142424.fb2 Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 112

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In der Rue Saint-Landry stieß Barbe einen freudigen Schrei aus, als sie Florimond erkannte. Das Kind streckte ihr die Arme entgegen und küßte sie stür-misch.

»Du bist es, mein Engelchen!« stammelte die Magd.

Ihre Lippen bebten, ihre großen gutmütigen Augen füllten sich mit Tränen. Sie starrte Angélique wie ein aus dem Grabe auferstandenes Gespenst an. Verglich sie die Frau mit dem harten abgemagerten Gesicht, die dürftiger gekleidet war als sie selbst, mit jener, die ein paar Monate zuvor an ebendiese Tür geklopft hatte?

Angélique fragte sich, ob Barbe wohl von ihrer Mansarde aus das Feuer auf der Place de Grève hatte brennen sehen, als von der Treppe her ein unterdrückter Ausruf erscholl und sie veranlaßte, sich umzuwenden.

Hortense, einen Leuchter in der Hand, war bei ihrem Anblick vor Entsetzen erstarrt. Hinter ihr erschien Maître Fallot de Sancé auf dem Treppenabsatz: ohne Perücke, in Schlafrock und gestickter Mütze. Entgeistert starrte er seine Schwägerin an.

Nach einer schier endlosen Stille gelang es Hortense, steif und zitternd einen Arm zu heben.

»Hinaus!« sagte sie mit hohler Stimme. »Mein Dach hat schon allzu lange eine verfluchte Familie beherbergt.«

»Sei doch still, du unverbesserliche Törin!« erwiderte Angélique achselzuckend.

Sie näherte sich der Treppe. »Ich selber gehe ja. Aber ich bitte dich, diese unschuldigen Kleinen aufzunehmen, die dir in keiner Hinsicht schaden können?«

»Hinaus!« wiederholte Hortense.

Angélique wandte sich zu Barbe, die Florimond und Cantor an sich drückte. »Ich vertraue sie dir an, Barbe, du Gute! Hier hast du alles Geld, das mir geblieben ist, um Milch für sie zu kaufen. Cantor braucht keine Amme. Er hat sich an Ziegenmilch gewöhnt .«

»Hinaus! Hinaus! Hinaus!« schrie Hortense in gellendem Crescendo und begann, mit den Füßen zu stampfen.

Der letzte Blick, den Angélique zurückwarf, galt nicht ihren Kindern, sondern ihrer Schwester.

Die Kerze, die Hortense in der Hand hielt, schwankte und zeichnete grausige Schatten in ihr verzerrtes Gesicht.

»Und dennoch«, sagte sich Angélique, »haben wir sie nicht gemeinsam gesehen, die kleine Edelfrau von Monteloup? Jenes Gespenst mit den vorgestreckten Armen, das durch unsere Zimmer ging .? Und wir schmiegten uns vor Entsetzen aneinander im großen Bett .«

Sie trat auf die Gasse hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick blieb sie stehen und sah gedankenlos einem Schreiber zu, der auf einem Schemel stand und die große Laterne vor der Kanzlei des Monsieur Fallot de Sancé anzündete.

Dann wandte sie sich ab und tauchte in Paris unter.

Ein Raunen geht in dieser Nacht des Tauwetters durch die Straßen von Paris. Das Schneewasser tropft von den Dachrändern und Traufrinnen. Der gelbe, feuchte Mond trocknet sich an den vorbeiziehenden Wolken.

Auf der Place de Grève schaukelt wieder ein Gehenkter leise im lauen Wind. Die Turmuhr der Präfektur schlägt die Stunden, und in seinem Laden betet der Metzger der Place de Grève mit seiner Frau und seinen Kindern vor einer zwischen zwei Schinken aufgestellten kleinen Statue der Heiligen Jungfrau.

Die Ratten nagen in den Wänden, oder sie huschen über die schlammigen Gassen, zwischen den Beinen später Passanten hindurch, die einen Schrei ausstoßen und ihre Degen ziehen.

