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»Weine nicht«, wiederholte Angélique. »All das wird einmal enden ... ja, ich glaube bestimmt, daß es enden wird. Noch nicht, das weiß ich wohl, aber der Tag wird kommen. Du kannst das nicht verstehen, Barbe. Es ist wie ein infernalischer Kreis, dem man nur durch den Tod entrinnen kann. Aber ich fange an zu glauben, daß ich ihm dennoch entrinnen werde. Weine nicht, Barbe, du gutes Kind .«
Am nächsten Morgen wanderte Angélique über die Landstraße nach Longchamp. Sie hatte die Stadt durch das Tor von Saint-Honoré verlassen, und nachdem sie einer durch schachbrettartige Anpflanzungen führenden Promenade gefolgt war, die man die Champs-Elysees nannte, erreichte sie das Dorf Neuilly, wo sich, wie Barbe gesagt hatte, die Kinder befanden. Sie wußte noch nicht, was sie tun würde. Vielleicht sie aus der Ferne beobachten. Und wenn sich Florimond beim Spielen ihr nähern sollte, würde sie versuchen, ihn durch eine Leckerei zu sich zu locken.
Sie ließ sich das Haus der Mutter Mavaut zeigen, und als sie sich ihm näherte, sah sie Kinder, die im Staub unter der Obhut eines ungefähr dreizehnjährigen Mädchens spielten. Die Kinder waren ziemlich verschmutzt und ungepflegt, wirkten aber gesund.
Vergeblich bemühte sie sich, unter ihnen Florimond zu erkennen, und als eine große, kräftige Frau in Holzpantinen aus dem Hause trat, entschloß sie sich in der Annahme, die Amme vor sich zu haben, den Hof zu betreten.
»Ich möchte gern zwei Kinder besuchen, die Euch von Madame Fallot de Sancé anvertraut wurden.«
Die Bäuerin, eine derbe, braune, fast männlich wirkende Frau, musterte sie mit unverhohlenem Mißtrauen.
»Bringt Ihr uns endlich das schuldig gebliebene Geld?«
»Ist man Euch denn Pflegegeld schuldig geblieben?«
»Und ob!« polterte die Frau los. »Mit dem, was Madame Fallot mir gegeben hat, als ich sie holte, und was ihre Magd mir später brachte, hab’ ich sie grade einen Monat ernähren können. Und seitdem hab’ ich keinen Sol mehr gesehen. Ich bin nach Paris gegangen, um zu reklamieren, aber sie waren verzogen. Das sind so die Manieren dieser Schwarzröcke von Staatsanwälten!«
»Wo sind sie?« fragte Angélique.
»Wer sie?«
»Die Kinder.«
»Was weiß denn ich?« sagte die Amme achselzuk-kend. »Ich hab’ grade genug zu tun mit den Knirpsen derer, die bezahlen.«
Das Mädchen, das herangekommen war, sagte lebhaft: »Der Kleinere ist dort drüben. Ich zeige ihn Euch.«
Sie durchquerte vor Angélique die niedrige Stube des Bauernhauses und führte sie in den Stall, in dem zwei Kühe standen. Hinter der Raufe deckte sie eine Kiste ab, in der Angélique der Dunkelheit wegen nur mit Mühe ein ungefähr sechs Monate altes Kind erkannte. Es war nackt, abgesehen von einem Tuchfetzen über dem Bauch, an dessen einem Ende es gierig saugte. Angélique packte den Rand der Kiste und zog sie in den Raum, um besser sehen zu können.
»Ich hab’ ihn in den Stall getan, weil es da nachts wärmer ist als im Vorratsraum«, flüsterte das Mädchen. »Er hat überall Schorf, aber er ist nicht mager. Ich melke morgens und abends die Kühe, da geb’ ich ihm jedesmal ein bißchen was ab.«
Völlig niedergeschmettert betrachtete Angélique das Kind. Das konnte doch nicht Cantor sein, diese häßliche, mit Pusteln und Ungeziefer bedeckte kleine Larve. Außerdem war Cantor mit blonden Haaren zur Welt gekommen, während das Kind vor ihr braune Locken hatte. In diesem Augenblick erwachte es und schlug seine klaren, wunderschönen Augen auf.
»Er hat die gleichen grünen Augen wie Ihr«, sagte das Mädelchen. »Seid Ihr am Ende gar seine Mutter?«
»Ja, ich bin seine Mutter«, sagte Angélique mit tonloser Stimme. »Wo ist der Ältere?«
»Er muß in der Hundehütte sein.«
»Javotte, kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten!« rief die Bäuerin herüber.
Sie beobachtete mit feindseliger Miene, was die beiden taten, mischte sich aber nicht ein, vielleicht weil sie hoffte, daß diese Frau mit dem armseligen Äußeren am Ende doch Geld mitgebracht hatte.
