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Kurz vor Eröffnung des Jahrmarktes kam er strategischen Vorbereitungen innerhalb der Gaunerzunft auf die Spur, und obwohl er nur ein subalterner Polizeibeamter war, gelang es ihm am Morgen der Jahrmarkteröffnung, sich die Ermächtigung zu verschaffen, alle Polizeikräfte der Hauptstadt am Rande des Vororts Saint-Germain zusammenzuziehen. Er konnte damit zwar den Ausbruch des Kampfs nicht verhindern, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit und Heftigkeit ausbreitete, aber er dämmte ihn immerhin mit gleicher brutaler Plötzlichkeit ein, indem er rechtzeitig die Feuersbrünste löschte, die am Ort befindlichen degentragenden Edelleute einen Sperriegel bilden ließ und Massenverhaftungen vornahm. Als der Morgen zu dämmern begann, waren bereits zwanzig Strolche von »Rang« aus der Stadt zum Galgen von Montfaucon geführt und gehenkt worden.
Freilich rechtfertigte die Berühmtheit des Jahrmarkts von Saint-Germain in mehr als einer Hinsicht das erbitterte Treffen, das die Spitzbuben von Paris einander lieferten, um sich das Monopol auf die »Beerenlese« zu sichern.
Von Oktober bis Dezember und vom Februar bis zur Fastenzeit traf sich hier ganz Paris. Sogar der König hielt es nicht für unter seiner Würde, sich an gewissen Abenden mit seinem Hofstaat hierher zu begeben - ein wahres Geschenk des Himmels für die Taschendiebe und Mantelmarder.
Im 16. Jahrhundert hatten die Mönche der Abtei Saint-Germain-des-Pres, denen der Jahrmarkt unterstand, ihn durch eine mit Toren und Wachhäuschen versehene Mauer einschließen lassen. Jedoch konnte man ihn betreten, ohne eine Gebühr zu entrichten. Im Innern fand man vierhundert Krambuden vor, die in Laubengängen untergebracht waren und ein riesiges, von Straßen durchzogenes Schachbrett bildeten. Ringsherum erlaubte ein geräumiger Wiesenstreifen die Unterbringung von Schaustellerbühnen und die Durchfahrt der Kutschen. Indessen herrschte hier gewöhnlich solches Gedränge, daß man nur mühsam vorwärtskam.
Alles nur mögliche und unmögliche wurde feilgeboten. Schlemmerlokale, mit Spiegelglas und vergoldeten Ornamenten geschmückte Schenken und Spielhöllen reihten sich dicht aneinander, und alles war dazu angetan, die Sinne zu beglücken. Kein vom Dämon der Liebe besessenes Pärchen, das hier nicht die Erfüllung seiner Wünsche gefunden hätte.
Doch zu allen Zeiten bildeten die Zigeuner die größte Attraktion des Jahrmarkts. Mit ihren Akrobaten und Wahrsagern waren sie seine Fürsten.
Schon im Hochsommer sah man Karawanen klapperdürrer Pferde mit geflochtenen Mähnen ankom-men, auf denen in buntem Durcheinander Frauen und Kinder mit ihren Küchengeräten, gestohlenen Schinken und Hühnern saßen. Indem sie sie anstaunten, fanden die Pariser zur lüsternen Neugier ihrer Väter zurück, die im Jahre 1427 zum erstenmal die ewig Ruhelosen mit der kupferfarbenen Haut vor den Mauern von Paris hatten auftauchen sehen. Man hatte sie Ägypter genannt. Man sagte auch: Böhmen oder Zigeuner. Die Strolche erkannten ihren Einfluß auf die Gesetze der Gaunerzunft an, und beim Narrenfest schritt der Herzog von Ägypten neben dem König der Bettler, und die hohen Würdenträger des Galiläischen Reichs zogen den Erzgehilfen des Großen Coesre voraus.
