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»Herr Pastor, ich will nicht bestreiten, daß die Feststellungen, die Ihr seit Eurer Rückkehr über gewisse Ausschreitungen engherziger Eiferer treffen konntet, richtig sind. Ich weiß Euch Dank, daß Ihr nicht einmal die Fälle erkaufter Konversion von Erwachsenen und Kindern erwähnt habt. Aber Ihr müßt wissen, daß, wenn sich solche Exzesse ereigneten, Seine Heiligkeit der Papst persönlich zu wiederholten Malen bei der hohen französischen Geistlichkeit und beim König Einspruch erhob. Öffentliche und geheime Kommissionen reisen durchs Land, um erwiesenes Unrecht wiedergutzumachen. Ich bin sogar überzeugt, wenn Ihr selbst nach Rom ginget und dem geistlichen Oberhaupt eine Liste mit genauen Angaben übergäbt, würde die Mehrzahl der wirklich festgestellten Mißstände beseitigt werden .«
»Junger Mann, es kommt mir nicht zu, mich um die Reform Eurer Kirche zu bemühen«, sagte der Pastor in scharfem Ton.
»Um so besser, Herr Pastor, dann werden wir selbst es tun - mit Eurer gütigen Erlaubnis!« rief der Jüngling in jähem Ungestüm aus. »Gott wird uns erleuchten.«
Angélique schaute ihren Bruder verwundert an. Nie hätte sie geahnt, daß sich hinter seinem einfältigen und ein wenig scheinheiligen Wesen solche Leidenschaft verbarg.
Nun war es der Pastor, der in Verlegenheit geriet. Um die peinliche Situation zu überbrücken, sagte Baron Armand lachend und ohne Bosheit:
»Bei diesen Erörterungen muß ich daran denken, daß ich in letzter Zeit oft bedauert habe, kein Hugenotte zu sein. Denn ein Edelmann, der zum Katholizismus übertritt, soll ja bis zu dreitausend Livres bekommen.«
Der alte Baron fuhr auf.
»Mein Sohn, verschont uns mit Euren plumpen Späßen. Sie sind im Angesicht eines Gegners unangebracht.«
Der Pastor hatte seinen feuchten Mantel vom Stuhl genommen.
»Ich war keineswegs als Gegner gekommen. Ich hatte mich auf Schloß Sancé eines Auftrages zu entledigen. Einer Botschaft aus fernen Ländern. Ich hätte gern mit Baron Armand unter vier Augen gesprochen, aber ich sehe, daß Ihr gewohnt seid, Eure Angelegenheiten offen mit der Familie zu behandeln. Ich schätze diesen Brauch. Es war derjenige der Patriarchen und auch der Apostel.«
Angélique bemerkte, daß ihr Großvater so weiß geworden war wie der Elfenbeinknauf seines Stocks und daß er sich an die Türfüllung lehnte. Sie empfand Mitleid mit ihm. Gern hätte sie den Worten Einhalt geboten, die noch kommen würden, aber schon fuhr der Pastor fort:
»Monsieur Antoine de Ridouët de Sancé, Euer Sohn, dem in Florida zu begegnen ich das Vergnügen hatte, hat mich gebeten, das Schloß aufzusuchen, in dem er geboren ist, und mich nach dem Ergehen seiner Familie zu erkundigen, damit ich ihm nach meiner Rückkehr berichten kann. Somit ist meine Aufgabe erfüllt .«
Der alte Edelmann hatte sich ihm mit kleinen Schritten genähert.
»Hinaus!« gebot er mit dumpfer, keuchender Stimme. »Niemals, solange ich lebe, soll der Name meines seinem Gott, seinem König, seinem Vaterland gegenüber meineidig gewordenen Sohnes unter diesem Dach genannt werden. Hinaus, sage ich Euch! Ich dulde keinen Hugenotten bei mir!«
»Ich gehe«, sagte der Pastor sehr ruhig.
