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»Kennst du ihn?«
»Und ob ich ihn kenne! Er ist der Dichter vom Pont-Neuf.«
»Auch den will ich töten.«
Der Zwerg neben ihr hüpfte empor wie eine Kröte.
»Hoho! Jetzt hört der Spaß aber auf. Er ist mein Kamerad.«
Er schaute in die Runde und rief die andern zu Zeugen an, indem er sich mit dem Finger an die Schläfe klopfte.
»Sie spinnt, die Kleine! Sie will alle Welt um die Ecke bringen.«
Plötzlich entstand Lärm, und die Menge teilte sich vor einem wunderlichen Aufzug.
An der Spitze schritt eine sehr lange und magere Gestalt, deren bloße Füße durch den schlammigen Schnee trippelten. Fülliges weißes Haar hing über ihre Schultern, doch auf dem Scheitel war der Schädel kahl. Man hätte das Wesen für eine alte Frau halten können, trotz seiner Hosen und seines zerschlissenen Rocks. Mit seinen vorspringenden Backenknochen, seinen trüben, graugrünen Augen wirkte dieser Mensch so geschlechtslos wie ein Skelett und paßte zu der grausigen Szenerie. Er trug eine lange Pike, an der ein toter Hund aufgespießt war. Neben ihm schwang ein rundliches Jüngelchen einen Besen.
Den beiden grotesken Bannerträgern folgte ein Leiermann, der hingegeben die Kurbel seines Instrumentes drehte. Die Originalität des Musikers lag in seinen riesigen Strohhut, in dem er fast bis zu den Schultern verschwand. Aber er hatte in den vorderen Teil des Randes ein Loch gebohrt, und man sah seine spöttischen Augen funkeln. Ein Kind begleitete ihn, das aus Leibeskräften auf ein kupfernes Becken trommelte.
»Soll ich dir die Namen dieser hochwohllöblichen Edelmänner nennen?« erkundigte sich der Zwerg bei Angélique.
Er setzte augenzwinkernd hinzu: »Du kennst das Zeichen, aber ich merke sehr wohl, daß du nicht zu uns gehörst. Die beiden da vorn sind der Große Eunuch und der Kleine Eunuch. Seit Jahren liegt der Große Eunuch im Sterben, aber er stirbt nie. Der Kleine Eunuch ist der Wächter der Frauen des Großen Coesre. Er trägt die Insignien des Bettlerkönigs.«
»Einen Besen?«
»Pst! Spotte nicht. Der Besen bedeutet das häusliche Leben. Hinter ihnen Thibault der Leiermann und sein Page Linot. Und hier nun die Weiber des Bettlerkönigs.«
Unter schmutzigen Hauben zeigten die Frauen, auf die er wies, ihre gedunsenen Gesichter mit den blauumränderten Prostituiertenaugen. Manche waren noch schön, und alle blickten herausfordernd umher, aber nur die erste, ein junges Mädchen, fast ein Kind noch, sah einigermaßen unverdorben aus. Trotz der Kälte war ihr Oberkörper nackt, und sie trug ihre jungen, kaum entwickelten Brüste stolz zur Schau.
Sodann folgten Fackelträger, degenbewehrte Musketiere und ein schwerer, auf seiner Achse knarrender Karren, der von einem Riesen mit irrendem Blick und vorgeschobener Unterlippe gezogen wurde.
»Bavottant, der Idiot des Großen Coesre«, bemerkte der Zwerg.
Hinter dem Schwachsinnigen beschloß eine weißbärtige Gestalt den Zug, die in einem langen, kaftanartigen schwarzen Gewande steckte, dessen Taschen mit Pergamentrollen vollgestopft waren. An seinem Gürtel hingen drei Ruten, ein Tintenhorn und Gänsefedern.
»Das ist Jean der Graubart, der Obergehilfe des Großen Coesre, der die Gesetze unseres Königreichs macht.«
»Und der Große Coesre selbst, wo ist er?«
»Im Karren.«
»Im Karren?« wiederholte Angélique verblüfft.
Sie reckte sich ein wenig, um besser zu sehen.
Der Karren hatte vor der Kanzel gehalten. Sie war, inmitten des Friedhofs, um einige Stufen erhöht und durch ein pyramidenförmiges Dach geschützt. Eben beugte sich der Idiot über den Karren, hob etwas heraus, ließ sich auf der obersten Stufe nieder und setzte das Ding auf seine Knie.
»Mein Gott!« stöhnte Angélique.
Sie erblickte den Großen Coesre. Es war ein Wesen mit einem monströsen Oberkörper, an dem die schwächlichen, weißen Beinchen eines zweijährigen Kindes hingen. Struppiges schwarzes Haar bedeckte den mächtigen Schädel, die tiefliegenden Augen unter den dichten Brauen schimmerten hart. Er trug einen dicken, schwarzen Schnurrbart mit aufgezwirbelten Spitzen.
