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Im vorderen Teil des Platzes erhob sich neben einem Galgen, an dem der Leichnam eines Gehenkten schaukelte, ein hohes Kreuz auf einem Steinsockel. Das Volk begann in hellen Haufen herbeizuströmen und sich rings um den Galgen zu drängen.
»Das ist der Mohr«, hieß es.
»Nicht doch, es ist der andere. Man hat ihn hingerichtet, als es noch dunkel war. Der Hexenmeister wird ihn sehen, wenn er auf seinem Karren ankommt.«
»Aber er hat doch ein ganz schwarzes Gesicht.«
»Das kommt davon, daß er hängt. Vorhin war sein Gesicht noch blau. Du kennst doch das Lied .?«
Jemand begann zu trällern:
»Der eine hatte ein blaues Gesicht, der andre war ein kohlschwarzer Wicht, der dritte, der hieß Peyrac .«
Angélique hielt die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. In dem unförmigen Leichnam, der dort schaukelte, hatte sie den Sachsen Fritz Hauer erkannt. Erschauernd zog sie ihren Umhang fester um sich zusammen.
Ein vierschrötiger Metzger, der in der Tür seines Ladens lehnte, sagte in gutmütigem Ton zu ihr:
»Ihr solltet Euch wegverfügen, mein Kind. Was hier vorgeht, ist kein Schauspiel für eine Frau, die kurz vor der Niederkunft steht.«
Angélique schüttelte eigensinnig den Kopf, und nachdem er ihr blasses Gesicht mit den großen, verstörten Augen gemustert hatte, zuckte er die Schultern.
Als Anwohner des Platzes waren ihm die kläglichen Gestalten vertraut, die bei solchen Gelegenheiten um die Galgen und Schafotte herumzustreichen pflegten.
»Findet hier die Exekution statt?« fragte Angélique mit tonloser Stimme.
»Das kommt drauf an, zu welcher Ihr wollt. Ich weiß, daß heute morgen im Châtelet ein Pasquillenschreiber gehenkt werden soll. Aber wenn es sich um den Hexenmeister handelt, dann seid Ihr hier richtig. Seht, dort drüben ist der Scheiterhaufen.«
Der Scheiterhaufen war in beträchtlicher Entfernung am Flußufer errichtet worden. Es war ein riesiger Aufbau aus übereinandergeschichteten Reisigbündeln, auf dessen Gipfel man einen Pfahl erkennen konnte. Man bedurfte einer Leiter, um hinaufzustei-gen.
Die Plattform des einige Meter entfernten Schafotts, das für die Enthauptung diente, war mit Hockern ausgerüstet worden, auf denen sich die Inhaber der gemieteten Plätze bereits niederzulassen begannen. Zuweilen erhob sich ein trockener Wind und blies feinen Schneestaub um die geröteten Gesichter.
Plötzlich spürte Angélique, wie ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Sie hatte ja die erste Nummer des grausigen Programms vergessen: den Bußgang nach Notre-Dame.
Sofort setzte sie sich nach der Rue de la Coutellerie in Bewegung, aber der Menschenstrom, der sich von dort her auf den Platz ergoß, versperrte ihr den Weg und drängte sie zurück. Nie, nie würde sie rechtzeitig nach Notre-Dame kommen!
Der dicke Metzger verließ seine Tür und holte sie ein.
»Wollt Ihr nach Notre-Dame gehen?« erkundigte er sich leise in mitfühlendem Ton.
»Ja«, stammelte sie, »ich habe nicht mehr daran gedacht ... ich ...«
»Ich will Euch sagen, wie Ihr’s machen müßt. Überquert den Platz und geht bis zum Weinhafen hinunter. Dort bittet Ihr einen Flußschiffer, Euch nach Saint-Landry überzusetzen. Dann erreicht Ihr Notre-Dame in fünf Minuten.«
Sie bedankte sich und lief davon. Der Metzger hatte sie gut beraten. Für ein paar Sols nahm sie ein Schiffer in seinen Kahn und brachte sie mit drei Ruderschlägen nach dem Hafen Saint-Landry. Während sie die vorüberziehenden hohen Holzhäuser betrachtete, die in Haufen fauliger Obstabfälle versanken, mußte sie einen Augenblick an den klaren Morgen denken, da Barbe zu ihr gesagt hatte: »Dort drüben vor der Präfektur, das ist die Place de Grève. Ich habe da einen Hexenmeister brennen sehen .«
Angélique rannte. Die Straße, der sie folgte, führte an den Domherrnhäusern des Chors von Notre-Dame vorüber und war fast menschenleer. Doch der tosende Lärm der Menge, in den sich die ernsten und düsteren Töne der Armsünderglocke mischten, schlug bis hierher. Angélique rannte. Sie wußte später nicht zu sagen, woher sie die übermenschliche Kraft genommen hatte, sich auf dem Vorplatz der Kathedrale durch die dichte Menge der Gaffer bis in die vordersten Reihen zu drängen.
Im gleichen Augenblick verkündete weithin hallendes Geschrei das Nahen des Verurteilten. Die Menge stand so enggedrängt, daß der kleine Zug nur mühsam vorwärtskam, obwohl die Henkersknechte die Leute mit Peitschenhieben auseinanderzutreiben versuchten.
