142424.fb2
»Du bist mir ein komisches Mädchen«, sagte er ein wenig kurzatmig. »Für das, was du da gesagt hast, könnte ich dir eins mit dem Säbel überziehen, daß du nicht so rasch wieder aufstehst. Aber ich will dir nichts zuleide tun. Du bist schön und wohlgebaut. Je länger ich dich anschaue, desto mehr verlangt mich nach dir. Es wäre zu töricht, wenn wir uns nicht einig würden. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Sei nett zu mir, und wenn du zu den andern zurückkehrst, nun ... vielleicht schaut der Wächter, der dich begleitet, gerade mal nach der anderen Seite .«
Da war sie, die Möglichkeit des Entrinnens. Die kleinen Gestalten Florimonds und Cantors tanzten vor Angéliques Augen. Verstört starrte sie in das brutale rote Gesicht, das sich über sie neigte. Unwillkürlich lehnte sich ihr Körper auf. Es war unmöglich! Niemals würde sie das über sich bringen! Im übrigen konnte man auch aus dem Arbeitshaus entkommen ... Sogar schon auf dem Wege dorthin könnte sie es versuchen ...
»Ich will lieber ins Arbeitshaus!« schrie sie außer sich. »Ich will lieber .«
Alles andere ging in einem Wirbelsturm unter. Während sie geschüttelt wurde, daß ihr der Atem verging, prasselte ein Hagel wüster Schimpfwörter auf sie nieder. Der lichte Schlund einer Tür öffnete sich, und sie wurde wie eine Kugel hineingefeuert.
»Prügelt mir diese Dirne, bis ihr die Haut in Fetzen abgeht!« brüllte der Hauptmann hinter ihr her. Dann knallte die Tür mit Donnergetöse ins Schloß.
Angélique war in eine Gruppe von Leuten der Bürgerpolizei gestürzt, die eben die Nachtwache übernommen hatten. Es waren in der Hauptsache friedfertige Handwerker und Kaufleute, die nur widerwillig dieser den Zünften und Korporationen um der Sicherheit der Stadt willen turnusmäßig auferlegten Verpflichtung nachkamen. Sie stellten im übrigen die »sitzende« oder »schlafende« Polizei dar und hatten ihre bestimmten Aufgaben. Sie waren gerade im Begriff gewesen, ihre Spielkarten und Pfeifen hervorzuholen, als ihnen das halbnackte Mädchen vor die Füße flog. Die Stimme des Hauptmanns hatte sich derartig überschlagen, daß niemand seinen Befehl verstanden hatte.
»Wieder mal eine, die unser tüchtiger Hauptmann verführt hat«, sagte einer von ihnen. »Man kann nicht sagen, daß die Liebe ihn ausgesprochen sanft macht.«
»Immerhin, er hat Erfolg. Er verbringt seine Nächte niemals einsam.«
»Ei, er greift sie sich aus den Gefangenen heraus und läßt sie zwischen dem Gefängnis und seinem Bett wählen.«
»Wenn der Profos es wüßte, würde er ihm schon die Suppe versalzen!«
Angélique hatte sich ziemlich zerschunden aufgerichtet. Die Polizisten sahen ihr belustigt zu. Sie stopften ihre Pfeifen und mischten die Spielkarten. Zögernd näherte sie sich der Tür der Wachstube. Niemand hielt sie zurück. Ungehindert gelangte sie auf die belebte Straße und rannte in wilder Hast davon.
»Pst! Marquise der Engel! Vorsicht, geh nicht weiter.«
Die Stimme der Polackin hielt Angélique auf, als sie sich der Tour de Nesle näherte.
Sie wandte sich um und erblickte das Mädchen, das ihr aus dem verbergenden Schatten eines Torbogens heraus ein Zeichen gab.
Sie ging zu ihr.
»Nun, mein armes Herzchen«, seufzte die andere, »da haben wir uns also wieder. War eine schöne Rauferei! Zum Glück ist Beau-Garçon eben erschienen. Er hat sich von einem >Bruder< eine Tonsur schneiden lassen, und dann hat er den Leuten von der Polente gesagt, er sei Priester. Und während man ihn vom Châtelet ins Gefängnis des Erzbischöflichen Palastes überführte, hat er sich aus dem Staube gemacht.«
»Warum hinderst du mich, zur Tour de Nesle zu gehen?«
»Weil Rodogone der Ägypter mit seiner ganzen Bande dort ist.«
Angélique wurde leichenblaß. Die Polackin erklärte:
»Hättest sehen sollen, wie sie uns hinausbugsiert haben! Sie haben uns nicht mal Zeit gelassen, un-sern Kram mitzunehmen! Na, ich hab’ wenigstens deinen Koffer und deinen Affen retten können. Sie sind in der Rue du Val d’Amour, in einem Haus, in dem Beau-Garçon Freunde hat und seine Mädchen unterbringen will.«
»Wo sind meine Kinder?« fragte Angélique.