Rodogone dem Ägypter, selbst dem Zigeunerstamm angehörend, kam unter den Fürsten der Unterwelt von Paris rechtens eine hohe Stellung zu. Es war nicht mehr als recht und billig, daß er sich den Zutritt zu jenen zauberumwobenen, mit Unken, Skeletten und schwarzen Katzen dekorierten Heiligtümern vorbehalten wollte, welche die Wahrsagerinnen, die braunen Hexen, wie man sie nannte, im Herzen des Jahrmarkts errichteten.
Indessen erhob Calembredaine als Herr der Porte de Nesle alleinigen Anspruch auf diesen auserlesenen Bissen. Diese Rivalität konnte nur durch den Tod des einen oder andern ihr Ende finden.
Während der letzten Tage vor Eröffnung der Messe kam es im Stadtviertel zu zahlreichen Schlägereien. Am Vorabend mußten sich Calembredaines Truppen in völliger Auflösung zurückziehen und in die Tour de Nesle flüchten. Sie versammelten sich um den Tisch im großen Saal, wo Cul-de-Bois das große Wort führte.
»Seit Monaten hab’ ich sie kommen sehen, diese Pleite. Du bist dran schuld, Calembredaine! Deine Marquise hat dich um den Verstand gebracht. Du taugst nichts mehr; die andern Fürsten kriegen Oberwasser. Sie spüren, daß du schlappmachst; sie werden sich mit Rodogone zusammentun, um dich aus dem Sattel zu heben .«
Nicolas stand vor dem Feuer, von dem sich seine kräftige Gestalt schwarz abhob, und säuberte seinen Oberkörper von dem Blut einer Stichwunde. Er dröhnte noch lauter als Cul-de-Bois:
»Ich weiß nur zu gut, daß du ein Verräter bist; daß du alle Fürsten um dich sammelst, daß du sie aufsuchst, daß du drauf aus bist, den Großen Coesre zu ersetzen. Aber sieh dich vor! Ich werde Roland-le-Trapu ein Wörtchen flüstern .«
»Schuft! Gegen mich richtest du nichts aus .«
Angélique wurde wahnsinnig bei dem Gedanken, Florimond könne bei diesem Raubtiergebrüll wach werden und sich ängstigen. Sie hastete ins runde Zimmer hinauf. Aber die Kleinen schliefen friedlich. Cantor glich einem der Engelchen, wie die Niederländer sie malten. Florimond hatte wieder volle Wangen bekommen. Wenn er so dalag, die Lider über die großen, schwermütigen Augen gesenkt, trug sein Gesicht einen rührend kindlichen, glücklichen Ausdruck. Vorsichtig schloß Angélique die schadhafte Tür, so gut es gehen wollte.
Von unten hörte sie die rauhe Stimme Cul-de-Bois’:
»Täusch dich nicht, Calembredaine: Wenn du zurückweichst, ist es um dich geschehen. Rodogone wird kein Erbarmen kennen. Er will nicht nur den Jahrmarkt, sondern auch dein Mädchen, das du ihm auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein streitig gemacht hast. Er ist auf sie versessen. Er kann sie nur kriegen, wenn du verschwindest. Jetzt heißt es: Er oder du.«
Nicolas schien sich zu beruhigen. »Gut«, murrte er, »gut. Morgen werden wir sehen.«
Der erste Jahrmarktstag verlief ruhig. Calembredaines Leute bewegten sich als unbestrittene Herrscher unter der immer dichter werdenden Menge. Als der Abend zu dämmern begann, erschienen allmählich die Kutschen der vornehmen Gesellschaft, und Tausende und aber Tausende brennender Kerzen verwandelten den Jahrmarkt in einen wahren Feenpalast.
Angélique verfolgte neben Calembredaine das Hin und Her eines Tierkampfs: zwei Doggen gegen einen Keiler. Die von dem grausamen Schauspiel faszinierte Menge drängte sich dicht um die Bretterwände der kleinen Arena.
Ohne zu rechnen und ohne Skrupel zu empfinden, hatte sie das ihr von Nicolas zugesteckte Geld ausgegeben und für Florimond Kasperlefiguren und Süßigkeiten erstanden. Diesmal hatte sich Nicolas, um nicht erkannt zu werden - denn er vermutete, daß die Polizeispitzel auf der Lauer lagen -, säuberlich rasiert und ein etwas weniger zerschlissenes Gewand angelegt als das, das seine übliche Verkleidung darstellte. Mit dem breiten Hut, dessen Krempe seine unheimlichen Augen verbarg, wirkte er wie ein armer Landmann, der sich seiner Armut zum Trotz auf dem Jahrmarkt einen vergnügten Tag machen will.
Er hatte eine Art, seinen Arm um Angélique zu legen, daß sie die Empfindung hatte, in einen jener Eisenringe geschlossen zu sein, in die man die Gefangenen schmiedet. Aber dieser feste Griff war nicht immer unangenehm. So fühlte sie sich an diesem Abend in der Umklammerung des muskulösen Arms klein und schmiegsam, schwach und beschützt. Die Hände voller Süßigkeiten, Spielsachen und Parfümfläschchen, nahm sie teil am Kampf der Tiere und beobachtete mit leisem Schauder, wie der rasend gewordene Keiler seine Angreifer abschüttelte und mit letzter Kraft eine der Doggen, deren Leib schon aufgerissen war, durch die Luft schleuderte.
Plötzlich erkannte sie auf der anderen Seite der Arena Rodogone den Ägypter. Er schwang einen langen, dünnen Dolch mit den Fingerspitzen. Die Waffe pfiff über die kämpfenden Tiere hinweg. Angélique wich blitzschnell zur Seite und riß ihren Begleiter mit. Die Klinge flog dicht an Nicolas’ Hals vorbei und bohrte sich in die Kehle eines Trödlers hinter ihnen. Der Mann zuckte zusammen, glich für einen Atemzug einem aufgespießten Schmetterling, dann spie er einen Strom von Blut aus und stürzte zu Boden.
Im nächsten Augenblick explodierte der Jahrmarkt von Saint-Germain.
Gegen Mitternacht wurde Angélique mit einem Dutzend Mädchen und Frauen, von denen zwei Calembredaines Bande angehörten, in eine niedere Zelle des Chätelet-Gefängnisses gestoßen. Obgleich die schwere Tür wieder verschlossen worden war, schien es, als seien noch immer der Lärm der erregten Menge und das Wutgeschrei der Bettler und Banditen zu hören, die von den Bütteln und Polizisten systematisch »zusammengerecht« und schubweise vom Jahrmarkt nach dem Gefängnis gebracht worden waren.
»Na, da haben wir nun unser Fett«, sagte eines der Mädchen. »So ein verdammtes Pech! Bin ich ein einziges Mal woanders flaniert als in Glatigny, und schon schnappen sie mich. Die sind imstande und binden mich aufs hölzerne Pferd, weil ich nicht im reservierten Bezirk geblieben bin.«
»Tut’s weh, das hölzerne Pferd?« fragte eine Halbwüchsige.
»Und ob! Ich spür’s noch in allen Gliedern. Als der Stockmeister mich draufsetzte, hab’ ich geschrien: Jesus Christus! Heilige Jungfrau, habt Erbarmen mit mir!<«
»Mir«, sagte eine andere, »hat der Stockmeister ein ausgehöhltes Horn in den Schlund gestopft, und dann hat er mir an die sechs Töpfe voll kalten Wassers eingetrichtert. Wenn’s wenigstens noch Wein gewesen wäre! Ich hab’ geglaubt, ich zerplatze wie eine Schweinsblase. Hinterher haben sie mich in die Küche des Châtelet vors Feuer getragen, damit ich wieder zu mir käme.«
Angélique lauschte diesen Stimmen, die aus der fauligen Dunkelheit kamen, ohne sich dabei recht bewußt zu werden, daß man sie im Verlauf des Verhörs zweifellos der Folter unterziehen würde, die für jeden Angeklagten obligatorisch war. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: »Und die Kleinen ...? Was wird aus Ihnen? Wer wird sich um sie kümmern? Womöglich vergißt man sie im Turm? Die Ratten werden sie fressen .«
Obwohl es in diesem Verlies eiskalt und feucht war, perlte der Schweiß an ihren Schläfen.
