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Stundenlang war sie verstört durch diese Finsternis geirrt, schwankend wie eine Mondsüchtige. Welcher Haß-, welcher Jagdinstinkt hatte sie vor das »Grüne Gitter« geführt, hinter dessen Scheibe sie den Mönch Becher erkannt hatte?
»Komm mit mir, Marquise«, sagte der Zwerg unvermittelt, indem er auf die Erde sprang. »Wir gehen zu den Unschuldigen Kindern. Da wirst du jemand finden, der’s für dich besorgt.«
Sie folgte ihm, ohne zu zögern. Der Zwerg schritt ihr tänzelnd voraus.
»Ich heiße Barcarole«, erklärte er nach einer Weile. »Ist es nicht ein anmutiger Name, genau so anmutig wie ich? Huhu!«
Er stieß einen fröhlichen Juchzer aus, schlug einen Purzelbaum, dann formte er einen Schneeball und warf ihn in ein Fenster.
»Machen wir uns aus dem Staub, Teuerste«, fuhr er fort, »sonst kriegen wir den Inhalt des Nachttopfs dieser biederen Bürgersleute auf den Kopf, die wir aus dem Schlaf geweckt haben.«
Kaum hatte er ausgesprochen, knarrte oben auch schon ein Fensterflügel, und Angélique mußte zur Seite springen, um der prophezeiten Dusche zu entrinnen.
Der Zwerg war verschwunden. Angélique ging weiter. Ihre Füße versanken im Schlamm. Ihre Kleider waren feucht, aber sie empfand die Kälte nicht.
Ein leiser Pfiff lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Mündung einer Kloake, der der Zwerg Barcarole entstieg.
»Verzeiht, daß ich Euch im Stich ließ, Marquise, aber ich habe meinen Freund Janin Cul-de-Bois geholt.«
Hinter ihm zwängte sich ein zweiter Knirps aus der Kloake. Es war kein Zwerg, sondern ein beinloser Krüppel, dessen Oberkörper auf einem hölzernen Sockel befestigt war. In seinen knotigen Händen hielt er Holzgriffe, auf die er sich stützte, während er sich von Pflasterstein zu Pflasterstein schwang. Sein Gesicht strotzte von Finnen. Das spärliche Haar war sorgfältig über den glänzenden Schädel verteilt. Sein einziges Kleidungsstück bestand aus einer Art blauen Tuchrocks mit goldbestickten Aufschlägen, der einmal einem Offizier gehört haben mußte.
Er stülpte einen federgezierten Hut auf, nahm seine hölzernen Handgriffe und machte sich mit ihnen auf den Weg.
»Was will sie?« fragte er mit einem prüfenden Blick auf Angélique.
»Daß man ihr hilft, einen Kerl umzulegen.«
»Warum nicht? Zu wem gehört sie?«
»Weiß ich nicht.«
Je länger sie gingen, desto mehr Gestalten schlossen sich ihnen an. Zuerst waren Pfiffe zu hören, die aus dunklen Winkeln, von Uferböschungen oder aus Höfen kamen. Dann tauchten Vagabunden mit langen Bärten, bloßen Füßen und zerschlissenen Umhängen auf, alte Weiber, die wie wandelnde Lumpenbündel aussahen, Blinde und Lahme, die ihre Krücken über die Schulter legten, um rascher vorwärtszukommen, Bucklige, die nicht die Zeit gehabt hatten, ihre künstlichen Buckel abzunehmen. Echte Arme und echte Gebrechliche mischten sich unter die falschen Bettler.
Angélique hatte Mühe, ihre mit bizarren Ausdrücken gespickte Sprache zu verstehen. An einer Straßenkreuzung wurden sie von einer Gruppe von Raufbolden mit verwegenen Schnurrbärten angesprochen. Sie hielt sie für Bürgersoldaten oder gar Büttel, bemerkte aber bald, daß sie verkleidete Gauner vor sich hatte.
Es war in diesem Augenblick, daß sie vor den Wolfsaugen um sie her erschrak.
Sie blickte über die Schulter und sah sich von scheußlichen Gestalten umringt.
»Hast du Angst, meine Schöne?« fragte einer der Strolche und legte frech den Arm um ihre Taille.
Sie schlug den Arm herunter und erwiderte: »Nein.« Und als er zudringlicher wurde, gab sie ihm eine Ohrfeige.
Ein kleiner Tumult brach aus, und Angélique fragte sich, was wohl mit ihr geschehen würde. Aber sie spürte keine Angst. Haß und Empörung, die sie schon allzu lange mit sich herumgetragen hatte, verdichteten sich zu einem wilden Bedürfnis, um sich zu schlagen, zu beißen und Augen auszukratzen.
Der wunderliche Cul-de-Bois war es, der durch seine Autorität und sein wütendes Gebrüll die Ordnung wiederherstellte. Er besaß eine hohle Grabesstimme, die seine Umgebung erzittern ließ.
Jetzt erst sah sie, daß das Gesicht des Strolchs, der sie herausgefordert hatte, blutig war und daß er die Hand über die Augen hielt. Die andern lachten.
