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Er stopfte seine Perücke und die Augenbinde in die Tasche.
»Ich will mich drunten unkenntlich machen.«
Als er hinausgegangen war, rollte sie sich zusammen und versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Es war empfindlich kalt in dem runden Raum, aber sie hatte sich gut eingepackt und empfand es nicht. Die fahle Wintersonne warf rechteckige Lichtflecke auf die grauen, grob zubehauenen Wände.
Ihr Körper war erschöpft und schmerzte, und doch empfand sie etwas wie Wohlbehagen.
»Es tut gut«, sagte sie sich. »Es ist, als ob Hunger und Durst gestillt sind. Man denkt an nichts mehr. Es tut gut, an nichts mehr zu denken.«
Neben ihr funkelte der Diamant des Ringes. Sie lächelte. Nun ja, diesen Nicolas würde sie eben an der Nase herumführen!
Wenn Angélique später dieser Zeiten gedachte, in denen sie in die tiefsten Niederungen hinabgestiegen und in die schlimmsten Scheußlichkeiten verwickelt worden war, pflegte sie nachdenklich und kopfschüttelnd zu murmeln: »Ich war verrückt.«
Und das war es vielleicht auch wirklich, was ihr ermöglichte, in dieser grausigen und erbärmlichen Welt zu leben. Es war wie ein Aussetzen der Sinnesfunktionen, wie der Schlaf des Tieres, das sich vor dem Winter schützt. Ihre Bewegungen und Handlungen ergaben sich aus primitiven Reflexen. Sie wollte essen, wollte es warm haben. Das fröstelnde Bedürfnis nach Schutz drängte sie an Nicolas’ harte Brust und machte sie seinen brutalen und herrischen Umarmungen gefügig.
Sie war die Beute eines zum Banditen gewordenen Knechts, der eifersüchtig, der vor Stolz närrisch war, ihr Herr zu sein, und trotzdem fürchtete sie ihn nicht, ja, sie fand sogar einigen Geschmack an den überströmenden Gefühlen, die er ihr entgegenbrachte.
Seine Freunde waren Mörder und Bettler, seine Wohnung altes Gemäuer, Kähne, Spelunken; seine einzige Welt schließlich war jener gefürchtete, unzugängliche Bezirk des Hofs der Wunder, wohin die Offiziere des Châtelet und die Gerichtsbüttel sich nur am hellen Tage wagten. Und dennoch geschah es, daß Angélique nach jenem geflüsterten »Ich war verrückt« später zuweilen nachdenklich wurde bei der Erinnerung an die Zeit, da sie neben dem berüchtigten Calembredaine über die alten Befestigungswerke und die Brücken von Paris geherrscht hatte.
Es war Nicolas’ Idee gewesen, die Reste der von Karl V. um das mittelalterliche Paris aufgeführten Stadtmauer durch ihm ergebene Strolche und Bettler »einnehmen« zu lassen. Seit drei Jahrhunderten hatte die Stadt ihren steinernen Gürtel gesprengt. Die Mauern des rechten Ufers waren fast völlig verschwunden; die auf dem linken Ufer existierten noch, zerfallen, von Efeu überwuchert, aber voller Rattenlöcher und Schlupfwinkel. Um sie in Besitz zu nehmen, hatte Nicolas Calembredaine einen wohlüberlegten, tückischen und hartnäckigen Krieg geführt, bei dessen Strategie Cul-de-Bois, sein Berater, eine Gerissenheit entwickelt hatte, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.
Zuerst hatte man hier und dort verlauste Kinder mit ihren zerlumpten und keifenden Müttern untergebracht, von der Sorte, wie sie der Armenbüttel nicht verjagen kann, ohne ein ganzes Stadtviertel in Aufruhr zu versetzen.
