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Es war besser, nicht mehr daran zu denken. Später, wenn sie erst einmal diesen fürchterlichen Tiefpunkt überwunden hatte, würde sie sich wieder mit Desgray beschäftigen und sich fragen: »Hat er mich in jener Nacht erkannt? Nein, sicherlich nicht. Er hätte mir nicht mein Messer zurückgegeben . Er hätte nicht in diesem grauenhaft ordinären Ton mit mir geredet . Nein, er hat mich nicht erkannt . Ich hätte mich zu Tode geschämt!«
Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand in die Haare, um die trockenen Grashalme zu entfernen. Später würde sie darüber nachdenken. Aber im Augenblick wollte sie nicht den Reiz der eben erlebten Stunden zerstören. Sie seufzte in einem leichten Bedauern. War sie tatsächlich im Begriff gewesen, Nicolas zu betrügen?
Die Marquise der Engel zuckte die Schultern und lachte boshaft auf. Einen Liebhaber solcher Art konnte man nicht betrügen. Nichts verband sie mit Nicolas
- außer der Knechtschaft ihres Elends.
Sie wartete eine Weile und ließ sich dann ihrerseits vom Heu herabgleiten.
Als sie das Wasser berührte, fand sie es kalt, aber nicht eisig, und indem sie sich umschaute, wurde sie vom Licht geblendet, und sie erkannte, daß es Frühling geworden war.
Hatte nicht der Student von Blumen und Früchten auf dem Pont-Neuf gesprochen?
Angélique entdeckte wie durch Zauberschlag das Aufblühen der milden Jahreszeit.
Der mit Feuchtigkeit getränkte Himmel war rosig angehaucht, und die Seine trug ihre silberne Rüstung. Auf ihrer glatten, ruhigen Oberfläche glitten Kähne mit leise plätschernden Rudern dahin. Flußabwärts antworteten die Bleuel der Wäscherinnen dem Klippklapp der Mühlenschiffe.
Sich vor den Blicken der Schiffer verbergend, wusch Angélique sich im kalten Wasser, das angenehm auf der Haut prickelte. Nachdem sie sodann ihre Kleider wieder angelegt hatte, folgte sie dem Uferweg und erreichte den Pont-Neuf.
Die Worte des Unbekannten hatten ihre Lebensgeister aus dem Winterschlaf geweckt. Zum erstenmal sah sie den Pont-Neuf in all seinem Glanz. Er war die schönste Brücke von Paris, und auch die bevorzugteste, denn sie verband auf dem kürzesten Weg die beiden Seineufer mit der Ile de la Cité.
Angélique drängte sich durch die müßig herumlungernde Menge und blieb vor jeder Bude stehen: vor dem Spielwarenhändler, dem Geflügelhändler, dem Tinten- und Farbenverkäufer, dem Marionettenspieler, dem Hundescherer, dem Zauberkünstler. Sie entdeckte Pain-Noir mit seinem Bauchladen, Mort-aux-Rats mit seinen aufgespießten Ratten an der Samaritaine-Ecke und Mutter Hurlurette und Vater Hurlurot.
Inmitten einer Gruppe von Müßiggängern kratzte der alte Blinde auf seiner Fiedel, während sein Weib ein sentimentales Lied plärrte, das von einem Gehenkten handelte, von einem Leichnam, dessen Augen die Raben fraßen, und von allen möglichen grauslichen Dingen, denen die Leute gesenkten Kopfs und augenwischend lauschten. Das Henken und die Prozessionen, das waren die richtigen Schauspiele für die Pariser Kleinbürger, Schauspiele, die nichts kosteten und bei denen man sich zutiefst bewußt wurde, daß man einen Körper und eine Seele besaß.
Als die Alte ihr Lied mit einem hohen Tremolo beendet hatte, befeuchtete sie ihren dicken Daumen und begann, kleine Blätter zu verteilen, von denen sie einen ganzen Packen unter dem Arm hielt, während sie schrie:
»Wer will noch einen Gehenkten?«
Als sie bei Angélique anlangte, ließ sie einen freudigen Ausruf hören.
