142424.fb2 Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 111

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»Ich bin krank. Könnt Ihr mich zum Spital fahren?«

»Dorthin will ich ohnedies«, erwiderte der Mann, »eine Ladung für den Friedhof abholen. Ich bin nämlich der, der die Leichen fährt. Steigt also auf.«

Angélique blieb nur vier Tage im Spital. Es war eine andere Angélique als die, die Joffrey gekannt hatte. Die einstige war mit ihm gestorben; mit dem kleinen Cantor - denn Joffreys Kind war ein Sohn - war eine neue geboren worden, in der sich nur noch wenige Spuren der Naivität und seltsamen Süße fanden, die ihr früher eigen gewesen waren. Hitzig und schroff war sie nun darauf aus, sich in diesem Milieu des Elends zu behaupten. Sie wehrte sich dagegen, daß man eine zweite Kranke zu ihr ins Bett legte, sie beanspruchte die besten Decken und verbat sich, daß die Pflegerin sie und ihr Kind mit ihren schmutzigen Fingern berührte. Eines Morgens riß sie einer Nonne die saubere Schürze ab, die diese sich eben umgebunden hatte, und ehe noch die arme Novize die Superiorin holen konnte, hatte sie aus dem Tuch Binden gemacht, um den Säugling zu wickeln und sich selbst zu verbinden.

Den Vorwürfen setzte sie verbissenes Schweigen entgegen und schoß verächtliche, haßerfüllte Blicke auf die, die mit ihr rechten wollten. Eine Zigeunerin, die im selben Saale lag, erklärte, nach ihrer Ansicht sei dieses Mädchen mit den grünen Augen eine Wahrsagerin.

Sie sprach nur ein einziges Mal, als einer der Verwalter des Spitals persönlich erschien und ihr, während er sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase hielt, bekümmert Vorwürfe machte.

»Wie ich höre, mein Kind, widersetzt Ihr Euch, daß eine andere Kranke dieses Bett teilt, das die öffentliche Mildtätigkeit Euch gewährt hat. Findet Ihr solches Verhalten nicht bedauerlich? Das Spital fühlt sich verpflichtet, alle Kranken aufzunehmen, die ihm zugeführt werden, und wir haben nicht genügend Betten.«

»Dann tätet Ihr besser, die Kranken, die man Euch schickt, gleich in ihr Leichentuch einzunähen«, erwiderte die junge Frau brüsk. »In den Hospizen, die Monsieur Vincent gegründet hat, bekommt jeder Kranke sein Bett, das weiß ich. Aber Ihr wolltet gar nicht, daß man Eure unwürdigen Methoden verbessert, weil Ihr dann hättet Rechenschaft ablegen müssen. Was geschieht mit all den Stiftungen der öffentlichen Mildtätigkeit, von denen Ihr mir redet, und den Zuschüssen des Staats? Man könnte meinen, die Herzen seien wenig großmütig und der Staat sei sehr arm, wenn man nicht einmal in der Lage ist, genügend Stroh zu kaufen, um täglich die Unglücklichen frisch zu betten, die Ihr auf ihrem Unrat verkommen laßt. Wenn der Schatten Monsieur Vincents einmal durch dieses Spital wandern sollte, würde er vor Kummer weinen, so tot wie er ist.«

Hinter seinem Taschentuch wurden die Augen des verblüfften Verwalters immer größer. Gewiß, im Verlauf der fünfzehn Jahre, in denen ihm eine bestimmte Abteilung des Spitals unterstellt gewesen war, hatte er zuweilen mit anmaßenden Subjekten, mit zungenfertigen Marktweibern und ordinären Prostituierten zu tun gehabt. Doch nie war von diesen Lagerstätten eine so deutliche Antwort in so strafendem Ton an sein Ohr gedrungen.

»Frau«, sagte er, indem er sich mit seiner vollen Würde umgab, »ich entnehme Euren Worten, daß Ihr kräftig genug seid, um Euch nach Hause zu verfügen. Verlaßt also dieses Asyl, dessen Segnungen Ihr nicht anerkennen wollt.«

»Das will ich gern tun«, erwiderte Angélique bissig, »aber zuvor verlange ich, daß meine Kleider, die man mir bei meiner Ankunft hier wegnahm und die man zusammen mit den Lumpen der Pockenkranken, Syphilitiker und Pestkranken aufbewahrte, vor mir in reinem Wasser gewaschen werden. Andernfalls verlasse ich das Spital im Hemd und werde auf dem Platz vor Notre-Dame ausposaunen, daß die Spenden der Großen und die Zuschüsse des Staates in die Taschen der Spitalverwalter wandern. Ich werde mich auf Monsieur Vincent, das Gewissen des Königreichs, berufen. Ich werde so laut schreien, daß der König selbst verlangen wird, die Abrechnungen des Spitals zu prüfen.«

»Wenn Ihr das tut«, sagte er, während er sich mit einem grausamen Ausdruck über sie beugte, »werde ich Euch zu den Irren stecken lassen.«

Angélique zitterte, wandte aber das Gesicht nicht ab. Plötzlich fiel ihr ein, in welchen Ruf die Zigeunerin sie gebracht hatte.

»Und ich sage Euch, wenn Ihr diese neuerliche Infamie begeht, werden alle Eure Angehörigen im kommenden Jahr sterben.«

»Man riskiert ja nichts, wenn man ihnen so etwas erklärt«, überlegte sie, während sie sich wieder auf ihrem schmutzigen Strohsack ausstreckte. »Die Männer sind ja so dumm .!«

Die Luft der Straßen von Paris, die sie einmal so übelriechend gefunden hatte, kam ihr köstlich rein vor, als sie sich endlich frei, lebendig und in sauberer Kleidung vor dem abstoßenden Gebäude wiederfand.

Ihr Kind auf dem Arm, schritt sie geradezu munter einher. Ein einziger Umstand beunruhigte sie: sie hatte sehr wenig Milch, und Cantor, der bis dahin musterhaft artig gewesen war, begann sich zu beklagen. Gierig an der leeren Brust saugend, hatte er die ganze Nacht geweint.

»In den Temple kommen Ziegenherden. Ich werde ihn mit der Flasche aufziehen. Er wird den Verstand eines Zickleins bekommen, ich kann’s nicht ändern ...«, sagte sie sich.

Und Florimond, was war aus ihm geworden? Sicher hatte Mutter Cordeau ihn nicht im Stich gelassen, sie war eine brave Frau; aber es kam Angélique vor, als seine Jahre vergangen, seitdem sie ihren Erstgeborenen verlassen hatte.

Die Leute, die an ihr vorübergingen, trugen Kerzen in der Hand. Ein Duft nach heißen Krapfen drang aus den Häusern. Es muß der 2. Februar sein, der Tag der Darbringung des Jesuskindes im Tempel und Maria Reinigung. Man feierte ihn, indem man einander Kerzen schenkte, nach einem Brauch, der diesem Tag den Namen Lichtmeß eingetragen hatte.

»Armes kleines Jesuskind«, dachte sie und küßte Cantors Stirn, während sie das Templetor durchschritt.

Als sie sich dem Hause Mutter Cordeaus näherte, hörte sie ein Kind weinen. Ihr Herz klopfte, denn sie ahnte, daß es Florimond war. Gleich darauf sah sie eine kleine dunkle Gestalt durch den Schnee stolpern, von Gassenjungen verfolgt, die sie mit Schneebällen bewarfen.

»Hexenmeister! He, kleiner Hexenmeister! Zeig uns deine Hörner!«

Mit einem Schrei lief sie auf das Kind zu, fing es auf und drückte es an sich. Dann trat sie in die Küche, wo die alte Frau am Herd saß und Zwiebeln schälte.

»Wie könnt Ihr zulassen, daß diese Taugenichtse ihn quälen!« rief sie.

Mutter Cordeau fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, in die die Zwiebeln Tränen getrieben hatten.

»Sachte, sachte, mein Kind, schreit nicht so! Ich hab’ mich Eures Kleinen sehr wohl angenommen, während Ihr fort wart, wenn ich auch nicht allzu sicher war, ob ich Euch eines Tages wiedersehen würde. Aber ich kann ihn ja schließlich nicht den ganzen Tag auf dem Rücken haben. Ich hab’ ihn rausgetan, damit er frische Luft bekommt. Was kann ich denn dazu, wenn die Buben ihn >Hexenmeister< nennen? Es stimmt ja schließlich, daß sein Vater auf der Place de Grève verbrannt worden ist - oder nicht? Na also. Er muß sich eben dran gewöhnen. Mein Junge war nicht viel größer als er, als sie anfingen, ihm Steine nachzuwerfen und ihn >Corde-au-cou< zu nennen. Oh, das herzige Schätzchen!«

Die Alte hatte Cantor auf ihrem Arm entdeckt, legte das Messer beiseite und trat mit verzückter Miene näher, um Cantor zu bewundern.

In dem ärmlichen Zimmer oben im ersten Stock, das sie mit einem Gefühl des Geborgenseins wieder in Besitz nahm, legte Angélique ihre beiden Kinder aufs Bett und beeilte sich, Feuer zu machen.

»Jetzt bin ich froh«, sagte Florimond und sah sie aus seinen leuchtenden, schwarzen Augen an. »Du gehst nicht mehr fort, Mama?«

»Nein, mein Liebling. Schau doch das hübsche Kindchen an, das ich dir mitgebracht habe.«

»Ich mag es nicht«, erklärte Florimond sofort und schmiegte sich eifersüchtig an sie.

Indessen wickelte Angélique Cantor aus und brachte ihn ans Feuer. Er streckte seine kleinen Glieder und gähnte.

Mein Gott! Durch welches Wunder hatte sie in all den grausigen Martern ein so gesundes, kräftiges Kind zur Welt bringen können? Cantor war das lebendige Zeugnis dessen, was künftige Jahrhunderte den Verteidigungsreflex der Natur nennen würden.

Ein paar Wochen lang lebte Angélique einigermaßen friedlich im Temple-Bezirk. Sie hatte ein wenig Geld und hoffte auf Raymonds Rückkehr. Doch eines Nachmittags ließ der Bailli sie zu sich rufen.

»Mein Kind«, erklärte er ohne Umschweife, »ich muß Euch im Auftrag des Herrn Großpriors mitteilen, daß Ihr diesen Bezirk zu verlassen habt. Ihr wißt, daß er nur diejenigen unter seinen Schutz nimmt, deren Ruf in keiner Hinsicht dem Ansehen seines kleinen Staatswesens schaden kann. Ihr müßt also gehen.«

Angélique öffnete den Mund, um zu fragen, was man ihr vorwerfe. Dann dachte sie daran, sich dem Herzog von Vendôme, dem Großprior, zu Füßen zu werfen. Schließlich erinnerte sie sich der Worte des Königs: »Ich möchte nicht mehr von Euch reden hören!«

Man wußte also, wer sie war. Fürchtete man sie etwa noch? Sie begriff, daß es nutzlos war, die Jesuiten um Unterstützung zu bitten. Sie hatten ihr bereitwillig geholfen, als es etwas zu verteidigen gab, aber es war ja alles entschieden. Man würde ein Auge auf diejenigen haben, die sich, wie ihr Bruder Raymond, in dieser peinlichen Angelegenheit kompromittiert hatten.

»Gut«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »ich werde den Bezirk heute abend verlassen.«

Nach Hause zurückgekehrt, tat sie, was ihr geblieben war, in einen kleinen Lederkoffer, packte die beiden Kinder warm ein und lud alles auf den Schubkarren, den sie schon bei ihrem ersten Umzug benützt hatte.

Mutter Cordeau war in der Markthalle, und Angélique ließ etwas Geld auf dem Tisch zurück.

»Wenn ich reicher bin, werde ich meine Schuld abtragen«, nahm sie sich vor.

»Gehn wir spazieren, Mama?« fragte Florimond.

»Wir kehren zu Tante Hortense zurück.«

»Sehe ich dann Baba?«

Es war der Name, den er Barbe einmal gegeben hatte.

»Ja.«

Er klatschte in die Hände und schaute entzückt umher.

Während sie ihren Schubkarren durch die Straßen fuhr, in denen der Schlamm sich mit geschmolzenem Schnee vermischte, betrachtete Angélique die kleinen Gesichter ihrer Kinder, die eng aneinandergepreßt unter der Decke lagen. Das Schicksal dieser zarten Wesen lastete bleischwer auf ihr.

Über den Dächern war der Himmel klar, von Wolken reingefegt. Gleichwohl würde es in dieser Nacht keinen Frost geben, denn seit ein paar Tagen war das Wetter milder geworden, und die Armen schöpften an ihren leergebrannten Kaminen neue Hoffnung.