»Hehe!« meckerte Barcarole, der sich an Angéliques Staunen weidete. »Du wirst merken, mein Herzchen, daß bei uns die Kleinen über die Großen herrschen. Weißt du auch, wer vermutlich Großer Coesre wird, wenn’s mit Rolin dem Kurzen zu Ende geht?«
Er flüsterte ihr ins Ohr: »Cul-de-Bois.«
Bedeutungsvoll nickend fuhr er fort:
»Das ist ein Naturgesetz. Man braucht Verstand, um über die Zunft zu regieren. Und daran fehlt’s, wenn man zuviel Beine hat. Was meinst du, Leichtfuß?«
Der so Angeredete lächelte. Er hatte sich eben gleichfalls auf den Rand des Grabes gesetzt und hielt eine Hand gegen die Brust gepreßt, als ob er dort Schmerzen habe. Es war ein noch ganz junger Mann von sanftem und schlichtem Wesen. Mit kurzatmiger Stimme erwiderte er:
»Du hast recht, Barcarole. Es ist besser, einen Kopf zu haben als Beine, denn wenn die Beine einen im Stich lassen, ist es aus.«
Verwundert betrachtete Angélique die Beine des jungen Mannes, die lang und muskulös waren.
Er lächelte melancholisch.
»Oh, sie sind noch immer da, aber ich kann nicht viel mit ihnen anfangen. Ich war Läufer bei Monsieur de La Sablière, und eines Tages, an dem ich an die zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, setzte mein Herz aus. Seitdem kann ich kaum mehr gehen.«
»Du kannst nicht mehr gehen, weil du zuviel gelaufen bist«, rief der Zwerg und schlug einen Purzelbaum. »Huhu, ist das komisch!«
»Halt’s Maul, Barco«, grollte eine Stimme, »du kotzt uns an.«
Eine kräftige Faust packte den Zwerg an seinem Kittel und schleuderte ihn auf einen Knochenhaufen.
Der Mann, der sich eingemischt hatte, wandte sich Angélique zu. Nach so viel Mißbildung und Grausen ringsum wirkte sein einnehmendes Äußere beruhigend auf sie. Sie konnte sein Gesicht nur undeutlich erkennen, da es durch einen großen, mit einer mageren Feder geschmückten Hut halb verdeckt wurde. Indessen ahnte sie regelmäßige Züge, große, dunkle Augen, einen wohlgeformten Mund. Er war jung und in der Vollkraft seiner Jahre. Seine sehr braune Hand ruhte auf der Scheide eines an seinem Gürtel befestigten kurzen Dolchs.
»Wem gehörst du, hübscher Vogel?« fragte er mit schmeichelnder Stimme, in der ein leichter fremdländischer Akzent mitklang.
Sie gab keine Antwort und starrte verächtlich in die Ferne.
Dort drüben, auf den Stufen der Kanzel, hatte man soeben vor dem Großen Coesre und dem hünenhaften Schwachsinnigen das kupferne Becken aufgestellt, das vorhin als Trommel benützt worden war. Und einer nach dem andern traten die Leute der Bettlerzunft herzu, um in dieses Becken den vom Fürsten geforderten Tribut zu werfen.
Jeder wurde nach seiner Spezialität veranlagt, und die Sols, die Silber- und Goldstücke fielen klirrend hinein. Der Mann mit der braunen Hautfarbe hatte Angélique nicht aus den Augen gelassen. Er beugte sich von neuem dicht zu ihr, streifte mit der Hand über ihre Schulter, und als sie eine abwehrende Geste machte, sagte er hastig:
»Ich bin Rodogone der Ägypter. Mir gehorchen siebentausend Kerle in Paris. Alle durchziehenden Zigeuner zahlen mir Abgaben, auch die braunen Weiber, die die Zukunft aus der Hand lesen. Willst du eins von meinen Weibern sein?«
Sie gab auch diesmal keine Antwort. Der Mond wanderte über den Glockenturm der Kirche und die Beinhäuser. Vor der Kanzel zogen nach den Deserteuren nun die falschen und echten Krüppel vorüber, die, die sich selbst verstümmeln, um das Mitleid der Vorübergehenden auf sich zu lenken, und die, die nach Feierabend Krücken und Verbände beiseite tun können. Deswegen hat man ihren Schlupfwinkel auch »Hof der Wunder« getauft.
Rodogone der Ägypter legte abermals seine Hand auf Angéliques Schulter. Diesmal machte sie sich nicht frei. Die Hand war warm und lebendig, und sie fror so sehr. Der Mann war stark, und sie war schwach. Sie wandte ihm ihren Blick zu und suchte im Schatten des Huts die Züge dieses Gesichts, das ihr keinen Abscheu einflößte. Sie sah das Weiße der Augen des Zigeuners leuchten. Er stieß einen Fluch zwischen den Zähnen hervor und lehnte sich an sie.
»Willst du >Marquise< sein? Ich glaube, ich könnte so weit gehen.«
»Würdest du mir dann helfen, jemand umzubringen?« fragte sie.
Der Bandit bog in häßlichem, stummem Gelächter den Kopf nach hinten.