142424.fb2 Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 136

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Als Angélique mit ihren Kindern in der Tour de Nesle erschien, wurde Calembredaine weder zornig noch eifersüchtig, wie sie gefürchtet hatte, aber in seinem groben, dunklen Gesicht drückte sich Entsetzen aus.

»Du bist verrückt, deine Kinder hierherzubringen«, sagte er. »Hast du nicht gesehen, was man hier mit den Kindern macht? Willst du, daß man sie sich ausleiht, um sie betteln zu schicken? Daß die Ratten sie fressen? Daß Jean-Pourri sie stiehlt .?«

Verzweifelt ob dieser unerwarteten Vorwürfe, klammerte sie sich an ihn.

»Wohin sollte ich sie denn bringen, Nicolas? Sieh doch, was man aus ihnen gemacht hat . Sie sind ja schier verhungert! Ich hab’ sie nicht hierhergebracht, daß man ihnen Böses antut, sondern damit du sie unter deinen Schutz nimmst, Nicolas.«

Sie schmiegte sich wie verloren an ihn und schaute ihn an, wie sie es noch nie getan hatte. Aber er achtete nicht auf sie. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich kann sie nicht ewig beschützen . diese kleinen Kinder von adligem Blut. Ich kann es nicht.«

»Warum? Du bist stark, man fürchtet dich.«

»So stark bin ich nicht. Du hast an mein Herz gerührt. Wenn bei unsereinem das Herz mitspricht, können wir einpacken. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und sage zu mir: >Calembredaine, sieh dich vor! Zum Galgen ist’s nicht mehr weit .<«

»Sprich nicht so, wenn ich dich ein einziges Mal um etwas bitte. Nicolas, mein Nicolas, hilf mir meine Kinder retten!«

Man nannte sie »die kleinen Engel«. Von Calembredaine beschützt, teilten sie das umsorgte Leben Angéliques inmitten des Elends und Verbrechens. Sie schliefen in einem großen, mit weichen Mänteln und feinen Laken ausgelegten Lederkoffer. Jeden Morgen bekamen sie ihre frische Milch. Für sie paßte Rigobert oder La Pivoine die Bäuerinnen ab, die sich, die kupferne Kanne auf den Köpfen tragend, zum Milchmarkt begaben. Bald mochten die Milchfrauen nicht mehr den Weg an der Seine entlang benutzen. Bis nach Vaugirard mußte man gehen, um ihnen zu begegnen. Schließlich merkten sie, daß sie sich mit einem Krug Milch loskaufen konnten, und die »Früheren« brauchten nicht einmal mehr ihre Degen zu ziehen.

Florimond und Cantor hatten Angéliques Lebensgeister geweckt. Gleich nach ihrer Rückkehr aus Neuilly brachte sie sie zum Großen Matthieu. Sie wollte eine Salbe für Cantors Wunden. Und für Florimond ...? Was konnte man tun, um diesem ausgemergelten kleinen Körper neues Leben einzuhauchen?

Die Polackin begleitete sie. Der Große Matthieu hob den purpurroten Vorhang, der seine »Bühne« unterteilte, und ließ sie, als handle es sich um vornehme Damen, in sein Privatkabinett eintreten, in dem es inmitten eines unwahrscheinlichen Wirrwarrs von künstlichen Gebissen, Suppositorien, Zangen, Puderdosen, Kochtöpfen und Straußeneiern zwei ausgestopfte Krokodile zu sehen gab.

Der Meister bestrich höchst eigenhändig Cantors Haut mit einer selbstverfertigten Salbe und versprach, in acht Tagen werde nichts mehr zu sehen sein. Die Prophezeiung bewahrheitete sich: Der Schorf fiel ab, und es kam ein rundliches, sanftes Kerlchen mit weißer Haut und braunem, gelocktem Haar zum Vorschein, dessen Munterkeit nichts zu wünschen übrigließ.

Was Florimond betraf, so schaute der Große Matthieu wesentlich bedenklicher drein. Behutsam nahm er den Jungen an sich, untersuchte ihn, machte kleine Späßchen mit ihm und gab ihn Angélique zurück. Dann kratzte er sich verdutzt das Kinn. Angélique war mehr tot als lebendig.

»Was fehlt ihm denn?«

»Nichts. Er muß essen; sehr wenig im Anfang. Später so viel er kann. Vielleicht kriegt er dann wieder ein bißchen was auf die Knochen.«

»Als ich ihn verließ, konnte er sprechen und gehen«, sagte sie verzweifelt. »Jetzt spricht er kein Wort mehr und kann sich kaum auf den Beinen halten.«

»Wie alt war er, als du ihn verließest?«

»Zwanzig Monate, nicht ganz zwei Jahre.«

»Das ist ein böses Alter, um leiden zu lernen«, sagte der Große Matthieu nachdenklich. »Besser, es passiert früher, gleich nach der Geburt. Oder später. Aber solche kleinen Wesen, die eben den ersten Blick in die Welt tun, dürfen nicht zu jäh vom Schmerz überfallen werden.«

Angélique hob ihre tränenverschleierten Augen zum Großen Matthieu. Sie fragte sich, woher dieser gewöhnliche, lärmende Mann von so zarten Dingen wissen mochte.