Dann erschienen die Bettler auf der Bildfläche: Greise und Greisinnen, Krüppel, Blinde, die sich mit wenigem zufrieden gaben, mit einer Mauerlücke, in die das Wasser tropfte, einer einstigen Statuennische, einem Kellerwinkel. Dann hatten die ehemaligen Soldaten mit ihren Degen und mit alten Nägeln geladenen Musketen gewaltsam die besten Orte in Anspruch genommen, die noch bewohnbaren Wachtürme und Torgebäude mit geräumigen Sälen und unterirdischen Gewölben. In ein paar Stunden hatten sie die Handwerkerfamilien vertrieben, die dort billige Unterkunft zu finden hofften. Die armen Leute, die mit den Behörden auf gespanntem Fuße standen, wagten nicht, sich zu beschweren, und waren froh, wenn sie wenigstens ein paar Möbel mitnehmen konnten und mit heiler Haut davonkamen.
Indessen verliefen diese Unternehmungen nicht immer so harmlos. Es gab eine bestimmte Kategorie von »Widerspenstigen« unter den Besitzern. Das waren die Mitglieder anderer Banden der Gaunerzunft, die sich weigerten, den Platz zu räumen. Es kam zu fürchterlichen Kämpfen, für deren Heftigkeit die in Lumpen gehüllten Leichen zeugten, die die Seine in der Morgendämmerung wieder an ihre Ufer spülte.
Am schwersten war die Eroberung des alten Nesle-Turms gewesen, der sich mit seinen ungefügen Zinnen im Winkel der Seine und der alten Gräben erhob. Doch als man sich dort häuslich niederließ - welch ein Wunder! Ein wahres Schloß .!
Calembredaine erkor ihn zu seiner Zufluchtsstätte.
Und da nun stellten die anderen Anführer der Gaunerzunft fest, daß dieser Neuankömmling unter den »Brüdern« das ganze Universitätsviertel und die Umgebung der einstigen Tore von Saint-Germain, Saint-Michel, Saint-Victor bis zum Seineufer beherrschte.
Die Studenten, die sich mit Vorliebe auf dem Pré-aux-Clercs duellierten, die Kleinbürger, die sonntags den Gründling in den ehemaligen Stadtgräben angelten, die schönen Damen, die ihre Freundinnen im Faubourg Saint-Germain oder ihre Beichtväter im Val de Grâce aufsuchen wollten, konnten nicht früh genug ihre Börsen zücken. Ein Schwarm von Bettlern vertrat ihnen den Weg, hielt ihre Pferde auf, versperrte den Kutschen die enge Durchfahrt durch die Tore.
Die Bauern und die Reisenden, die von auswärts kamen, mußten neuerlich Zoll an die Straßenräuber zahlen, die jäh vor ihnen auftauchten, obwohl sie sich längst mitten in Paris befanden. So erweckten die Leute des Calembredaine die alte Stadtmauer Karls V zu neuem Leben, indem sie den Durchlaß fast ebenso erschwerten wie zu den Zeiten, als noch die Zugbrücken aufgezogen und wieder herabgelassen wurden.
Während sie sich in Begleitung von Barcarole oder Cul-de-Bois durch diese Pariser Unterwelt bewegte, wurde Angélique allmählich mit dem System der Räubereien und Erpressungen vertraut, das ihr einstiger Spielgefährte mit so viel Bedacht geschaffen hatte.
»Du bist noch gerissener, als ich dachte«, sagte sie eines Abends zu ihm. »Du hast mehr als Stroh in deinem Kopf.«
Und sie strich ihm mit der Hand über die Stirn.
Solche Gesten, an die er so gar nicht gewöhnt war, brachten den Banditen außer Fassung. Er zog sie auf seine Knie.
»Da staunst du, wie? Hättst es von einem Mistschaufler wie mir nicht erwartet? Aber ein Mistschaufler bin ich nie gewesen, hab’ ich nie sein wollen .« Er spuckte verächtlich auf die Fliesen.