»Nein!« Raymonds Stimme erklang von neuem. »Bleibt, Herr Pastor. Ihr könnt nicht in diese Regennacht hinaus. Kein Einwohner von Monteloup wird Euch Obdach gewähren, und das nächste protestantische Dorf ist weit entfernt. Ich bitte Euch, die Gastfreiheit meines Zimmers anzunehmen.«
»Bleibt«, sagte Josselin mit seiner rauhen Stimme, »Ihr müßt mir noch von Amerika und vom Meer erzählen.«
Der Bart des alten Barons zitterte.
»Armand«, rief er in tief unglücklichem Tone aus, der Angélique ins Herz schnitt, »hierin also hat sich der Geist der Empörung Eures Bruders Antoine geflüchtet. In diese beiden Jungen, die ich liebte. Gott will mir nichts ersparen. Ich habe wohl zu lange gelebt.«
Er schwankte. Wilhelm stürzte herzu und fing ihn auf Auf den alten Soldaten gestützt, tastete er hinaus und wiederholte mit zitternder Stimme:
»Antoine . Antoine .«
Ein paar Tage darauf starb der Großvater. Man wußte nicht, an welcher Krankheit. Still ging er hinüber, als man ihn bereits von der durch den Besuch des Pastors hervorgerufenen Aufwallung erholt glaubte. Der Schmerz über das Verschwinden Josselins blieb ihm erspart.
Eines Morgens nämlich, kurze Zeit nach der Bestattung, hörte Angélique, die noch im Halbschlaf dämmerte, wie jemand leise ihren Namen rief. Als sie die Augen öffnete, sah sie verwundert Josselin auf ihrer Seite des Bettes stehen. Sie mahnte ihn, Madelon nicht zu wecken, und folgte ihm in den Gang.
»Ich gehe fort«, flüsterte er. »Du wirst dich bemühen, es ihnen begreiflich zu machen.«
»Wohin gehst du?«
»Zuerst nach La Rochelle. Von dort aus werde ich mich nach Amerika einschiffen. Pastor Rochefort hat mir von all jenen Ländern erzählt, von den Antillen, Neuengland und auch von den Kolonien Virginia, Maryland, Carolina, dem neuen Herzogtum York und Pennsylvanien. Ich werde schon irgendwohin kommen, wo man mich haben will.«
»Hier will man dich doch auch haben«, sagte sie jammernd. Sie schlotterte in ihrem winzigen, fadenscheinigen Nachthemd.
»Nein«, erklärte er, »für mich gibt’s in dieser Welt hier keinen Platz. Ich habe es satt, einer Klasse anzugehören, die wohl Privilegien besitzt, aber keinen Daseinszweck. Ob reich oder arm, die Adligen wissen absolut nicht mehr, wozu sie nütze sind. Sieh dir Papa an! Er tappt im dunkeln herum. Er erniedrigt sich und züchtet Maultiere, aber er wagt nicht, diese demütigende Situation auszunützen, um durch das Geld seinen adligen Namen wieder zu Ansehen zu bringen. Schließlich und endlich verliert er auf beiden Ebenen. Man deutet mit dem Finger auf ihn, weil er wie ein Pferd arbeitet, und auf uns ebenfalls, weil wir trotzdem noch vornehme Bettler sind. Glücklicherweise hat mir Onkel Antoine de Sancé den Weg gezeigt. Er war der ältere Bruder Papas. Er ist Hugenotte geworden und hat den Kontinent verlassen.«
»Du willst doch nicht deinen Glauben abschwören?« fragte sie erschrocken.