»Hoho! Sie hat dich ganz schön zugerichtet, die Kleine!«
Auch Angélique hörte sich lachen, und zwar auf eine ihr fremde, aufreizende Weise. So leicht war das also, in die Unterwelt hinabzusteigen? Angst? Was war das: Angst? Ein Gefühl, das es nicht gab. Es paßte höchstens zu den biederen Bürgern von Paris, die erzitterten, wenn sie unter ihren Fenstern die Brüder und Schwestern der höllischen Zunft auf dem Wege zum Friedhof der Unschuldigen Kindlein und zur Huldigung vor ihrem Fürsten, dem Großen Coesre, vorbeigehen hörten.
»Wem gehört sie?« fragte jemand.
»Uns!« brüllte Cul-de-Bois. »Und daß ihr’s euch gesagt sein laßt!«
Man ließ ihn vorausgehen. Keiner der Bettler, und wäre er auch noch so flink auf den Beinen gewesen, wagte es, den Mann auf dem Sockel zu überholen. Als es bergauf ging, stürzten zwei der falschen Soldaten herzu, um ihn hochzuheben und eine Weile zu tragen.
Noch nie war Angélique bei den Unschuldigen Kindlein gewesen, obwohl der schauerliche Ort einer der beliebtesten Treffpunkte von Paris war. Man begegnete in seinem Umkreis sogar vornehmen Damen, die mit ihren Kavalieren kamen, um in den unterhalb der Beinhäuser eingerichteten Läden einzukaufen.
Nachts diente er, da auf ihm traditionsgemäß niemand verhaftet werden durfte, den Spitzbuben und Straßenräubern als Unterschlupf, und die Nachtschwärmer wählten unter den dort versammelten Dirnen die Gefährtinnen ihrer Schäferstündchen.
Mit großen Augen wanderte Angélique über diese seit Jahrhunderten mit Leichen vollgepfropfte Stätte. Hier und dort gähnten offene Massengräber, die nur auf eine letzte Fuhre warteten, um zugeschüttet zu werden. Ein paar Stelen, ein paar Platten kennzeichneten die Grabstellen wohlhabenderer Familien, aber dies hier war der Friedhof der armen Leute. Die Aristokratie ließ sich in Saint-Paul beisetzen.
Der Mond beleuchtete jetzt die dünne Schneehaut, die die Dächer der Kirche und der umliegenden Gebäude überzog. Das Kreuz, ein hohes metallenes Kruzifix, das sich nahe der Kanzel in der Mitte des Terrains erhob, glänzte matt. Die Kälte milderte den Gestank. Niemand schien ihn zu bemerken, und selbst Angélique sog die mit Miasmen gesättigte Luft gleichgültig ein.
Was ihren Blick anzog und sie in einem Maße faszinierte, daß sie glaubte, in einem Alptraum zu leben, waren die vier Galerien, die, von der Kirche ausgehend, die Einfassung des Friedhofs bildeten. Die aus dem frühen Mittelalter herrührenden Gebäude bestanden in ihrem unteren Teil aus spitzbogigen Kreuzgängen, in denen tagsüber die Kaufleute ihre Buden aufbauten. Über den Kreuzgängen aber befanden sich mit Schindeln gedeckte Bodenkammern, die auf der Friedhofsseite auf Holzpfeilern ruhten und offene Zwischenräume zwischen den Dächern und den Wölbungen der Bogen bildeten. Sie alle waren mit Gebeinen angefüllt. Scheuern des Todes, bis zum Rande voll einer furchtbaren Ernte, boten sie den Blicken und der Meditation der Lebenden eine seltsame Anhäufung von Knochen und Schädeln, so zahlreich, daß sich ihr Überfluß schon nach außen ergoß. Die Winde trockneten sie, und die Zeit wandelte sie zu Asche, aber unaufhörlich wurden sie durch neuen Nachschub aus der Erde des Friedhofs ergänzt.
»Was - was ist da?« stammelte Angélique entsetzt.
Auf dem Gesims eines Grabes hockend, hatte sie der Zwerg Barcarole neugierig beobachtet.
»Die Beinhäuser«, antwortete er, »die Beinhäuser der Unschuldigen.«
Nach einem Moment des Schweigens fügte er hinzu:
»Wo kommst du her, mein Mädchen? Hast du noch nichts dergleichen gesehen?«
Sie setzte sich neben ihn. Seitdem sie fast unbewußt mit ihren Fingernägeln das Gesicht jenes Kerls bearbeitet hatte, war sie in Ruhe gelassen worden, und niemand hatte mehr mit ihr gesprochen. Wenn neugierige oder verlangende Blicke sich auf sie richteten, hatte sich sogleich eine warnende Stimme erhoben:
»Cul-de-Bois sagt: Sie gehört zu uns. Vorsicht, Jungs!«
Um sie herum füllte sich der weiträumige Friedhof allmählich mit verdächtigen Gestalten: Sie merkte es nicht, sie war vom Anblick der Beinhäuser völlig gefesselt. Sie wußte nicht, daß der grausige Brauch, Skelette aufzustapeln, eine Eigentümlichkeit von Paris war, daß alle großen Kirchen der Hauptstadt mit den Unschuldigen Kindlein im Wettbewerb standen. Angélique schien es schrecklich, während der Zwerg Barcarole es herrlich fand. Er murmelte:
». Und schließlich holt der Tod uns leise.
Im Dunkeln liegt das Ziel der Reise,
wenn Abschied wir genommen von der Welt.«
Langsam wandte Angélique sich ihm zu.
»Bist du ein Dichter?«
»Nicht ich spreche so, sondern der kleine Schmutzpoet.«