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»Holla, Bursche, bißchen kühl, hier zu träumen!«
Da er sich nicht rührte, drehten sie ihn um. Er trug eine Maske aus rotem Samt. Sein langer, weißer Bart floß ihm über die Brust. Der kegelförmige, mit roten Bändern besteckte Hut, der gestickte Bettelsack, die ebenfalls mit abgenutzten und verschmutzten Bändern festgeschnürten Schuhe waren die eines italienischen Gauklers, eines jener Schausteller, die mit ihren dressierten Tieren aus dem Piemont kommen und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wandern.
Er war tot. Der Affe, der sich immer noch an Angélique klammerte, stieß jammervolle Schreie aus.
Die junge Frau bückte sich und nahm die rote Maske ab. Die Augen in dem abgezehrten Greisengesicht waren glasig.
»Bleibt nichts übrig, als ihn den Wellen zu überliefern«, sagte einer der beiden Schiffer. Doch der andere, der sich scheu bekreuzigte, meinte, man müsse einen Priester von Saint-Germain-des-Pres holen und dem armen fremden Mann ein christliches Begräbnis zukommen lassen.
Angélique verließ sie still und setzte ihren Weg nach der Tour de Nesle fort. Sie drückte das Äffchen fest an sich. Sie erinnerte sich jetzt. In den »Drei Mohren« hatte sie es zum erstenmal gesehen. Der Affe hatte alle Gäste dadurch zum Lachen gebracht, daß er ihre Art, zu trinken und zu essen, nachahmte. Und Gontran hatte, auf den alten Italiener deutend, zu Angélique gesagt: »Schau doch, ist das nicht wunderbar, diese rote Maske und der funkelnde Bart .?«
Sie erinnerte sich auch, daß sein Herr den Affen Piccolo genannt hatte.
»Piccolo!«
Der Affe stieß einen tieftraurigen Schrei aus und schmiegte sich an sie. Erst eine ganze Weile später wurde Angélique sich bewußt, daß sie die rote Maske in der Hand behalten hatte.
Mittlerweile war Monsieur de Mazarin gestorben. Nachdem er nach Vincennes gebracht worden war und sein Vermögen dem König vermacht hatte, dem er es verdankte, war er mit einem letzten Seufzer aus diesem Leben geschieden, das er nach seinem wirklichen Wert einschätzte, weil er seine verschiedensten Möglichkeiten kennengelernt hatte.
Seine größte Leidenschaft, die Macht, vererbte er seinem königlichen Zögling. Mühsam hatte er sein gelblich verfärbtes Gesicht zum König erhoben und ihm flüsternd den Schlüssel zur absoluten Macht des Monarchen übergeben:
»Keinen ersten Minister, keinen Günstling. Ihr allein, der Herr .«
Dann war der Italiener, ohne sich um die Tränen der Königin-Mutter zu kümmern, entschlafen. Der Westfälische Friede mit Deutschland, der Pyre-näische Friede mit Spanien, der unter der Ägide Frankreichs durch ihn zustande gekommene Friede der Nordstaaten wachten an seinem Totenbett.
Der kleine König der Fronde, des Bürgerkriegs und der auswärtigen Kriege, der kleine König mit der von den Großen seines Reichs bedrohten Krone erschien von nun an in Europa als der König der Könige.
Ludwig XIV. ließ in den Kirchen vierzig Stunden lang beten und legte Trauer an. Der Hof mußte seinem Beispiel folgen. Das ganze Königreich murmelte vor den Altären für den verhaßten Italiener, und zwei Tage lang läutete die Totenglocke über Paris.
Dann, nachdem er die letzten Tränen eines jungen Herzens vergossen hatte, das nicht mehr empfindsam sein wollte, machte sich Ludwig XIV. mit königlicher Gewissenhaftigkeit an die Arbeit.
Als er im Vorzimmer dem Präsidenten der Kirchenversammlung begegnete, der ihn fragte, an wen man sich künftighin in Angelegenheiten zu wenden habe, die bisher der Herr Kardinal zu regeln pflegte, antwortete der König: »An mich, Herr Erzbischof.«
»Keinen ersten Minister . Keinen allmächtigen Günstling . Der Staat bin ich, meine Herren.«
Die Minister standen verblüfft vor diesem jungen Mann, dessen Vergnügungssucht andere Hoffnungen in ihnen erweckt hatte. Wie beaufsichtigte Angestellte überreichten sie ihre Dossiers.
Der Hof lächelte skeptisch. Der König hatte sich ein Programm aufgestellt, das alle seine Beschäftigungen in peinlich genauer Tageseinteilung umfaßte, Bälle und Mätressen, vor allem aber die Arbeit, eine angespannte, beharrliche, gewissenhafte Arbeit. Man zuckte die Schultern. Es würde nicht lange dauern, sagte man.
Es dauerte fünfzig Jahre lang.
Auf der andern Seite der Seine führte Angélique unter dem Schutz Calembredaines und in der Freundschaft Cul-de-Bois’ ein freies und behütetes Leben.
Sie war unberührbar. Sie hatte ihren Tribut entrichtet, indem sie die Gefährtin eines Strolchs geworden war. Die Gesetze der Gaunerwelt sind streng. Man wußte, daß Calembredaines Eifersucht kein Erbarmen kannte, und Angélique konnte sich mitten in der Gesellschaft lasterhafter und gefährlicher Männer wie La Pivoine oder Gobert befinden, ohne auch nur eine zweideutige Geste befürchten zu müssen. Einerlei, was für Gelüste sie erregen mochte, solange der Chef das Interdikt nicht aufhob, gehörte sie ausschließlich ihm.
