt zusammen.
»Auch den da werde ich umbringen«, dachte sie.
»Die Frau soll ihrem Manne folgen«, sagte sich Angélique, als der Morgen dämmerte und ein Himmel von irisierender Reinheit sich über die Glockentürme der Stadt zu breiten begann.
Sie würde also gehen. Sie würde ihm bis zur letzten Station folgen. Sie mußte auf der Hut sein, um sich nicht zu verraten, denn sie lief noch immer Gefahr, verhaftet zu werden. Aber vielleicht würde er sie erkennen.
Mit dem schlafenden Florimond auf dem Arm ging sie hinunter und klopfte an die Tür Madame Cordeaus, die bereits beim Feuermachen war.
»Kann ich ihn für ein paar Stunden bei Euch lassen, Mutter Cordeau?«
Die Alte wandte ihr ihr trauriges Hexengesicht zu.
»Legt ihn in mein Bett, ich werde auf ihn aufpassen. Das ist nicht mehr als recht und billig. Der Scharfrichter nimmt sich des Vaters an, die Scharfrichtersfrau wird sich des Sohnes annehmen. Geht, mein Kind, und bittet Unsere Liebe Frau von den Sieben Schmerzen, sie möge Euch in Eurem Leid beistehen.« Von der Türschwelle aus rief sie ihr noch nach:
»Und wegen Eures Imbisses macht Euch keine Sorgen. Ihr eßt einen Teller Suppe bei mir, wenn Ihr zurückkommt.«
Angélique antwortete müde, das sei nicht nötig, sie werde gewiß keinen Hunger verspüren, worauf die Alte kopfschüttelnd ins Haus zurückkehrte.