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Sie starrte ihn an. Sie lag noch immer auf dem Bett aus alten Mänteln und war unfähig, sich zu bewegen. Durch eine vergitterte Schießscharte schwamm dichter Nebel wie Rauch in den Raum. Vielleicht war es deshalb, daß ihr diese zerlumpte Gestalt, dieser Herkules im Bettlergewand, der sich an die Brust schlug und sagte: »Ich bin Nicolas ... Ich bin Calembredaine!« wie ein Trugbild erschien.
Er begann auf und ab zu gehen, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»In den Wäldern läßt sich’s leben, solange es warm ist«, sagte er. »Im Wald von Mercœur kam ich mit einer Bande zusammen: ehemaligen Söldnern, früheren Bauern aus dem Norden, entwichenen Sträflingen. Sie waren gut organisiert. Ich hab’ mich mit ihnen zusammengetan. Wir fielen auf der Landstraße, die von Paris nach Nantes führt, über die Reisenden her und forderten Lösegeld von ihnen. Aber in den Wäldern läßt sich’s nur leben, solange es warm ist. Wenn der Winter kommt, muß man in die Städte zurück. Üble Sache. Wir waren in Tours, in Chateaudun. So sind wir vor Paris angekommen. Oh, die verfluchten Scherereien mit all den Bettlerjägern und Bütteln, die uns auf den Fersen waren! Denen, die sich an den Toren schnappen ließen, wurden die Augenbrauen und der halbe Bart abrasiert, und dann hieß es: »Hau ab, Geselle, zurück aufs Land, zurück zu deinem niedergebrannten Hof, zu deinen geplünderten Äckern und deinem Schlachtfeld! Oder aber du wirst ins Arbeitshaus oder gar ins Chätelet-Gefängnis gesteckt, wenn du nämlich in deiner Tasche ein Stück Brot hast, das die Bäckersfrau dir gab, weil sie schlecht anders konnte. Ich aber hab’ mir die günstigen Winkel gemerkt, um mich dünnzumachen, wenn’s not tut: die Keller, die von einem Haus zum andern gehn, Abflußlöcher, die in die Kloaken führen, und - da es Winter war - die eingefrorenen Zillen längs der Seine. Von einer Zille zur andern, hoppla! Und eines Nachts sind wir alle wie die Ratten in Paris eingedrungen .«
In unsicherem Ton sagte sie: »Wie konntest du so tief sinken?«
Er beugte sich mit zornverzerrtem Gesicht über sie.
»Und du?«
Angélique sah auf ihr zerrissenes Kleid. Ihr aufgelöstes, ungekämmtes Haar quoll unter einer Leinenhaube hervor, wie sie die Frauen aus dem Volke trugen.
»Das ist nicht dasselbe«, sagte sie.
Nicolas’ Zähne knirschten, er knurrte wie eine wütende Dogge.
»O doch! Jetzt ... ist es fast dasselbe. Verstehst du, Dirne!«
Angélique betrachtete ihn mit einem Ungewissen, fernen Lächeln .Ja, das war er. Sie sah ihn wieder ...
Nicolas, in der Sonne stehend, die plumpe Hand voller Walderdbeeren. Und auf dem Gesicht derselbe böse, rachsüchtige Ausdruck .Ja, das kam ihr allmählich in Erinnerung. So hatte er sich vorgebeugt . Ein linkischer, noch bäuerlicher Nicolas, aber schon mit dem Hauch des Besonderen umgeben in der Süße des Frühlingswäldchens . Leidenschaftlich wie ein lüsternes Tier, und dennoch hatte er seine Arme auf den Rücken gelegt, um nicht in Versuchung zu geraten, sie zu packen und ihr Gewalt anzutun. »Ich werd’s dir sagen . es hat in meinem Leben nur dich gegeben . Ich bin wie etwas, das nicht an seinem Platz ist und ewig umherschweift, ohne zu wissen . Mein einziger Platz warst du .« Keine üble Liebeserklärung für einen Bauernjungen. Aber in Wirklichkeit war sein richtiger Platz der, den er jetzt eingenommen hatte: Räuberhauptmann in der Hauptstadt ... Der Platz der Taugenichtse, die von den andern nehmen wollen, statt sich ihren Lebensunterhalt ehrlich zu verdienen. Das war schon damals zu ahnen, als er seine Kuhherde im Stich ließ, um das Vesperbrot der andern kleinen Hirten zu stehlen. Und Angélique war seine Komplicin.
Mit einem Ruck richtete sie sich auf und funkelte ihn aus ihren meergrünen Augen an.
»Ich verbiete dir, mich zu beschimpfen. Für dich bin ich nie eine Dirne gewesen. Und jetzt gib mir zu essen. Ich habe Hunger.«
Nicolas Calembredaine schien seine Aggressivität zu bereuen.
»Bleib liegen«, sagte er, »ich werde mich drum kümmern.«
Er ergriff einen Metallstab und schlug auf einen kupfernen Gong, der an der Wand blinkte. Alsbald waren eilige Schritte auf der Treppe zu hören, und ein Mann mit törichtem Gesicht erschien im Türrahmen.
»Ich stelle dir Jactance vor, einen meiner Taschendiebe. Er hat’s zuwege gebracht, sich erwischen und vergangenen Monat an den Schandpfahl stellen zu lassen. Fürs erste bleibt er ein Weilchen hier, bis die Leute von den Hallen seine Nase vergessen. Danach kriegt er eine Perücke auf den Schädel geklebt, und es heißt von neuem: Leute, paßt auf eure Geldbörsen auf! Was hast du in deinem Kochtopf, Nichtsnutz?«
Jactance schnupfte und fuhr sich mit dem Ärmel unter seiner feuchten Nase vorbei.