»He, Hurlurot, da ist ja das Vögelchen! Na, dein Kerl macht seit heut morgen ein schönes Theater! Er sagt, der verfluchte Hund habe dich erwürgt. Er will alle Gauner und Strolche von Paris aufs Châtelet hetzen. Und dabei treibt sich die Marquise quietschvergnügt auf dem Pont-Neuf rum .!«
»Warum auch nicht?« erwiderte Angélique hochmütig. »Was tut Ihr denn anderes?«
»Ich arbeite«, sagte die Alte geschäftig. »Das Lied da, was meinste, was das einbringt! Ich sag’ immer zum Schmutzpoeten: >Gebt mir Gehenkte. Nichts bringt mehr ein als Gehenkte.< Da, willste einen? Kriegst ihn umsonst, weil du unsere Marquise bist.«
»Es gibt Würstchen für Euch heut abend in der Tour de Nesle«, versprach Angélique.
Der zähe Strom der Müßiggänger schwemmte sie davon. Im Gehen las sie das Blättchen. Unten in der Ecke stand jene Unterschrift, die sie bereits kannte: Der Schmutzpoet. Ein bitteres Haßgefühl stieg in Angélique hoch.
Ihr Blick glitt zu dem Bronzepferd auf dem Postament hinüber. Dort, zwischen den Hufen des Pferdes; so hatte man ihr gesagt, pflegte sich der Poet des Pont-Neuf zuweilen schlafen zu legen. Die Strolche respektierten seinen Schlaf. Im übrigen gab es bei ihm nichts zu stehlen. Er war ärmer als der ärmste Gauner, immer umherirrend, immer ausgehungert, immer verfolgt und immer und überall sein Gift verspritzend.
»Warum hat ihn eigentlich noch niemand umgebracht?« dachte Angélique. »Ich brächte ihn bestimmt um, wenn ich ihm begegnete. Aber ich möchte ihm vorher sagen, weshalb .«
Sie knüllte angeekelt das Papier zusammen und warf es in den Fluß.
Der gute, bronzene König Heinrich IV. glänzte in der Sonne und lächelte auf einen Wald roter und rosafarbener Schirme hinab. Die Blumenfrauen des Pont-Neuf ließen sich hier am frühen Morgen nieder. Während die jüngeren sich mit ihren Körben geschickt durch die Menge schlängelten und ihre duftende Ware anboten, bewachten die älteren im Schatten der Sonnenschirme ihre festen Stände.
Eine dieser Frauen forderte Angélique auf, ihr beim Blumenbinden zu helfen, und da sie sich ihrer Aufgabe mit Geschmack entledigte, gab sie ihr zwanzig Sols.
»Du bist ja wohl schon zu alt, um das Lehrmädchen zu spielen«, sagte sie, nachdem sie sie gemustert hatte, »aber wenn du bei mir arbeiten willst, werden wir uns schon einig.«
Angélique schüttelte den Kopf, hielt die zwanzig Sols krampfhaft in der Hand und ging davon. Sie kaufte zwei Krapfen bei einem Zuckerbäcker und verschlang sie, während sie sich unter die Gaffer mischte, die vor dem Karren des Großen Matthieu aus vollem Halse lachten.
Unbezahlbarer Großer Matthieu! Er hatte sich gegenüber König Heinrich IV installiert und fürchtete weder dessen Lächeln noch Majestät.
Von einer auf vier Rädern ruhenden und von einer Balustrade umgebenen Plattform aus redete er mit donnernder Stimme auf die Menge ein, daß es vom einen Ende des Pont-Neuf zum andern schallte. Sein Privatorchester, das sich aus drei Musikern zusammensetzte - einem Trompeter, einem Trommler und einem Beckenschläger -, begleitete seine Reden und übertönte mit seinem Höllenlärm das Stöhnen der Patienten, denen er die Zähne zog.