»Wird er sterben?«

»Vielleicht nicht.«

»Gebt mir jedenfalls ein Heilmittel«, beschwor sie ihn.

Der Quacksalber schüttete ein Kräuterpulver in eine Tüte und empfahl ihr, dem Kind täglich einen Aufguß davon einzuflößen.

»Das wird ihm Kraft geben«, sagte er. Und nach kurzem Überlegen fuhr er fort:

»Was er braucht, ist, daß er auf lange Zeit hinaus nicht mehr hungert, nicht mehr friert, sich nicht mehr ängstigt, daß er sich nicht mehr verlassen fühlt, daß er immer nur dieselben Gesichter um sich sieht . Was er braucht, ist ein Heilmittel, das ich nicht in meinen Töpfen habe . nämlich, daß er glücklich ist. Hast du mich verstanden, Mädchen?«

Sie nickte. Sie war verblüfft und fassungslos. Nie hatte jemand in solcher Weise über Kinder zu ihr gesprochen. In der Welt, in der sie früher gelebt hatte, war das nicht üblich gewesen. Aber vielleicht besaßen die einfachen Menschen tiefere Einsichten in die Seelen der Kleinen.

Ein Patient mit geschwollener Wange, an die er kläglich sein Taschentuch drückte, war auf die Wagenbühne gestiegen, und das Orchester ließ seine Katzenmusik ertönen. Der Große Matthieu schob die Frauen hinaus.

»Bemüht euch, ihn zum Lächeln zu bringen«, rief er ihnen noch nach, bevor er zu seiner Zange griff.

Von nun an ließ man es sich in der Tour de Nesle angelegen sein, Florimond zum Lächeln zu bringen. Vater Hurlurot und Mutter Hurlurette tanzten für ihn, was ihre vom Teufel besessenen Beine hergaben. Pain-Noir lieh ihm seine Pilgermuscheln zum Spielen. Vom Pont-Neufbrachte man ihm Apfelsinen, Kuchen und Windmühlen aus Papier mit. Ein kleiner Auvergnate zeigte ihm sein Murmeltier und einer der Schausteller vom Jahrmarkt in Saint-Germain ließ seine acht dressierten Ratten nach Geigenklängen Menuett vor ihm tanzen.

Doch Florimond hatte Angst und verdeckte seine Augen. Einzig Piccolo, der Affe, brachte es fertig, ihn zu unterhalten. Doch trotz seiner Grimassen und Kapriolen gelang es ihm nicht, ihn zum Lächeln zu bringen.

Dieses Wunder vollbrachte Thibault-le-Veilleur. Eines Tages begann der alte Mann das Lied von der »Grünen Mühle« zu spielen. Angélique, die Florimond auf ihren Knien hielt, spürte, daß er zitterte. Er hob die Augen zu ihr auf. Sein Mund bebte und entblößte die winzigen, an Reiskörner erinnernden Zähne. Und mit leiser, rauher, wie aus weiter Ferne kommender Stimme sagte er:

»Mama!«

Der September kam und war kalt und regnerisch.

»Es wird Winter«, seufzte Pain-Noir und flüchtete mit seinen durchnäßten Hadern ans Feuer. Das feuchte Holz zischte im Kamin. Ausnahmsweise warteten die Bürger und Kaufleute von Paris nicht Allerheiligen ab, um ihre Winterkleider hervorzuholen und sich zur Ader zu lassen, den Traditionen der Hygiene gemäß, die empfahlen, sich bei jedem Wechsel der Jahreszeiten, also viermal im Jahr, der Lanzette des Chirurgen zu überliefern.

Aber die Edelleute und die Gauner hatten andere Sorgen, als sich über Regen und Kälte zu unterhalten. Alle hohen Persönlichkeiten des Hofs und der Finanzwelt standen unter dem Eindruck der Verhaftung des steinreichen Oberintendanten der Finanzen, Monsieur Fouquet. Alle niederen Persönlichkeiten der Gaunerwelt stellten Betrachtungen darüber an, welche Wendung der Streit zwischen Calembredaine und Rodogone dem Ägypter im Augenblick der Eröffnung des Jahrmarkts von Saint-Germain wohl nehmen würde.

Die Verhaftung Monsieur Fouquets war wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Ein paar Wochen zuvor waren der König und die KöniginMutter von dem prachtliebenden Intendanten in Vaux-le-Vicomte empfangen worden und hatten wieder einmal das wundervolle, vom Architekten Le Vau entworfene Schloß bewundert, die Fresken des Malers Le Brun betrachtet, die Kochkünste Vatels erprobt, die herrlichen, von Le Nôtre angelegten Gärten mit ihren Wasserspielen und Grotten durchwandert. Endlich hatte der ganze Hof im Heckentheater einer der geistreichsten Komödien applaudieren können: den »Lästigen«, verfaßt von einem schreibenden Komödianten namens Molière.

Nachdem die letzten Fackeln verlöscht waren, hatte sich alles nach Nantes zur Versammlung der Generalstände der Bretagne begeben. Und dort geschah es, daß eines Morgens ein obskurer Musketier namens d’Artagnan auf Fouquet zutrat, als dieser eben im Begriff stand, in seine Kutsche zu steigen.

»Nicht hier sollt Ihr einsteigen, Monsieur«, sagte d’Artagnan, »sondern in jenen Wagen mit den vergitterten Fenstern, den Ihr da drüben seht.«

»Was denn? Was bedeutet das?«

»Daß ich Euch im Namen des Königs verhafte.«

»Der König ist freilich der Gebieter«, murmelte der sehr blaß gewordene Oberintendant, »aber ich hätte um seines Ruhmes willen gewünscht, daß er auf offenere Weise vorginge.«

Langmut, Verstellung, schließlich der vernichtende Schlag aus heiterem Himmel - der ganze Fall trug wiederum das Siegel des königlichen Schülers Kardinal Mazarins. Einen analogen Fall hatte ein Jahr zuvor die Verhaftung des Grafen Peyrac gebildet, doch in der Verblüffung und Angst, die den Hof ob des Mißgeschicks des Oberintendanten erfaßte, kam niemand auf den Gedanken, eine Parallele zu ziehen. Die Großen dachten wenig nach. Man wußte nur, daß man in Fouquets Abrechnungen nicht nur die Spur seiner Veruntreuungen auffinden würde, sondern auch die Namen all jener Männer - und Frauen -, deren Gefälligkeiten er reich honoriert hatte. Man sprach sogar von furchtbar kompromittierenden Schriftstücken, durch die sich Edelleute von hohem Rang, ja sogar Fürsten von Geblüt während der Fronde dem durchtriebenen Finanzmann verkauft hatten.

Nein, niemand erkannte in dieser neuerlichen Verhaftung, die noch aufsehenerregender und be-stürzender war als die erste, dieselbe autoritäre Hand. Nur Ludwig XIV. seufzte, nachdem er eine Depesche erbrochen hatte, die ihn von den durch einen gaskog-nischen Edelmann namens d’Andijos angestifteten Unruhen im Languedoc in Kenntnis setzte: »Es war höchste Zeit!«

Das auf dem Wipfel vom Blitz getroffene Eichhörnchen stürzte von Ast zu Ast. Es war höchste Zeit: Die Bretagne würde sich nicht seinetwegen empören, wie sich das Languedoc des andern wegen empört hatte, jenes seltsamen Mannes wegen, den man lebendigen Leibes auf der Place de Grève hatte verbrennen müssen. Was Fouquet betraf, so würde man vermutlich genötigt sein, einen sehr langwierigen Prozeß einzuleiten. Man würde das Eichhörnchen in einer Festung einsperren. Man würde es vergessen .

Angélique hatte nicht die Muße, über diese neuen Ereignisse nachzusinnen. Das Schicksal wollte es, daß der Sturz desjenigen, dem Joffrey de Peyrac insgeheim geopfert worden war, nur zu bald seinem traurigen Siege folgte.

Aber es war zu spät für Angélique. Sie bemühte sich nicht, sich zu erinnern, zu begreifen. Sie war nur noch eine namenlose Frau, die ihre Kinder ans Herz drückte und dem Herannahen des Winters mit Schrecken entgegensah, während die Gaunerwelt in fieberhafter Erregung den Ausbruch einer Schlacht erwartete, die fürchterlich zu werden versprach.

Diese Schlacht des Jahrmarkts von Saint-Germain, die den Tag seiner Eröffnung mit Blut befleckte, verwirrte in der Folgezeit diejenigen, die sich über ihren Anlaß klarzuwerden bemühten. Niemand fand heraus, wer eigentlich die erste Brandfackel geworfen hatte.

Auch in diesem Fall ließ sich nur ein einziger nicht täuschen. Es war ein Bursche namens Desgray, ein gebildeter Mann mit bewegter Vergangenheit. Desgray hatte soeben die Stelle eines Polizeihauptmanns im Châtelet erhalten. Von allen gefürchtet, begann man von ihm als einem der geschicktesten Polizisten der Hauptstadt zu reden. In der Folgezeit sollte sich dieser junge Mann auch tatsächlich einen bedeutenden Namen machen, indem er die Verhaftung der größten Giftmischerin seiner Zeit und vielleicht aller Zeiten vornahm, nämlich der Marquise de Brinvilliers, wie er auch im Jahre 1678 als erster den Schleier der Gifttragödie lüftete, deren Enthüllung selbst die Stufen des Throns mit Kot bespritzen sollte.