142424.fb2 Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 110

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O Brüder meines Landes,

laßt uns die rosige Morgenröte besingen!«

Ein scharfer körperlicher Schmerz durchzuckte Angélique, während das Geheul des Pöbels Joffreys Stimme erstickte. Rasende Wut hatte die Zuschauer ergriffen. Noch nie war es auf dem Platz von Notre-Dame zu einem solchen Skandal gekommen. Zu singen .! Wenn er wenigstens noch ein Kirchenlied gesungen hätte! Aber er sang in einer fremden Sprache, einer Teufelssprache.

Der Aufruhr der Menge riß Angélique wie eine ungeheure Welle hinweg. Sie sah eben noch, wie der Mönch Becher sein elfenbeinernes Kruzifix hob und mit ihm auf den Mund des Singenden schlug. Joffreys Kopf fiel vornüber, während ihm Blut die Lippen färbte.

Fortgerissen, zerschunden, getreten, fand sie sich unter einem Portal wieder. Sie stieß einen Türflügel auf, trat keuchend in das Dunkel der menschenleeren Kathedrale und versuchte den Schmerz zu meistern, der sie zu überwältigen drohte. Das Kind in ihr gebärdete sich wie rasend. Gedämpft drangen die Rufe von draußen in den Kirchenraum. Ein paar Minuten lang hielt sich das Geschrei noch auf einem betäubenden Höhepunkt, dann ebbte es langsam ab.

»Ich muß wieder hinaus, ich muß zur Place de Grève!« sagte sich Angélique.

Sie lief. Jenseits der Notre-Dame-Brücke holte sie die Menge ein, die den Karren begleitete, aber in der Rue de la Vannerie und in der Rue de la Coutellerie war kaum vorwärtszukommen. Angélique flehte, man möge sie durchlassen. Niemand hörte auf sie. Die Leute waren wie in einem Trancezustand. Unter der Einwirkung der Sonne löste sich der Schnee von den Dächern und fiel in dicken Fladen auf Köpfe und Schultern herab, aber niemand achtete darauf.

Schließlich gelangte Angélique an die Ecke des Platzes und sah im gleichen Augenblick eine riesige Flamme vom Scheiterhaufen emporlodern.

»Er brennt! Er brennt!« schrie sie mit schriller Stimme.

Der Gluthauch drang bis zu ihr. Vom Wind angefacht, knatterte das Feuer wie ein Hagelschlag.

Was hatten jene menschlichen Gestalten zu bedeuten, die sich dort im gelben Schein der Flammen bewegten? Wer war jener scharlachrot gekleidete Mann, der um den Scheiterhaufen herumging und die brennende Fackel in die untersten Reisigbündel stieß?

Wer war jener Mann in der schwarzen Sutane, der sich an die Leiter preßte, ein Kruzifix emporreckte und »Hoffnung! Hoffnung!« rief.

Wer war jener im feurigen Ofen eingeschlossene Mann? O Gott! Konnte es denn in dieser Glut überhaupt ein lebendes Wesen geben? Nein, kein lebendes, der Scharfrichter hatte es erdrosselt!

Plötzlich schlug der Wind die Flammen nieder. Während des Bruchteils eines Augenblicks sah Angélique den Pfahl, an den ein schwarzes, zuckendes Etwas gebunden war.

Sie verlor die Besinnung.

Im Metzgerladen der Place de Grève kam sie wieder zu sich. Eine Frau, die einen Leuchter in der Hand hielt, beugte sich über sie.

»Nun, fühlt Ihr Euch besser, kleine Frau? Ich hab’ schon gedacht, Ihr wärt am Ende tot. Ein Arzt ist gekommen und hat Euch zur Ader gelassen, aber ich glaube vielmehr, wenn Ihr’s wissen wollt, daß Ihr in Kindsnöten seid.«

»O nein«, sagte Angélique und legte die Hand auf den Leib, »ich erwarte mein Kind erst in drei Wochen. Warum ist es so dunkel?«

»Ei, es ist schon spät. Gerade hat man das Angelus geläutet.«

»Und ... der Scheiterhaufen?«

»Es ist vorbei«, sagte die Metzgersfrau mit gedämpfter Stimme. »Aber es hat lang gedauert. Meiner Treu, was für ein Tag! Der Leichnam ist erst gegen zwei Uhr nachmittags völlig vom Feuer aufgezehrt gewesen. Und als man die Asche verstreute, hat es eine richtige Schlacht gegeben. Jeder wollte etwas davon haben. Der Scharfrichter konnte sich kaum seiner Haut erwehren.«

Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu:

»Habt Ihr ihn gekannt, den Hexenmeister?«

»Nein«, sagte Angélique mit Überwindung, »nein! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich habe dergleichen zum erstenmal gesehen.«

»Ja, ja, es nimmt einen mit. Wir Kaufleute von der Place de Grève sehen so vielerlei, daß wir uns schon nichts mehr draus machen. Für uns ist es was Ungewöhnliches, wenn mal keiner am Galgen hängt.«

Angélique hätte sich den guten Leuten gegenüber gern erkenntlich gezeigt, aber sie hatte nur ein paar Kupfermünzen bei sich. So versprach sie, wiederzukommen und ihnen das Geld für den Arzt zurückzuerstatten.