Enthusiastisch, ausdauernd, von sagenhafter Kraft und Geschicklichkeit, wurde der Große Matthieu stets auch mit den widerspenstigsten Zähnen fertig, indem er den Patienten niederknien ließ und ihn dann mit seiner Zange hochzog. Worauf er sein taumelndes Opfer sich den Mund beim Branntweinhändler spülen hieß.
Zwischen zwei Kunden wanderte der Große Matthieu mit wehender Hutfeder, die doppelte Zahnkette auf der Brust, auf der Plattform hin und her, wobei ihm sein mächtiger Säbel an die Hacken schlug, und rühmte sein großes Wissen und die Wirksamkeit seiner Drogen, Pulver, Elixiere und Salben jeglicher Art, die unter reichlicher Beimengung von Butter, öl und Wachs aus harmlosen Kräutern zusammengebraut wurden.
»Ihr Herren und Damen, hier seht Ihr die berühmteste Persönlichkeit der Welt, einen Virtuosen seines Fachs, die Leuchte der Medizin, den direkten Nachfolger des Hippokrates, den Erforscher der Natur, die Geißel aller Fakultäten, Ihr seht vor Euern Augen einen methodischen, hippokratischen, pathologischen, chemischen, spagyrischen, empirischen Arzt. Ich heile die Soldaten aus Gefälligkeit, die Armen um Gotteslohn und die reichen Kaufleute für Geld. Ich bin weder Doktor noch Philosoph, aber meine Salben leisten ebenso gute Dienste wie die Philosophen und Doktoren, denn Erfahrung ist nützlicher als Wissenschaft. Ich habe hier eine Pomade, den Teint zu bleichen: Sie ist weiß wie Schnee, wohlriechend wie Balsam und Moschus. Ich habe da auch eine Salbe von unschätzbarem Wert, denn merkt auf, Ihr galanten Herren und galanten Damen
- diese Salbe schützt diejenigen, die sie anwenden, vor den heimtückischen Dornen des Rosenstrauchs der Liebe.«
Und mit erhobenem Arm begann er emphatisch zu deklamieren:
»Kommt, Ihr Herren, und kaufet ein dies unvergleichlich Pülverlein!
Wunder wirkt es, Ihr sollt sehn, alle Leiden macht’s vergehn.
Und es gibt Verstand dem Toren, sei er noch so dumm geboren.
Altes Weib kriegt schmucken Schatz,
Lustgreis einen jungen Fratz!«
Dieser poetische Erguß, den er unter gewaltigem Augenrollen zum besten gab, brachte Angélique zum Lachen. Er erkannte sie und zwinkerte ihr freundschaftlich zu.
»Ich habe gelacht. Warum hab’ ich eigentlich gelacht?« fragte sich Angélique. »Es ist doch völlig unsinnig, was er da erzählt.«
In diesem Augenblick sprach ein Mann sie an.
»Schönes Kind«, sagte er, »ich sehe, daß du zwar guter Laune bist, aber nicht gerade reich. Willst du dir zwanzig Livres verdienen?«
»Womit?« fragte sie, nachdem sie ihn gemustert hatte.
»Mein Herr ist ein vornehmer Fremder, der zum erstenmal nach Paris kommt. Er brennt so sehr darauf, die intimen Reize der Pariserinnen kennenzulernen, daß er mich sofort weggeschickt hat, um eine lustige und wohlgestalte Gefährtin für die Nacht aufzutreiben. Ich bin zum Pont-Neuf gegangen, weil ich wußte, daß man hier die größte Auswahl hat. Du bekommst Schuhe, ein Kleid, ein gutes Abendessen und zwanzig Livres. Ich bemerke, daß mein Herr kein Graubart ist, sondern jung und von angenehmem Äußeren, wenn auch ein bißchen korpulent. Paßt dir die Sache?«
»Keineswegs.«
»Willst du, daß ich mit deinem Zuhälter rede?«
Angélique stieß einen kleinen Pfiff aus, wie die Rotwelschen es tun, wenn sie ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen wollen.