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»Verflucht. Das ist sie nicht. Das ist nicht die Marquise der Engel.«
Die Häscher fluchten im Chor.
»Woher wißt Ihr’s, Monsieur?« wagte einer von ihnen zu fragen.
»Ich hab’ sie schon mal gesehen. Man hat sie mir eines Tages auf dem Pont-Neuf gezeigt. Dieses Mädchen sieht ihr ähnlich, aber sie ist es nicht.«
»Nehmen wir sie auf jeden Fall mit. Sie kann uns die eine oder andere kleine Auskunft geben.«
Desgray schien in Ratlosigkeit nachzudenken.
»Übrigens, da hat etwas nicht gestimmt«, sagte er. »Sorbonne irrt sich nie. Nun, er hat sich in diesem Mädchen nicht festgebissen. Er blieb ein paar Schritte vor ihr stehen ... was beweist, daß sie nicht gefährlich ist.«
Er schloß mit einem Seufzer:
»Pech gehabt. Zum Glück habt ihr wenigstens zwei Einbrecher geschnappt. Wo hatten sie’s getrieben?«
»Rue du Petit-Lion, bei einem alten Apotheker namens Glazer.«
»Gehen wir dorthin zurück. Vielleicht finden wir da eine Spur.«
»Und das Mädchen, was soll mit ihm geschehen?«
Desgray schien zu zögern.
»Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, sie laufenzulassen. Jetzt, wo ich ihren Kopf kenne, werde ich sie nicht mehr vergessen. Das kann mir von Nutzen sein.«
Die Häscher ließen die junge Frau los und verschwanden mit gewaltigem Sporengeklirr aus der Finsternis.
Angélique glitt aus dem Lichtkreis. Dicht an den Häusermauern entlangschleichend, empfand sie das Untertauchen im Dunkel als namenlose Erleichterung.
Am Brunnen erkannte sie einen weißen Fleck und hörte den Hund Sorbonne trinken. Der Schatten Desgrays war neben ihm.
Angélique erstarrte von neuem. Sie sah Desgray seinen Mantel heben und eine Bewegung in ihre Richtung machen. Etwas Hartes fiel vor ihren Füßen nieder.
»Da«, rief die Stimme des Polizisten, »ich geb’ es dir zurück, ein Mordinstrument. Ich hab’ noch nie ein Mädchen bestohlen. Außerdem kann’s für eine junge Dame, die zu solcher Stunde spazierengeht, ganz nützlich werden. Also guten Abend, Spatz.«
».«
»Sagst du nicht guten Abend?«
Sie nahm all ihren Mut zusammen und hauchte:
»Guten Abend.«
Sie lauschte eine Weile dem Geräusch, das die derben Nagelstiefel des Polizisten Desgray auf dem Pflaster verursachten. Dann begann sie planlos durch Paris zu irren.
Als der Morgen dämmerte, befand sie sich am Rande des Quartier Latin, in der Nähe der Rue des Bernardins. Über den Dächern der düsteren Kollegiengebäude begann der Himmel sich rosig zu verfärben. In den Dachfenstern schimmerte der Widerschein der Kerzen, die den frühaufgestandenen Studenten bei ihren ersten Schritten in den neuen Tag hinein leuchteten.
Angélique taumelte vor Müdigkeit. Sie ging barfüßig, denn sie hatte ihre alten Schuhe verloren. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung wie erstarrt.
Als sie den Quai de la Tournelle erreichte, nahm sie den Geruch frischen Heus wahr. Das erste Heu des Frühlings. Zillen reihten sich da mit ihrer leichten und duftenden Ladung aneinander. Sie sandten einen Schwall warmen Weihrauchs in die Pariser Morgendämmerung, das Aroma tausend getrockneter Blüten, die Verheißung schöner Tage.
Sie schlich zur Uferböschung. Ein paar Schritte entfernt wärmten sich die Schiffer an einem Feuer und sahen sie nicht. Sie watete ins Wasser und schwang sich auf einen der Kähne. Dann wühlte sie sich wollüstig ins Heu. Unter der Plane war der Duft noch berauschender: feucht, warm und gewitterschwanger wie ein Sommertag. Woher dieses frühe Heu wohl kam? Von einem stillen und reichen, fruchtbaren, von der Sonne verwöhnten Landstrich. Dieses Heu brachte die friedliche Weite luftiger Horizonte mit sich und auch das Mysterium eingeschlossener Täler, die die Wärme speichern und mit ihr die Erde nähren.
Angélique streckte sich mit verschränkten Armen aus. Ihre Augen waren geschlossen. Sie tauchte unter; sie ertrank im Heu. Sie trieb auf einer Wolke zarter und intensiver Düfte dahin, und sie spürte ihren zerschlagenen Körper nicht mehr. Monteloup hüllte sie ein und trug sie an seinem Busen fort. Der Wind streichelte sie. Langsam schwebte sie der Sonne entgegen. Sie ließ die Nacht mit ihren Schrecken hinter sich. Die Sonne streichelte sie. Sehr lange war sie so nicht mehr gestreichelt worden.