So bestand ihr dem äußeren Anschein nach armseliges Leben fast nur aus ausgiebigem Schlaf und ziellosen Wanderungen durch Paris. Es gab immer genug zu essen für sie, und in der Tour de Nesle konnte sie sich beim Heimkommen am Kaminfeuer aufwärmen.
Sie hätte sich anständig anziehen können, denn zuweilen brachten die Einbrecher schöne Kleider mit, die nach Iris und Lavendel dufteten. Aber es lag ihr nichts daran. Sie trug noch immer dasselbe Kleid aus braunem Wollstoff, dessen Rockjetzt ausgefranst war. Dieselbe leinene Haube hielt ihr Haar zusammen. Aber die Polackin hatte ihr einen besonderen Gürtel gegeben, an dem sie ihr Messer befestigen konnte und den sie unter ihrem Mieder verbarg.
»Wenn du willst, bring’ ich dir bei, wie man damit umgeht«, hatte sie vorgeschlagen. Seit der Geschichte mit der Zinnkanne bezeigten sie einander eine gewisse Achtung, die sich allmählich in Freundschaft wandelte.
Tagsüber ging Angélique selten aus, und sie entfernte sich nie weit. Instinktiv nahm sie die Lebensgewohnheiten ihrer Gefährten an, denen die Bürger und Büttel in schweigendem Übereinkommen die Nacht überließen.
Und es geschah in einer Nacht, daß die Vergangenheit zu ihr zurückkehrte und sie so grausam weckte, daß sie beinahe daran zugrunde gegangen wäre.
Calembredaines Bande plünderte ein Haus in der Vorstadt Saint-Germain. Die Nacht war mondlos, die Straße schlecht beleuchtet. Nachdem es Tord-Serrure, einem Burschen mit flinken Fingern, gelungen war, eine kleine Dienertür aufzudrücken, drangen sie ohne sonderliche Behutsamkeit ein.
»Das Haus ist groß und wird nur von einem Greis mit seiner Magd bewohnt, die ganz oben schläft«, erklärte Nicolas. »Wir können unser Werk in aller Bequemlichkeit verrichten.«
Und nachdem er seine Blendlaterne angezündet hatte, führte er sie in den Salon. Pain-Noir, der bettelnderweise oft hierhergekommen war, hatte ihm die Lage der Räume genau erklärt.
Angélique folgte ihnen. Es war nicht das erstemal, daß sie so in ein erbrochenes Haus eindrang. Im Anfang hatte Nicolas sie nicht mitnehmen wollen. »Es könnte dir was passieren«, sagte er.
Aber sie hatte ihre eigenen Absichten dabei. Sie folgte ihnen nicht, um zu stehlen. Es genügte ihr, den Geruch der schlafenden Häuser wiederzufinden. Teppiche, gewachste Möbel, Küchen- oder Backstubendüfte ... Sie nahm Nippsachen in die Hand und stellte sie wieder zurück. Nie wurde eine Stimme in ihr laut, die ihr sagte: »Was tust du da, Angélique de Peyrac?« Außer in jener Nacht, da Calembredaine das Haus des Gelehrten Glazer in der Vorstadt Saint-Germain ausplünderte.
Angéliques Hand war auf einer Konsole einem mit Kerzen versehenen Leuchter begegnet. Sie entzündete sie an der Laterne der andern, die ihre Säcke vollpackten, und als sie im Hintergrund des Raums eine kleine Tür gewahrte, stieß sie sie neugierig auf.
»Sackerment!« flüsterte die Stimme Prudents hinter ihr. »Was ist ’n das?«
Die Flammen spiegelten sich in dicken Glaskugeln mit langen Schnäbeln, ineinander verschlungenen Kupferrohren, blanken Steinguttöpfen mit lateinischen Aufschriften, farbigen Phiolen der verschiedensten Art.
»Was ist ’n das?« wiederholte Prüdem verdutzt.
»Ein Laboratorium.«
Ganz langsam trat Angélique näher und blieb vor einer gemauerten Bank stehen, auf der ein kleines Kohlenbecken und eine Retorte standen.
Sie nahm jede Einzelheit wahr. Ein kleines Päckchen lag da, mit rotem Wachs versiegelt, auf dem sie las: »Für Monsieur de Sainte-Croix.« Dann in einer offenen Schachtel eine Art weißen Pulvers. Angéliques Nase witterte. Der Geruch war ihr nicht fremd.
»Und das«, fragte Prudent, »ist das Mehl? Es riecht gut. Riecht nach Knoblauch .«
Er nahm eine Prise des Pulvers zwischen die Finger und führte sie zum Mund. Instinktiv riß sie ihm die Hand herunter. Blitzartig trat ihr eine Vision vor die Augen: Fritz Hauer, der ihr zurief: »Gift, gnädige Frau.«
»Laß sein, Prudent. Das ist Gift, Arsenik.«
Sie schaute verstört umher.
»Gift?« wiederholte Prudent fassungslos und wich zurück. Dabei warf er eine Retorte um, die zu Boden fiel und klirrend zerbrach.
Hastig verließen sie den seltsamen Raum. Der Salon war leer. Da die andern ihren Raubzug beendet hatten, waren sie gegangen.
Man hörte einen Stock auf die Fliesen des oberen Stockwerks stoßen, und eine Greisenstimme rief durch das Treppenhaus:
»Marie-Josephe, Ihr habt wieder vergessen, die Katzen einzusperren. Es ist unerträglich. Ich muß hinuntergehen und nachsehen.«
Dann beugte er sich über das Geländer und rief: