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»Das ist der wahre Jakob! Zwar keine blonde Tönung, aber es hat Glanz. Wir werden es dem Sieur Binet in der Rue Saint-Honoré verkaufen können. Dieser Meister schaut nicht auf den Preis, aber er schaut auf die Qualität. Tragt Eure Ungezieferpakete ruhig wieder heim<, sagt er mir jedesmal, wenn ich ihm Mähnen von weiblichen Gefangenen bringe. >Ich fabriziere keine Perücken mit Haaren, die schon wurmstichig sind!< Aber diesmal kann er nicht den Kostverächter spielen.«
Angélique legte beide Hände schützend auf ihren Kopf. Man konnte ihr doch nicht das Haar abschneiden. Es war einfach nicht auszudenken!
»Nein, nein, tut’s nicht!« flehte sie. Doch eine harte Faust packte ihre Handgelenke.
»Mach keine Geschichten, meine Schöne. Hättest nicht ins Châtelet kommen sollen, wenn du dein Haar behalten willst. Wir sind nun mal auf unsere kleinen Nebenverdienste angewiesen.«
Mit hartem Geklapper fuhr die Schere durch die golden schimmernden Locken, die Barbe erst kürzlich mit so viel Andacht gebürstet hatte.
Als die Soldaten gegangen waren, fuhr sich Angélique mit bebender Hand über ihren kahlen Nacken. Es kam ihr vor, als sei ihr Kopf kleiner und allzu leicht geworden.
»Flenn nicht«, sagte eine der Frauen, »das wächst nach. Vorausgesetzt, daß du dich nicht wieder schnappen läßt. Die Leute von der Wache sind nämlich ulkige Schnitter. Und Haar ist eine verdammt einträgliche Ware - bei all den Stutzern, die sich eine Perücke aufstülpen wollen.«
Die junge Frau knüpfte sich wortlos das Haubenband wieder um. Die Wirkung des Zwischenfalls verschwamm bereits. Es hatte ja im Grunde keine Bedeutung. Für sie war nur eins wichtig: das Schicksal ihrer Kinder.
Die Stunden verrannen grauenhaft langsam. Die Frauen um sie her äußerten sich wenig hoffnungsvoll. Sie erzählten Geschichten von weiblichen Gefangenen, die zehn Jahre lang eingesperrt geblieben waren, bis man sich ihrer wieder erinnert hatte. Und diejenigen, die das Châtelet kannten, schilderten die verschiedenen Verliese der düsteren Festung. Da gab es den Kerker »Aus ist’s mit der Bequemlichkeit« voller Unrat und Geziefer, in dem die Luft so verpestet war, daß keine Kerze brennen wollte; »Die Schlächterei«, so genannt, weil man dort die übelkeiterregenden Gerüche des benachbarten Schlachthauses einatmen mußte; »Die Ketten«, einen großen Saal, in dem die Gefangenen aneinandergekettet lagen; »Die Barbarei«, »Die Grotte«, dann »Der Brunnen« und »Die Gruft«, die die Form eines auf der Spitze stehenden Kegels hatte. Dort blieben die Gefangenen mit ihren Beinen ständig im Wasser; sie konnten weder aufrecht stehen noch liegen. Gewöhnlich starben sie nach vierzehn Tagen Haft. Vom »Verlies der Vergessenen«, dem unterirdischen Kerker, aus dem niemand zurückkehrte, sprach man nur mit gedämpfter Stimme.
Graues Licht drang durch die vergitterte Schießscharte herein. Es war unmöglich, die Uhrzeit abzuschätzen. Eine Alte entledigte sich ihrer ausgetretenen Schuhe, zog die Sohlennägel heraus und trieb sie umgekehrt, mit der Spitze nach außen, wieder hinein. Sie zeigte ihren Genossinnen die wunderliche Waffe und empfahl ihnen, ein gleiches zu tun, um sich gegen die Ratten wehren zu können, die sich in der Nacht einstellen würden.
Gegen Mittag öffnete sich indessen mit großem Getöse die Tür, und Hellebardiere ließen die Gefangenen heraustreten. Sie führten sie durch endlose Gänge in einen großen Saal, dessen Wände mit einer blauen Tapete mit gelben Linien bespannt waren. Im Hintergrund befand sich auf einer halbkreisförmigen Estrade eine Art Katheder aus geschnitztem Holz, hinter dem ein Mann in schwarzer Robe mit weißem Überschlag und einer weißen Perücke saß. Ein zweiter mit einer Pergamentrolle in der Hand hielt sich neben ihm. Es waren der Profos von Paris und sein Stellvertreter.
Die Frauen wurden vor die Estrade geschoben, nachdem sie an einem Tisch hatten vorbeigehen müssen, an dem ein Gerichtsschreiber ihre Namen eintrug.
Angélique blieb stumm, als man sie nach ihrem Namen fragte: Sie hatte keinen Namen mehr! Schließlich erklärte sie, sie heiße Anne Sauvert
- es war der Name eines Dorfs in der Umgebung Monteloups, der ihr plötzlich einfiel.
Die Verhandlung war denkbar kurz. Nachdem der Stellvertreter des Profosen jeder der Angeklagten ein paar Fragen gestellt hatte, verlas er die Namensliste, die ihm übergeben worden war, und erklärte, daß »alle genannten Personen dazu verurteilt seien, öffentlich gestäupt und alsdann ins Arbeitshaus verbracht zu werden, wo fromme Frauen sie lehren würden, zu nähen und zu Gott zu beten«.
»Wir kommen noch einmal gut davon«, flüsterte eines der Mädchen Angélique zu. »Das Arbeitshaus ist nicht das Gefängnis. Man schließt uns zwar dort ein, aber wir werden nicht bewacht. Es wird kein Kunststück sein, zu entwischen.«
Dann wurde eine Gruppe von einigen zwanzig Frauen in einen geräumigen Saal im Erdgeschoß geführt, und Büttel hießen sie sich in einer Reihe an der Wand aufstellen. Alsbald öffnete sich die Tür, und ein hochgewachsener, korpulenter Offizier trat ein. Er trug eine mächtige Perücke, die ein rotes Gesicht mit einem dicken Schnurrbart einrahmte. In seinem blauen Uniformrock, der sich über den fettgepolsterten Schultern spannte, mit seinem breiten Degengehänge, das den stattlichen Wanst einzwängte, seinem riesigen, mit dicken, vergoldeten Eicheln verschlossenen Kragen glich er ein wenig dem Großen Matthieu, wenn ihm auch dessen Gutmütigkeit und Jovialität fehlten. Seine Augen unter den buschigen Brauen waren klein und hart. Er trug Stiefel mit hohen Absätzen, die seine mächtige Gestalt noch größer erscheinen ließen.
»Das ist der Hauptmann der Wache«, flüsterte Angéliques Nachbarin. »Oh, er ist schrecklich! Man nennt ihn den Menschenfresser.«
Der Menschenfresser schritt an ihrer Reihe entlang, wobei er seine Sporen auf den Fliesen klirren ließ.
»Hoho, ihr Frauenzimmer, man wird euch eine Tracht Prügel verabfolgen! Los, runter mit dem Kram. Und wehe denen, die zu laut schreien: Für die gibt es einen Extrahieb.«
Einige Frauen, die bereits die Peitschenhiebe erduldet hatten, zogen fügsam ihr Mieder aus. Diejenigen, die ein Hemd trugen, ließen es über die Arme gleiten und stülpten es über ihren Rock. Den Zögernden halfen die Büttel ohne viel Federlesens nach. Einer von ihnen zerrte Angéliques Mieder herunter und zerriß es dabei. Sie beeilte sich, ihren Oberkörper selbst zu entblößten, aus Angst, man könne den Gürtel mit Rodogones Dolch bemerken.
Der Hauptmann der Wache stolzierte auf und ab und musterte die vor ihm aufgereihten Frauen.
Vor den jüngsten blieb er stehen, und seine kleinen Schweinsaugen begannen aufzuglimmen. Schließlich deutete er mit gebieterischer Geste auf Angélique. Einer der Büttel hieß sie mit verständnisinnigem Grinsen vortreten.
»Los, schafft mir dieses ganze Pack fort«, befahl der Offizier. »Und gerbt ihnen tüchtig das Fell! Wie viele sind es?«
»Einige zwanzig, Herr.«
»Jetzt ist es vier Uhr nachmittags. Vor Sonnenuntergang müßt ihr fertig sein.«
»Jawohl, Herr.«
Die Büttel führten die Frauen hinaus. Angélique entdeckte im Hof einen mit Ruten beladenen Karren, der den erbarmungswürdigen Zug bis zu der für die öffentlichen Züchtigungen bestimmten Stätte bei der Kirche Saint-Denis-de-la-Châtre begleiten sollte. Die Tür schloß sich wieder. Angélique blieb allein mit dem Offizier. Sie warf ihm einen verwunderten und ängstlichen Blick zu. Warum teilte sie nicht das Los ihrer Genossinnen? Würde man sie ins Gefängnis zurückbringen?
Es war eisig in dem niederen, gewölbten Saal, dessen alte Mauern Feuchtigkeit durchsickern ließen. Obwohl es draußen noch hell war, dunkelte es drinnen bereits, und man hatte eine Fackel anzünden müssen. Angélique kreuzte fröstelnd die Arme und bog die Schultern nach vorn, weniger vielleicht um sich vor der Kälte zu schützen, als um ihre Brust dem stierenden Blick des Menschenfressers zu entziehen.
Dieser kam gewichtig näher und hüstelte.
»Nun, mein Herzchen, hast du wirklich Lust, dir deinen hübschen weißen Rücken schinden zu lassen?«
Da sie nichts erwiderte, fuhr er nachdrücklich fort:
»Antworte! Hast du wirklich Lust dazu?«
Begreiflicherweise konnte Angélique nicht sagen, daß sie dazu Lust verspürte. Sie zog es vor, den Kopf zu schütteln.
»Nun, wir könnten das schon deichseln«, meinte der Hauptmann in süßlichem Ton. »Es wäre schade, ein so hübsches Hühnchen zu züchtigen. Vielleicht können wir beide miteinander einig werden?«
Er fuhr ihr mit dem Finger unters Kinn, um sie zu zwingen, den Kopf zu heben, und stieß einen Pfiff der Bewunderung aus.
»Hui! Die schönen Augen! Deine Mutter muß Absinth getrunken haben, während sie dich erwartete! Komm, lach ein bißchen!«
Seine groben Finger streichelten den zarten Hals, glitten über die runde Schulter.
Sie wich zurück, ohne einen Schauer des Abscheus unterdrücken zu können, was sein Gelächter in solchem Maße erregte, daß sein Bauch zu schüttern begann. Ungerührt starrte sie ihn aus ihren grünen Augen an, und obwohl er in seiner Breitschultrigkeit der Überlegene war, schien er als erster verlegen zu werden.
»Wir sind uns einig, nicht wahr?« fuhr er fort. »Du kommst mit mir in meine Wohnung. Hinterher gehst du wieder zur Herde zurück, aber die Büttel werden dich in Ruhe lassen. Du wirst nicht gestäupt . Na, bist du zufrieden, mein Häschen?«
Er brach in ein burschikoses Gelächter aus, dann zog er sie mit sicherem Arm zu sich heran. Die Nähe dieses feuchten Mundes mit dem Tabak- und Rotweinatem widerte Angélique an, und sie wand sich wie ein Aal, um sich aus seiner Umarmung zu befreien. Das Degengehänge und die Tressen an der Uniform des Hauptmanns rieben ihr die Brust wund.
Endlich gelang es ihr, sich zu lösen, und sie schlüpfte, so gut es gehen wollte, in ihr zerrissenes Mieder.
»Was soll das?« fragte der Riese verwundert. »Was ist los mit dir? Hast du nicht begriffen, daß ich dir die Züchtigung ersparen will?«
»Ich danke Euch sehr«, sagte Angélique in festem Ton, »aber ich ziehe es vor, gestäupt zu werden.«
Der Mund des Menschenfressers klaffte weit auf, seine Schnurrbartenden zitterten, und er wurde puterrot, als hätten die Schnüre seines Kragens ihn plötzlich erdrosselt.
»Was ... was sagst du?«
»Ich ziehe es vor, gestäupt zu werden«, wiederholte Angélique. »Der Herr Profos von Paris hat mich dazu verurteilt, ich darf mich seinem Rechtsspruch nicht entziehen.«
Entschlossen ging sie auf die Tür zu. Mit einem einzigen Schritt holte er sie ein und packte sie beim Genick.
»O mein Gott«, dachte Angélique, »nie wieder nehme ich ein Huhn beim Hals. Die Wirkung ist zu schrecklich.«