Endlich erschien ein kleiner, zweirädriger Karren. Es war eines jener plumpen Gefährte, die ansonsten der Müllabfuhr dienten.
Mächtig, die Arme in die Hüften gestemmt, in roter Hose und rotem Trikot, stand Meister Aubin auf diesem unwürdigen Fahrzeug und ließ seinen schweren Blick über den johlenden Pöbel schweifen. Der Priester hockte unbequem auf der Karrenwand. Der Hexenmeister war nicht zu sehen.
»Er liegt wahrscheinlich auf dem Boden«, sagte eine Frau neben Angélique. »Es heißt, er sei halbtot.«
Indessen war der Karren neben der riesigen Statue des Fasters stehengeblieben. Berittene Büttel drängten mit ihren Hellebarden den Pöbel zurück. Von Mönchen der verschiedensten Orden umgeben, erschienen einige Polizisten auf dem Platz.
Die Menge geriet in Bewegung, und Angélique wurde zurückgedrängt. Sie schrie auf und machte wie eine Furie von ihren Nägeln Gebrauch, um ihren Platz zurückzuerobern.
Das Armsünderglöckchen läutete noch immer. Plötzlich verstummte die Menge. Eine gespenstische Erscheinung erklomm die Stufen, die zum Platz führten. Angéliques getrübte Augen erfaßten nur die fahle Gestalt, die sich näherte. Dann erkannte sie, daß der Verurteilte einen Arm um die Schultern des Scharfrichters, den andern um die des Priesters gelegt hatte und daß er in Wirklichkeit geschleppt wurde, ohne sich der Beine bedienen zu können. Sein Kopf mit den langen, schwarzen Haaren war vornübergeneigt.
Vor ihm schritt ein Mönch, der eine riesige brennende Kerze trug. Angélique erkannte Conan Becher. Sein Gesicht war ekstatisch verzerrt. Er trug ein mächtiges weißes Kruzifix um den Hals, das ihm zuweilen zwischen die Beine geriet, so daß er stolperte. Man hätte meinen können, er gebe sich vor dem Verurteilten einem grotesken, makabren Tanze hin.
Die kleine Prozession näherte sich in alptraumhafter Langsamkeit. Endlich auf dem Platz angelangt, blieb sie vor dem Portal des Jüngsten Gerichtes stehen.
Ein Strick hing um den Hals des Verurteilten. Unter dem weißen Hemd sah ein bloßer Fuß hervor, der auf dem eisigen Steinboden stand.
»Das ist nicht Joffrey«, sagte Angélique bei sich.
Es war nicht der, den sie gekannt hatte, nicht der kultivierte Mensch, der an allen Freuden des Lebens teilgehabt hatte: es war eine Jammergestalt wie all die Jammergestalten, die vor ihm zu dieser Stätte gekommen waren, »barfuß, im Hemd, den Strick um den Hals .«
In diesem Augenblick hob Joffrey de Peyrac den Kopf. In dem abgehärmten, bleichen, entstellten Gesicht leuchteten nur die riesengroßen Augen in düsterem Feuer. Sie glitten langsam über die graue Front von Notre-Dame, über die Reihe der alten steinernen Heiligen. Was für ein Gebet sprach er zu ihnen? Welche Verheißung empfing er dafür? Sah er sie überhaupt?
Zu seiner Linken hatte sich ein Gerichtsbeamter aufgestellt, der nun mit näselnder Stimme das Urteil verlas. Die Armsünderglocke war verstummt. Gleichwohl vernahm man nur einzelne Worte.
». der Verführung, der Gottlosigkeit, der Magie ... den Händen des Scharfrichters übergeben ... barhäuptig und barfuß ... eine brennende Kerze in der Hand und kniend .«
Nur daran, daß man ihn sein Pergament zusammenrollen sah, erkannte man, daß er die Verlesung beendet hatte.
Darauf sprach Conan Becher den Wortlaut des Reuebekenntnisses vor:
»Ich bekenne mich der genannten Verbrechen für schuldig. Ich bitte Gott um Vergebung. Ich nehme meine Verurteilung zur Sühnung meiner Verfehlungen an.«
Der Priester hatte die Kerze ergriffen, die der Verurteilte nicht halten konnte. Nun wartete man, daß der Übeltäter die Stimme erhebe, und die Menge wurde ungeduldig.
»Wirst du reden, Satansbruder?«
»Du willst wohl bei deinem Meister in der Hölle schmoren?«
Angélique hatte unversehens den Eindruck, daß ihr Gatte seine letzten Kräfte sammelte. Eine Woge von Leben überflutete sein fahles Gesicht. Er stützte sich auf die Schultern des Scharfrichters und des Priesters und schien in solchem Maß zu wachsen, daß er selbst Meister Aubin überragte. Eine Sekunde, bevor er den Mund öffnete, wußte Angélique, was er tun würde.
Und plötzlich erklang in der eisigen Luft seine volle, vibrierende, außerordentliche Stimme. Ein letztes Mal erhob sich die Goldene Stimme des Königreichs. In der langue d’oc sang Joffrey eine béarnische Schäferweise, die Angélique zärtlich vertraut war:
»Klarer Morgen auf den Pyrenäen.
Goldene Sonne in den Tälern.