Sie saßen vor dem Kamin des großen Saals in der Tour de Nesle. Hier versammelten sich die Genossen Calembredaines und eine Menge zerlumpten Volks, um ihrem Potentaten ihre Aufwartung zu machen. Wie allabendlich herrschte lärmendes Treiben, und die Gewölbe hallten vom Geklapper der Zinnbecher, von den Flüchen und Rülpsern der Strolche wider. Vor dem prasselnden Feuer, das mit gestohlenen Reisigbündeln genährt wurde, schmiegte sich Angélique in Calembredaines harte Arme. Es gab keine Unze Fett an diesem athletischen Körper. Der kleine Junge von einstmals, der wie ein Eichhörnchen auf die Bäume geklettert war, hatte sich zu einem Herkules mit mächtigen und festen Muskeln ausgewachsen. An seinen breiten Schultern konnte man noch die bäuerliche Herkunft erkennen, wenn er auch längst den Lehm von den Schuhen abgeschüttelt hatte. Er war ein Wolf der Städte geworden, geschmeidig und behende. Wenn seine Arme sich um Angélique schlossen, hatte sie das Gefühl, in einem eisernen Ring gefangen zu sein, den keine Gewalt zu sprengen vermochte. Je nach ihrer Laune wehrte sie sich, oder sie legte mit katzenartiger Bewegung ihr Gesicht an Nicolas’ rauhe Wange. Sie genoß es, wenn sie diese Raubtieraugen aufglimmen sah und sie sich ihrer eigenen Macht bewußt wurde.
Der Stolz, sie zu besitzen, den dieser Mann empfand, war zugleich kränkend und erregend. »Du warst eine Adlige . Du warst mir versagt«, pflegte er zu sagen, »und ich, ich sagte mir: Ich kriege sie . Und ich wußte, daß du kommen würdest . Und jetzt gehörst du mir.«
Sie beschimpfte ihn, aber sie verteidigte sich matt. Ihre Vertrautheit hatte zu tiefe Wurzeln.
»Weißt du, woran ich dachte?« sagte Nicolas. »All die Ideen, auf die ich in Paris gekommen bin, haben mich an unsre gemeinsamen Abenteuer und Unternehmungen erinnert. Wir haben sie immer gründlich vorbereitet, weißt du noch? Nun, als es hieß, all dies hier zu organisieren, sagte ich mir .«
Er hielt inne, um nachzudenken, und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ein junger Bursche namens Flipot, der zu seinen Füßen kauerte, reichte ihm einen Becher Wein.
»Ist schon recht«, brummte Calembredaine und wies den Becher zurück. »Stör uns nicht. Siehst du«, fuhr er fort, »ich sagte mir manchmal: Was hätte Angélique gemacht? Was hätte sie in ihrem klugen Köpfchen ausgeheckt? Und das half mir .«
Er zögerte, dann wagte er eine Liebkosung, wobei er scheu ihre Miene beobachtete. Es war Angéliques Stärke, daß er nie wußte, wie sie seine Zärtlichkeiten aufnehmen würde. Wegen eines Kusses sprang sie ihn mit blitzenden Augen an, drohte sie, sich vom Turm hinabzustürzen, überschüttete sie ihn mit dem Vokabular eines Heringsweibs, das sie sich in beachtlicher Geschwindigkeit angeeignet hatte.
Sie schmollte tagelang und war so abweisend, daß es Beau-Garçon die Sprache verschlug und daß Barcarole ihr aus dem Wege ging. Dann versammelte Calembredaine seine Bande, und jedermann fragte sich betreten, woher diese üble Laune rührte.
Zu andern Stunden wiederum konnte sie sanft und heiter, ja geradezu zärtlich sein. Dann erkannte er sie wieder. Ja, das war sie! Sein ewiger Traum! Das Kind Angélique, das barfuß, in zerrissenen Kleidern, mit Halmen in den Haaren durch die Gegend tollte.
Und ein andermal wurde sie passiv und wie geistesabwesend, sich in alles fügend, was er von ihr wollte, doch so gleichgültig, daß er beunruhigt und verängstigt von ihr ließ. Wirklich ein seltsames Wesen, diese Marquise der Engel .!
Dabei war sie keineswegs berechnend. Ihre erschütterte Nervenkraft ließ sie zwischen extremen Gemütsverfassungen schwanken, zwischen Verzweiflung, Entsetzen und stumpfer oder fast beglückter Hingabe. Aber ihr weiblicher Instinkt hatte ihr die einzig mögliche Art der Verteidigung vorgeschrieben. Wie sie den kleinen Bauerntölpel Merlot unterjocht hatte, so gängelte sie den Banditen, der er geworden war - und entging der Gefahr, durch allzu große Fügsamkeit oder Anmaßung seine Sklavin oder sein Opfer zu werden. Mehr noch als durch heftige Verweigerung steigerte sie durch zögernde Hingabe seine Ergebenheit. Und Nicolas’ Leidenschaft wurde täglich verzehrender.