»Was Calembredaine betrifft, so weiß niemand, was aus ihm geworden ist«, fuhr die Polackin zungenfertig fort. »Gefangen? Gehenkt? Einige sagen, sie hätten gesehen, wie er sich in die Seine stürzte. Vielleicht ist er aufs Land geflohen .«
»Ich pfeife auf Calembredaine«, sagte Angélique verbissen. Sie hatte die Frau bei den Schultern gepackt und grub ihr die Nägel ins Fleisch.
»Wo sind meine Kleinen?«
Die schwarzen Augen der Polackin schauten sie hilflos an, dann senkte sie die Lider.
»Ich hab’s bestimmt nicht wollen . aber die an-dern waren stärker .«
»Wo sind sie?« wiederholte Angélique mit tonloser Stimme.
»Jean-Pourri, der Kinderhändler, hat sie genommen ... mit allen Knirpsen, die er finden konnte.«
»Hat er sie dorthin gebracht . in den Faubourg Saint-Denis?«
»Ja. Das heißt, nur Florimond. Cantor nicht. Er hat gesagt, Cantor sei zu dick, als daß er ihn an Bettler vermieten könnte.«
»Was hat er mit ihm gemacht?«
»Er . er hat ihn verkauft . ja, für dreißig Sols . an Zigeuner, die ein Kind brauchten, um es zum Akrobaten auszubilden.«
»Wo sind sie, diese Zigeuner?«
»Was weiß denn ich!« protestierte die Polackin und riß sich verärgert aus ihrem Griff. »Zieh deine Krallen ein, mein Kätzchen, du tust mir weh ... Was soll ich dir sagen? Es waren eben Zigeuner. Sie sind fortgezogen. Die Prügelei hat sie angewidert. Sie haben Paris verlassen.«
»In welche Richtung sind sie gezogen?«
»Vor knapp zwei Stunden hat man sie auf dem Wege zur Porte Saint-Antoine gesehen. Ich bin hierher zurückgekommen, weil ich so was wie ’ne Ahnung hatte, daß ich dir hier begegnen würde. Du bist ja eine Mutter! Eine Mutter kennt keine Hindernisse .«
Angélique wurde von verzweifeltem Schmerz gepeinigt. Sie glaubte den Verstand zu verlieren. Florimond in den Händen des üblen Jean-Pourri, weinend, nach seiner Mutter rufend! Cantor, den man für immer ins Ungewisse entführte!
»Ich muß Cantor suchen«, sagte sie. »Vielleicht sind die Zigeuner noch nicht allzuweit von Paris entfernt.«
»Du bist wohl nicht recht gescheit, mein Täubchen!«
Doch Angélique hatte sich bereits auf den Weg gemacht - und die Polackin folgte.
»Na, schön«, sagte sie, gutmütig resignierend, »gehen wir. Ich hab’ ein bißchen Geld. Vielleicht sind sie willens, ihn an uns zurückzuverkaufen .«
Es hatte den Tag über geregnet. Die Luft war feucht und roch herbstlich. Das Pflaster glänzte.
Die beiden Frauen folgten dem rechten Seineufer und verließen Paris auf dem Quai de l’Arsenal. Am Horizont, auf den sie zuschritten, öffnete sich der niedrige Himmel zu einem gewaltigen Riß von rauchig-dunklem Rot. Kalter Wind war mit dem Abend aufgekommen. Leute in der Vorstadt erzählten ihnen, sie hätten die Zigeuner an der Brücke von Charenton gesehen.
Sie schritten rasch dahin. Von Zeit zu Zeit zuckte die Polackin die Schultern und stieß einen Fluch aus, aber sie protestierte nicht. Sie folgte Angélique mit dem Fatalismus einer Frau, die, ohne zu begreifen, viel gewandert und vielen gefolgt ist, bei jedem Wetter und auf allen Wegen.
Als sie in der Nähe der Brücke von Charenton anlangten, bemerkten sie Lagerfeuer auf einer Wiese, die etwas tiefer als die Straße lag. Die Polackin blieb stehen.
»Das sind sie«, flüsterte sie. »Wir haben Glück.«
Ein Wäldchen mit alten Eichen hatte vermutlich das Völkchen dazu bestimmt, an dieser Stätte haltzumachen. Von Ast zu Ast gespannte Zeltbahnen stellten in der kühlen Regennacht den einzigen Schutz der Zigeuner dar. Frauen und Kinder hockten im Kreis um die Feuer. Man briet einen Hammel an einem dicken Spieß. In einiger Entfernung grasten die mageren Pferde.
Angélique und ihre Begleiterin traten hinzu.