Auf einer fauligen Strohschütte kauernd, lehnte sie sich an die Wand, die Arme um die Knie geschlungen und bemühte sich, nicht zu zittern und Gründe zu ihrer Beruhigung zu finden:
»Sicher nimmt sich eine der Frauen ihrer an. Sie sind nachlässig, unfähig, aber schließlich denken sie doch daran, ihren Kinder Brot zu geben ... Sie werden auch den meinigen welches geben. Im übrigen, wenn die Polackin dort ist, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Und Nicolas paßt auf .«
Aber war Nicolas nicht auch festgenommen worden? Ein zweites Mal empfand Angélique die panische Angst, die sie erfaßt hatte, als sie, von Gasse zu Gasse laufend, um der blutigen Schlägerei zu entrinnen, immer wieder auf einen Riegel von Häschern gestoßen war.
Sie versuchte sich zu erinnern, ob die Polackin wohl den Jahrmarkt vor Ausbruch der Schlacht verlassen hatte. Als sie ihrer zum letztenmal ansichtig geworden war, hatte das Mädchen eben einen jungen, zugleich verschüchterten und entzückten Provinzler zur Uferböschung der Seine gezogen. Aber bevor sie dort angelangt waren, hatten sie noch an der Auslage so mancher Bude hängenbleiben können.
Unter Aufbietung all ihres Willens gelang es ihr schließlich, sich einzureden, daß die Polackin nicht gefaßt worden war, und dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig.
Aus dem Grunde ihres beklommenen Herzens stieg ein beschwörender Ruf auf, und unwillkürlich kamen längst vergessene Gebetworte über ihre Lippen: »Erbarm dich ihrer! Beschütze sie, heilige Jungfrau ... Ich gelobe es«, sagte sie sich immer wieder, »wenn meine Kinder gerettet werden, mache ich diesem entwürdigenden Zustand ein Ende. Ich löse mich von dieser Diebesbande. Ich werde mir meinen Lebensunterhalt mit meiner Hände Arbeit verdienen .«
Sie dachte an die Blumenverkäuferin auf dem Pont-Neuf und schmiedete Pläne. Die Stunden vergingen ihr weniger langsam.
Am Morgen gab es ein großes Schlüsselgerassel, und die Tür flog auf. Ein Aufseher leuchtete mit einer Fackel in die Zelle. Das Tageslicht, das durch die Schießscharte der zwei Meter dicken Mauer drang, war so kümmerlich, daß sich im Raum kaum etwas erkennen ließ.
»Da sind Marquisen, Leute«, rief der Aufseher erfreut. »Tummelt euch. Es gibt eine gute Ernte.«
Drei weitere Wächter traten ein und befestigten die Fackel in einem Ring an der Wand.
»Na, ihr Häschen, ihr werdet doch brav sein, wie?«
Und einer der Männer zog eine Schere aus seinem Kittel.
»Nimm deine Haube ab«, sagte er zu der Frau, die ihm am nächsten stand. »Puh! Graues Haar. Ein paar Sols kriegen wir immerhin dafür. Ich kenne einen Barbier an der Place Saint-Michel, der billige Perücken für die alten Gerichtsschreiber daraus macht.«
Er schnitt die grauen Haare ab, band sie mit einem Stück Schnur zusammen und warf sie in einen Korb. Seine Genossen inspizierten inzwischen die Köpfe der übrigen Gefangenen.
»Bei mir lohnt’s nicht«, sagte eine von ihnen. »Ihr habt mich erst kürzlich geschoren.«
»Sieh einer an, das stimmt«, sagte der Büttel jovial. »Ich erkenn’ es wieder, das Mütterchen. Haha! Man findet Geschmack an der Herberge, scheint mir!«
Einer der Wächter war bei Angélique angelangt. Sie fühlte, wie seine plumpe Hand ihre Haar abtastete.
»Heißa, Freunde!« rief er. »Hier ist ganz was Feines. Leuchtet ein bißchen, damit man sich’s genauer betrachten kann.«