»Schweinsfüße, Chef, mit Kohl.«
»Bist selber ein Schwein«, fuhr Nicolas ihn an. »Ist das ein anständiges Essen für eine Dame?«
»Weiß nicht, Chef!«
»Es ist schon recht«, sagte Angélique ungeduldig.
Der Essensgeruch raubte ihr schier die Besinnung. Wahrhaft demütigend war dieser Hunger, unter dem sie in den entscheidendsten oder dramatischsten Augenblicken ihres Lebens litt. Und je dramatischer er war, desto mehr Hunger hatte sie!
Als Jactance mit einem wohlgefüllten Holznapf zurückkehrte, tänzelte der Zwerg Barcarole vor ihm her. Beim Eintreten schlug er einen Purzelbaum, dann vollführte er vor Angélique eine höfische Verbeugung, die durch seine winzigen, stämmigen Beine und den großen Hut einen recht grotesken Anstrich erhielt. Seinem unförmigen Kopf fehlte es weder an intelligenten Zügen noch an einer gewissen melancholischen Schönheit. Vielleicht hatte er deshalb, trotz seiner Mißgestalt, vom ersten Augenblick an auf Angélique sympathisch gewirkt.
»Ich hab’ den Eindruck, daß du mit deiner neuen Eroberung nicht unzufrieden bist, Calembredaine«, meinte er und zwinkerte Nicolas zu, »aber was wird die Marquise der Polacken dazu sagen?«
»Halt’s Maul, Knirps«, knurrte der Chef. »Mit welchem Recht dringst du in meinen Bau ein?«
»Mit dem Recht des treuen Dieners der Belohnung verdient! - Vergiß nicht, daß ich es war, der dir dieses hübsche Mädchen zugeführt hat, auf das du schon so lange in allen Winkeln von Paris lauerst.«
»Sie zu den Unschuldigen Kindlein zu bringen! Was für eine Idee! Um ein Haar hätte sie mir der Große Coesre oder Rodogone der Ägypter weggeschnappt.«
»Du mußtest sie dir ja erobern«, sagte der winzige Barcarole. »Wär’ mir ein schöner Chef, der sich nicht für seine Marquise schlägt! Und vergiß nicht, daß du die ganze Mitgift noch nicht bezahlt hast. Nicht wahr, meine Schöne?«
Angélique hatte nicht zugehört; sie aß gierig.
»Was willst du damit sagen, daß die Mitgift noch nicht bezahlt ist?« fragte Calembredaine mit gerunzelter Stirn.
»Teufel noch eins! Der Kerl, den sie umgelegt haben will! Der Mönch mit den schielenden Augen .«
Der Chef wandte sich Angélique zu.
»Stimmt das?«
Sie hatte zu hastig gegessen. Gesättigt und erschöpft hatte sie sich wieder auf den Mänteln ausgestreckt. Auf Nicolas’ Frage antwortete sie mit geschlossenen Augen:
»Ja, es muß sein.«
»Das ist nicht mehr wie recht und billig«, kreischte der Zwerg. »Die Hochzeit der Gauner muß mit Blut begossen werden. Huhu! Mit Mönchsblut ...!«
Vor einer drohenden Geste seines Chefs floh er behende und kichernd die Treppe hinunter. Calembredaine schlug die klapprige Tür mit einem Fußtritt zu.
Er blieb am Fußende des seltsamen Lagers stehen, auf dem die junge Frau ruhte, und betrachtete sie lange. Endlich schlug sie die Augen auf.
»Ist es wahr, daß du mich schon lange belauerst?«
»Ich hatte dich gleich ausfindig gemacht. Kannst dir vorstellen, mit all meinen Leuten bin ich rasch auf dem laufenden über jeden, der kommt, und ich weiß besser als sie selbst Bescheid über die Zahl der Juwelen und wie man bei ihnen einsteigen kann, wenn es vom Turm der Place de Grève Mitternacht schlägt. Du hast mich ja in den Drei Mohren gesehen .«
»Schuft, du!« murmelte sie erschauernd. »Oh, warum hast du gelacht, als du mich ansahst?«
»Weil ich begriff, daß du mir bald gehören würdest.«
Sie betrachtete ihn kühl, dann zuckte sie die Schultern und gähnte. Sie fürchtete Nicolas nicht, wie sie Calembredaine gefürchtet hatte. Sie war Nicolas immer überlegen gewesen. Wenn man vor einem Menschen Angst haben soll, darf man ihn nicht als Kind gekannt haben. Die Müdigkeit überwältigte sie. Matt fragte sie noch:
»Weshalb . weshalb hast du eigentlich Monteloup verlassen?«
»Das ist wirklich die Höhe!« rief er aus und verschränkte die Arme über der Brust. »Weshalb? Glaubst du vielleicht, ich hätte Lust gehabt, mich vom alten Wilhelm auf seiner Lanze aufspießen zu lassen . nachdem was zwischen dir und mir geschehen war?
Ich hab’ Monteloup am Abend deiner Hochzeit verlassen. Hattest du auch das vergessen?«
Ja, auch das hatte sie vergessen. Hinter ihren gesenkten Lidern erwachte die Erinnerung mit ihrem Geruch nach Stroh und Wein, dem auf ihr lastenden Gewicht von Nicolas’ muskulösen Körper und jenem quälenden Gefühl von Hast und Zorn, von Unbeendigtem.