In der bläulichen Abenddämmerung läutete die Feierabendglocke der Präfektur. Mit Einbruch der Nacht nahm die Kälte zu. Am Ende des Platzes fachte der Wind eine rotglühende Rose glimmender Holzreste an: die letzten Reste des Scheiterhaufens. Im Näherkommen hörte Angélique die Stimme Meister Aubins, der mit seinen Gehilfen die Stätte in Ordnung brachte. Sie trat zögernd auf ihn zu, ohne recht zu wissen, was sie ihn fragen wollte. Der Scharfrichter erkannte sie sofort.

»Ah, Ihr seid’s!« sagte er. »Ich habe Euch erwartet. Hier habt Ihr Eure dreißig Silberstücke.«

Ohne zu begreifen, starrte Angélique auf die Börse, die er ihr hinhielt.

»Es war nicht meine Schuld«, fuhr der Mann in bedauerndem Tone fort. »Ich habe ihn nicht erdrosseln können.«

Er beugte sich zu ihr und flüsterte:

»Jemand hatte einen Knoten in den Strick gemacht.«

»Einen Knoten?«

»Ja. Jemand muß die Sache geahnt haben, und um sie zu verhindern, hat man einen Knoten gemacht. Unmöglich, den Strick gleiten zu lassen, versteht Ihr? Und für mich war es höchste Zeit hinunterzusteigen.«

Er sah sich vorsichtig um und fuhr fort:

»Ich glaube, es war der Mönch mit dem heimtückischen Blick, der uns den Streich gespielt hat. Übrigens hat der Delinquent gewußt, was vorging, denn ich hatte ihm vorher gesagt, daß ich ihn erdrosseln würde. Er sagte zu mir: >Bring dich rasch in Sicherheit, Scharfrichter.< Und dann hat er so laut gerufen, daß viele Leute es gehört haben und es heute abend in Paris verbreiten: >Conan Becher, in einem Monat sehen wir uns vor dem Gericht Gottes wieder!<«

»Behaltet das Geld«, sagte Angélique mit tonloser Stimme.

Abermals glaubte sie ohnmächtig zu werden.

Die schlichte Gestalt des Geistlichen löste sich aus dem Dunkel des Schafotts. Seiner Sutane haftete der gleiche unerträgliche Geruch nach verkohltem Holz und verbranntem Fleisch an wie den Kleidern des Scharfrichters.

»Meine Schwester«, sagte er, »ich möchte Euch wissen lassen, daß Euer Gatte als Christ gestorben ist. Er war gefaßt und ergeben. Er trennte sich schwer vom Leben, aber er fürchtete sich nicht vor dem Tod. Zu wiederholten Malen hat er mir gesagt, er freue sich darauf, vor den Herrn aller Dinge zu treten. Ich glaube, er hat viel Trost aus der Gewißheit geschöpft, daß er endlich erfahren würde .«

Zögernd und mit einer gewissen Verwunderung in der Stimme vollendete er: ». daß er endlich erfahren würde, ob die Erde sich dreht oder nicht.«

»Oh!« rief Angélique, die der Zorn plötzlich neu belebte. »Oh, das sieht Joffrey ähnlich! Die Männer sind doch alle gleich. Es war ihm ganz gleich, mich in Elend und Verzweiflung auf dieser Erde zurückzulassen, die sich dreht oder auch nicht!«

»Nein, meine Schwester! Er trug mir immer wieder auf: >Sagt ihr, daß ich sie liebe. Sie hat mich überglücklich gemacht. Ach, ich bin nur eine Etappe in ihrem Leben gewesen, aber ich habe Vertrauen, daß sie ihren Weg gehen wird.< Er äußerte außerdem den Wunsch, man möge das Kind Cantor nennen, wenn es ein Knabe, und Clémence, wenn es ein Mädchen ist.«

Cantor de Marmont, Troubadour des Languedoc, Clémence Isaure, Muse der Blumenspiele von Toulouse .

Wie weit all das zurücklag! Wie unwirklich es war angesichts der bösen Stunden, die Angélique durchlebte. Sie versuchte, sich in den Temple zurückzuschleppen, aber sie kam nur mühsam vorwärts. Für eine Weile erwachte ihr Groll gegen Joffrey und hielt sie aufrecht. Doch dann überschwemmte eine Tränenflut ihr Gesicht, und sie mußte sich an eine

Mauer stützen, um nicht zu fallen.

»O Joffrey, Liebster«, flüsterte sie, »nun weißt du endlich, ob die Erde sich dreht oder nicht! Sei glücklich in der Ewigkeit!«

Ihr körperlicher Schmerz wurde reißend und unerträglich, kehrte in betäubenden Wellen wieder, und sie begriff, daß sie niederkommen würde.

Sie war weit vom Temple entfernt. Auf ihrem unschlüssigen Gang hatte sie sich verirrt, und sie war vor der Notre-Dame-Brücke angelangt. Ein Karren kam vorüber. Angélique rief den Fahrer an.