Dem Bürgersehepaar, das aus dem Theater des Hôtels de Bourgogne kommt und sich vor der Finsternis ängstigt, bietet Forfant-la-Pivoine seine Laterne. Er begleitet sie bis zur Place des Vosges und verdient sich damit ein paar Sols, wenn er nicht grade unterwegs einem Gauner seiner Bande begegnet. Dann freilich werden sie selbander die guten Bürgersleute, ohne lange zu fackeln, um ihre Börsen und ihre Mäntel erleichtern und danach einträch-tiglich zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein wandeln, wohin sie der Große Coesre, der König der Rotwelschen, bestellt hat.

In seinem Schlupfwinkel im Faubourg Saint-Martin steht der Große Coesre im Begriff, sich zu seinen Gefolgsleuten zu begeben. Sein Narr Bavottant hat den Karren, in dem er den Herrn und Meister fährt, mit warmen Edelmannsmänteln ausgepolstert, die ihm Strolche von ihren Streifzügen mitgebracht haben. Der Erzgauner Rôt-le-Barbon, sein ständiger Berater, unterrichtet ihn von einer heiklen Angelegenheit, die es zwischen zwei Anführern der Gaunerzunft zu bereinigen gebe: zwischen Calembredaine, der im alten Gemäuer von Nesles, und Rodogone dem Ägypter, der im Faubourg Saint-Denis haust. Calembredaine ist der Stärkere, denn er herrscht über alle Brücken von Paris, über die Tore des Universitätsviertels und die Seineufer, aber Rodogone ist gefürchtet, denn er hat die Zigeuner und die braunen Hexen auf seiner Seite.

Der schreckliche Jean-Pourri kommt von seinem Streifzug durch die Straßen zurück und hält einen Säugling im Arm. Zwanzig Sols hat er einer Amme von »La Couche«, dem städtischen Heim für Findelkinder hinter Notre-Dame, dafür bezahlt. Das Kind ist erst sechs oder sieben Monate alt; es wird ein leichtes sein, ihm die Beine zu krümmen, es zu verstümmeln und dann mit einem der Weiber der Zunft, einer »Marquise«, betteln zu schicken. Das Geschäft macht sich seit einer Weile, genauer gesagt, seitdem dieser verdammte Priester Vincent die Kinder nicht mehr auf den Türschwellen einsammelt und wer weiß wohin schickt. Jean-Pourri eilt sich. Heute nacht ist Vollversammlung der Gaunerzunft auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein. Man wird wieder einmal zahlen müssen, obwohl die Zeiten immer noch hart sind. Aber Rolin-le-Trapu ist ein großer Fürst, und es ist nicht mehr wie recht und billig, ihm Zins zu berappen.

Auf der Place des Vosges duelliert man sich unter einem Balkon und bringt ein Ständchen unter einem andern. Artemise, Roxane, Glicerie und Crisolie, die schönen Preziösen des Quartier du Marais, lehnen sich entzückt aus den Fenstern.

Nicht weit davon entfernt schläft der Koloß der Bastille im Grunde der Nacht wie ein riesiger Walfisch auf dem Grunde des Meers. Auf den Wällen rufen die Soldaten einander zu, während der Mond sich in den kleinen, bronzenen Kanonen spiegelt. In den Verliesen bekommen die Gefangenen Besuch von rotäugigen Ratten.

König Ludwig XIV. dagegen spaziert über die Dächer des Louvre. Es genügt ihm nicht, daß die Infantin, seine Gattin, aus blauen Augen verliebt zu ihm aufschaut, daß Madame de Soissons ihm glühende Blicke zuwirft und daß Madame d’Orléans, die durchtriebene Henriette, ihn herausfordernd anlächelt. Der König hat ein Auge auf Mademoiselle de La Mothe-Houdancourt geworfen, die Hofdame der Königin. Doch als er an diesem Abend die Schöne in ihrer Wohnung aufsuchen wollte, hat ihm Madame de Navailles den Eintritt verwehrt.