Die Hundehütte war von einem offensichtlich sehr bösartigen Köter besetzt. Javotte mußte die ver-schiedensten Lockmittel anwenden, um ihn zum Herauskommen zu veranlassen.
»Flo versteckt sich immer hinter Patou, weil er Angst hat.«
»Wovor Angst?«
Das Mädchen sah sich scheu um. »Daß man ihn schlägt.«
Es zog etwas aus dem Hintergrund der Hütte hervor. Eine schwarze, haarige Kugel wurde sichtbar.
»Aber das ist ja auch ein Hund!« rief Angélique aus.
»Nein, das sind seine Haare.«
Freilich, ein solcher Schopf konnte nur dem Sohn Joffreys de Peyrac gehören. Doch unter dieser dichten, dunklen Wolle war noch ein armseliger zum Skelett abgemagerter und mit Lumpen bedeckter kleiner Körper.
Angélique kniete auf die Erde und strich mit zitternder Hand das struppige Haar zurück. Sie machte das abgezehrte, bleiche Gesichtchen frei, in dem zwei aufgerissene, schwarze Augen glänzten. Trotz der Hitze zitterte das Kind unausgesetzt am ganzen Leibe. Seine zarten Knochen traten hervor, und seine Haut war rauh und schmutzig.
Angélique richtete sich auf und trat auf die Amme zu.
»Ihr habt sie hungern lassen«, sagte sie ruhig und bestimmt. »Ihr habt sie verkommen lassen ... Seit Monaten haben diese Kinder keine Pflege, keine Nahrung bekommen. Nur die Reste des Hundes oder die paar Bissen, die dieses Mädchen sich von seinem kümmerlichen Essen abgespart hat. Ihr seid eine ganz gemeine Person!«
Die Bäuerin war puterrot geworden. Sie verschränkte die Arme über ihrem Mieder.
»Na, Ihr macht mir ja Spaß!« rief sie wutschnaubend aus. »Man lädt mir Bälger auf den Hals, ohne zu zahlen, man verschwindet, ohne eine Adresse anzugeben, und nun soll ich mich auch noch von so einem Bettelweib, so einer Herumtreiberin beschimpfen lassen!«
Ohne auf sie zu hören, war Angélique ins Haus zurückgekehrt. Sie erwischte einen Lumpen, der vor dem Herd hing, nahm Cantor und packte ihn sich auf den Rücken, indem sie ihn durch das um ihre Brust geknüpfte Tuch auf die gleiche Art festhielt, wie die Zigeuner es mit ihren Kindern tun.
»Was habt Ihr vor?« fragte die Amme, die ihr nachgegangen war. »Wollt Ihr sie etwa mitnehmen, wie? Dann gebt mir erst das Geld.«
Angélique wühlte in ihren Taschen und warf ein paar Geldstücke auf den Boden. Die Bäuerin lachte höhnisch auf.
»Zehn Livres! Das ist zum Lachen - wo man mir mindestens dreihundert schuldet. Los, bezahle, oder ich hetze die Hunde auf dich.«
In ihrer vollen Größe pflanzte sie sich mit ausgestreckten Armen vor der Tür auf. Angélique griff in ihr Mieder und zog den Dolch hervor. Die Klinge Rodogones des Ägypters funkelte im Halbdunkel genauso bedrohlich wie ihre grünen Augen.
»Verzieh dich«, sagte Angélique mit dumpfer Stimme, »verzieh dich, oder ich stech’ dich ab.«
Als die Bäuerin die Rotwelschausdrücke hörte, wurde sie bleich. Man kannte vor den Toren von Paris nur zu gut die Verwegenheit der Landstreicherinnen und ihr Geschick, mit dem Messer umzugehen.
Verängstigt wich sie zurück. Angélique schob sich an ihr vorbei, die Spitze des Dolchs auf sie gerichtet, wie die Polackin es sie gelehrt hatte.
»Ruf nicht! Hetz weder Hunde noch das Bauerngesindel auf mich, sonst kommt Unglück über dich. Morgen brennt dein Haus nieder ... Und du, du wachst mit gespaltener Kehle auf... Verstanden?«
In der Mitte des Hofes angelangt, barg sie den Dolch wieder in ihrem Gürtel, nahm Florimond auf den Arm und machte sich eilends auf den Rückweg nach Paris, wo sie für ihre beiden halbtoten Kinder keine andere Zuflucht hatte als Ruinen und das finstere Wohlwollen von Bettlern oder Banditen.
Kutschen begegneten ihr und hüllten sie in Wolken von Staub, der an der schweiß nassen Haut ihres Gesichts haftenblieb. Aber sie verlangsamte ihren Schritt nicht; sie spürte ja kaum das - allzu leichte
- Gewicht ihrer doppelten Bürde.
»Ich muß dem eines Tages entrinnen«, dachte Angélique. »Ich muß meine Kinder wieder ins Leben zurückzuführen.«