»Nein. Die Bigotterie interessiert mich nicht. Ich will leben.«
Er küßte sie hastig, lief ein paar Stufen hinunter, wandte sich um und warf einen besorgten und erfahrenen Blick auf seine halbnackte junge Schwester. »Du wirst schön und kräftig, Angélique. Sieh dich vor. Du solltest auch fortgehen, sonst findest du dich über kurz oder lang mit einem Stallknecht im Heu wieder. Oder du wirst das Eigentum eines der grobschlächtigen Schweine von Krautjunkern, die wir zu Nachbarn haben.«
Mit plötzlicher Zärtlichkeit fügte er hinzu:
»Glaub an meine Erfahrungen in dieser Hinsicht, Liebes, es wäre ein furchtbares Leben für dich. Mach dich auch von diesen alten Mauern frei. Was mich anbelangt, ich gehe aufs Meer hinaus.«
Er sprang die Treppe hinunter, indem er zwei Stufen auf einmal nahm, und war verschwunden.
»Machst du dir einen Begriff von all den Sorgen und Unannehmlichkeiten, die ich mir um euret- und im besonderen um deinetwillen auf den Hals lade?« fragte Baron Armand Angélique.
Es war einige Monate nach dem Verschwinden Josselins. Angélique war auf einem Spaziergang ihrem Vater begegnet, der auf einem Baumstumpf saß, während sein Pferd neben ihm graste.
»Geht es mit den Maultieren nicht, Vater?«
»Doch, doch. Das ist es nicht. Aber ich komme eben vom Verwalter Molines. Schau, Angélique, deine Tante Pulchérie hat uns, deiner Mutter und mir, klargemacht, daß es unmöglich ist, dich länger auf dem Schloß zu behalten. Wir müssen dich ins Kloster schicken. So habe ich mich zu einem recht demütigenden Schritt entschlossen, den ich um jeden Preis vermeiden wollte. Ich habe Molines aufgesucht und ihn gebeten, mir das Darlehen für meine Familie zu gewähren, das er mir angeboten hatte.«
Seine Stimme klang gedämpft und traurig, als sei etwas in ihm zerbrochen, als habe ihn etwas noch Schmerzlicheres betroffen als der Tod seines Vaters und das Verschwinden seines Sohns.
»Armer Papa!« murmelte Angélique.
»An sich ist da ja nichts Schlimmes dabei«, fuhr der Baron fort. »Was mich aber beunruhigt, ist, daß mir Molines’ Hintergedanken verborgen bleiben.
Er hat für sein neuerliches Darlehen merkwürdige Bedingungen gestellt.«
»Welche Bedingungen, Vater?«
Er schaute sie nachdenklich an und streichelte mit seiner schwieligen Hand über ihr wundervolles dunkelgoldenes Haar.
»Es ist seltsam, daß es mir leichter fällt, mich dir anzuvertrauen als deiner Mutter. Du bist ein arger Wildfang, aber du scheinst schon fähig zu sein, alles zu verstehen. Freilich habe ich geahnt, daß Molines bei dieser Mauleselgeschichte auf seinen Vorteil bedacht war, aber ich verstand nie recht, warum er sich dabei an mich und nicht an einen gewöhnlichen Roßhändler aus der Umgegend wandte. Offenbar ist es meine Stellung als Adliger, die ihn interessiert. Er hat mir heute gesagt, er rechne auf mich, um durch meine Adelsbeziehungen vom Generalintendanten der Finanzen die völlige Steuerbefreiung für ein Viertel unserer Maultierproduktion zu erreichen und außerdem das verbriefte Recht, dieses Viertel nach England oder Spanien zu exportieren, sobald der Krieg mit diesen Ländern beendigt ist.«
»Aber das ist doch ein großartiges Geschäft!« rief Angélique begeistert aus. »Auf der einen Seite Molines, bürgerlich und gerissen, auf der andern Ihr, adlig ...«
»Und nicht gerissen«, ergänzte der Vater lächelnd.
»Nein: unerfahren. Aber Ihr habt Beziehungen und Titel. Ihr werdet bestimmt Erfolg haben. Ihr sagtet neulich selbst, der Transport der Maultiere ins Ausland erscheine Euch unmöglich bei all diesen Steuern und Zöllen, die zu den Transportkosten hinzukommen. Und gegen dieses Viertel der Produktion wird der Oberintendant auch gewiß nichts einzuwenden haben! Was macht Ihr mit dem Rest?«