Sie war die Beute des ungestümen Calembredaine gewesen; sie war die Gefährtin des Wolfs gewesen, der es zuweilen während seiner kurzen Umschlingungen zuwege gebracht hatte, ihr einen Schrei animalischer Wollust zu entreißen, ein Röcheln des vergewaltigten Tiers. Aber ihr Körper war der Süße der Liebkosung entwöhnt.
Sie trieb Monteloup entgegen und fand im Heu den Geruch der Erdbeeren wieder. Über ihre heißen Wangen, über ihre trockenen Lippen ließ das Wasser des Bachs kühle Liebkosungen regnen. Sie öffnete den Mund und seufzte: »Noch mehr!«
In ihrem Schlaf rannen Tränen über Angéliques Gesicht und verloren sich in ihren Haaren: keine Tränen des Kummers, Tränen allzu großer Süße.
Sie streckte sich, gab sich ganz den neugeschenkten Liebkosungen hin und ließ sich gehen, eingelullt von den raunenden Stimmen der Felder und Wälder, die ihr ins Ohr flüsterten:
»Weine nicht . Weine nicht, mein Kindchen . Es ist nichts . das Böse ist überstanden . Weine nicht, Armes.«
Angélique schlug die Augen auf. Im Halbdunkel unter dem Schutzdach entdeckte sie neben sich im Heu eine Gestalt. Zwei spöttische Augen betrachteten sie. Sie stammelte: »Wer seid Ihr?«
Der Unbekannte legte den Finger auf die Lippen. »Ich bin der Wind. Der Wind eines kleinen Erdenwinkels im Berry. Als sie das Gras mähten, haben sie mich mitgemäht . Man hat mich mit dem Heu in eine Zille gebracht, und nun bin ich hier in Paris. Komische Sache - für einen kleinen Landwind.«
»Aber ...«, sagte Angélique. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Der junge Mann war in einen schäbigen, an manchen Stellen sogar zerrissenen schwarzen Anzug gekleidet. Er trug einen zerschlissenen Leinenkragen, und der Gürtel seines Rocks unterstrich noch seine Magerkeit. Aber er hatte ein reizvolles, trotz des bleichen Teints fast schön zu nennendes Gesicht. Sein großer, beweglicher Mund schien dazu geschaffen, unaufhörlich zu reden und über alles und nichts zu lachen. Seine Züge waren nie entspannt. Er schnitt Grimassen, lachte und entfaltete eine höchst differen-zierte Mimik. Dieser wunderlichen Physiognomie verlieh ein weißblonder Haarschopf, dessen Fransen über die Augen hingen, etwas Naiv-Bäuerliches, zu dem der gerissene Ausdruck der Augen nicht passen wollte.
Während sie ihn musterte, redete er pausenlos weiter: »Was kann ein kleiner Wind wie ich in Paris tun? Ich, der ich’s gewohnt bin, um die Hecken zu blasen, ich werde unter die Röcke der Damen blasen und eine Ohrfeige dafür beziehen . Ich werde die Hüte der Pfaffen entführen, und man wird mich exkommunizieren. Man wird mich in die Türme von Notre-Dame sperren, und ich werde die Glocken verkehrt herum läuten . Welch ein Skandal!«
»Aber .«, wiederholte Angélique und versuchte, sich aufzurichten. Aber er drückte sie sofort nieder.
»Rühr dich nicht . Pst!«
»Es wird ein leicht übergeschnappter Student sein«, sagte sie sich.
Er streckte sich wieder aus und streichelte ihre Wange, während er flüsterte. »Weine nicht mehr.«
»Ich weine nicht«, sagte Angélique. Aber sie spürte, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war.
»Auch ich schlafe gern im Heu«, fuhr der andere fort. »Als ich in die Zille schlüpfte, entdeckte ich dich. Du hast im Schlaf geweint. Da hab’ ich dich gestreichelt, um dich zu beruhigen, und du hast gesagt: >Noch mehr!<«
»Ich?«
»Ja. Ich hab’ dein Gesicht getrocknet und gese-hen, daß du sehr schön bist. Deine Nase ist von der Feinheit jener Muscheln, die man am Strand findet, weißt du? Die so weiß und zart sind, daß sie wie durchsichtig wirken. Deine Lippen sind Blütenblätter der Waldrebe. Dein Hals ist rund und glatt .«
Angélique lauschte wie in einem Wach träum. Ja, wirklich, es war sehr lange her, daß jemand so zu ihr gesprochen hatte. Es schien aus weiter Ferne zu kommen, und sie hatte fast Angst, daß er sich über sie lustig machte. Wie konnte er sagen, daß sie schön war, da sie sich doch so abgerissen und beschmutzt fühlte nach dieser Nacht, in der sie erkannt hatte, daß sie nie mehr den Zeugen ihrer Vergangenheit würde ins Gesicht sehen können!