Nach kläglichem Rückzug hat Seine Majestät in ihrem Kabinett den großen galanten Rat zusammengerufen, der sich aus Péguillin, de Guiche, de Vardes und Bontemps, seinem Kammerdiener, zusammensetzt.

Péguillin kennt sich genau aus. Der einzige Weg zu den Schönheiten sei, so erklärt er, zuerst die Dachrinne und dann der Kamin.

»Das sind ja reichlich halsbrecherische Liebeswege«, seufzt der verlegene König.

Doch Péguillin ermutigt ihn. Und schließlich klimmt der große Rat durch eine Mansardenluke aufs Dach. Der einzuschlagende Weg ist weder breit noch sicher ...

»Es geht, es geht«, meint der Monarch. »Ich werde zur Sicherheit meine Schuhe in die Hand nehmen.«

Bontemps seufzt:

»Eure Majestät wird sich in der nassen Dachrinne erkälten.«

»Wir werden bei unsrer Rückkehr in meinem Kabinett einen Glühwein trinken.«

»Jetzt müssen wir bis zum Fuß des Kamins über das Schieferdach vorrücken«, verkündet de Guiche, der den Vortrab bildet.

»Teufel noch eins!« knurrt der König und klammert sich fest.

»Und dabei ist das noch nicht mal das Schlimmste«, spottet de Vardes und läßt leise eine Strickleiter in den Kamin hinuntergleiten.

»Kommt, Sire«, sagt Péguillin zappelnd. »Dies ist der Augenblick für den Sturmangriff. Ich bezwinge als erster die Festung.«

»Einverstanden, Péguillin, aber nistet Euch nicht etwa auch gleich als Sieger ein.«

»Keine Angst, Sire, ich warte, bis Ihr Quartier bezogen habt.«

»Ich für mein Teil bleibe auf der Schutzwehr«, sagt der Marquis de Vardes. »Ich werde mit Bontemps die Leiter halten.«

Péguillin de Lauzun, der schon fast völlig in den Schlund hinabgetaucht ist, streckt noch einmal seine Gaskognernase heraus.

»Ah, seitdem de Vardes Soissons erobert hat, hält er die Stellung«.

»Dennoch steht sie jedem Daherkommenden offen«, sagte der König.

Der Marquis wartet, bis sein erhabener Herr verschwunden ist, und zuckt dann die Schultern. Mit Bontemps’ Hilfe hält er die schwankende Strickleiter fest. Der Mond verschwindet hinter einer Wolke, und es wird sehr dunkel. De Vardes fletscht die Zähne wie ein Hund, der im Begriff ist zuzubeißen. »Als ob es um die Soissons ginge, diese Dirne!« Beim Henker, warum läßt ihn die Erinnerung an jene andere Frau mit den grünen Augen nicht los? Eigentlich wird Seine Majestät von Mademoiselle de La Mothe nicht erwartet; und Péguillin noch weniger von der anderen Hofdame, deren Namen er nicht einmal weiß. Aber es gibt nichts Süßeres und Fügsameres als die Hofdamen.

Kaum daß Mademoiselle de La Mothe die Hand vor den Mund hält, um einen Schrei zu unterdrük-ken, als ihr königlicher Liebhaber schwarz wie ein Schornsteinfeger vor ihr auftaucht. Nicht der kleinste Ausruf läßt sich vernehmen.

Vergessen wir nicht, daß man hinter der Tür zur Linken Madame de Navailles schnarchen hört und daß sich hinter der Tür zur Rechten das Schlafzimmer der Königin befindet.

Die Königin liegt allein in ihrem großen Bett. Sie wartet auf den König und versucht, die Müdigkeit zu verjagen, die sie überwältigen will. Der König arbeitet immer bis tief in die Nacht. Es kommt der Infantin Maria-Theresia vor, als bestehe ihr Leben nur daraus, auf ihn zu warten. Und gleichwohl ist er ein aufmerksamer Gatte, der schönste, den man sich erträumen kann.