Angesichts dieser Lage tobte die Polackin vor Wut. Calembredaines bisherige Mätresse konnte ihre plötzliche »Absetzung« nicht verwinden, und das um so weniger, als Calembredaine sie mit der Grausamkeit der echten Tyrannen zu Angéliques Dienerin bestimmt hatte. Sie mußte ihrer Rivalin das heiße Wasser hinaufbringen, mit dem sie sich wusch, eine in der Gaunerwelt so wunderliche Angewohnheit, daß man bis zum Faubourg Saint-Denis davon sprach. In ihrem Zorn verschüttete die Polackin jedesmal die Hälfte des kochenden Wassers auf ihre Füße, aber der einstige Knecht genoß bei seinen Leuten eine solche Autorität, daß sie der gegenüber, die ihr den Liebhaber abspenstig gemacht hatte, kein Wort zu äußern wagte.
Angélique empfing die Dienste und haßerfüllten Blicke des plumpen, braunen Mädchens mit unerschütterlichem Gleichmut. Die Polackin war ein Soldatenmädchen, eine von denen, die im Krieg den Heeren folgen. Sie hatte mehr Erinnerungen an Schlachtengetümmel als ein alter schweizerischer Söldner. Sie konnte überall mitreden, wenn es um Kanonen, Hakenbüchsen und Lanzen ging, denn sie hatte mit allen militärischen Dienstgraden Verhältnisse gehabt. Sie hatte während eines ganzen Feldzugs über ein polnisches Regiment geherrscht, und daher stammte ihr Spitzname. Am Gürtel trug sie ein Messer, das sie bei jeder Gelegenheit zückte, und sie stand im Ruf, aufs trefflichste mit ihm umgehen zu können.
Wenn sie des Abends auf dem Grunde ihres Weinkrugs angelangt war, begann die Polackin, Soldatenlieder zu singen und die »Früheren«, die ehemaligen Krieger, abzuküssen.
Wieder nüchtern geworden, vergaß sie ihre kriegerischen Weisen und dachte nur noch daran, Calembredaine zurückzuerobern. Dabei bot sie alle Mittel ihres skrupellosen Charakters und vulkanischen Temperaments auf.
Nach ihrer Meinung, so erklärte sie, werde Calembredaine ohnehin bald dieses Mädchens überdrüssig sein, das kaum lachte und dessen Augen einen manchmal nicht zu sehen schienen. Gewiß, sie waren Landsleute. Das verbindet; aber sie kannte ihren Calembredaine. Auf die Dauer würde ihm das nicht genügen. Nun ja, und eigentlich wollte sie, die Polackin, auch weiter nichts als an ihm teilhaben. Zwei Frauen, das war für einen Mann schließlich nicht viel. Der Große Coesre hatte sechs .!
Das unvermeidliche Drama kam zum Ausbruch. Es war kurz, aber heftig.
Eines Abends hatte Angélique Cul-de-Bois in dem Schlupfwinkel in der Nähe des Pont Saint-Michel aufgesucht, wo er hauste. Sie hatte ihm eine Wurst gebracht. Cul-de-Bois war das einzige Mitglied der Bande, vor dem sie eine gewisse Achtung empfand. Aber er quittierte ihre Aufmerksamkeiten mit der mürrischen Miene einer Bulldogge, die dergleichen als selbstverständlich empfindet.
Als er an diesem Abend argwöhnisch die Wurst beschnuppert hatte, sah er Angélique forschend an und fragte:
»Wohin willst du jetzt?«
»Nach Nesle.«
»Nein. Schau unterwegs beim Schankwirt Ramez am Pont-Neuf vorbei. Calembredaine ist dort mit den Leuten und der Polackin.«
Er wartete eine Weile, wie um ihr Zeit zu lassen, die Sache zu begreifen, dann sagte er nachdrücklich:
»Hast du kapiert, was du tun sollst?«
»Nein.«