142424.fb2
»Herr Hauptmann, hört mich an, und Ihr Herren Polizisten, steht mir bei! Zigeuner haben mein Kind geraubt und schleppen es mit sich. In diesem Augenblick kampieren sie bei der Brücke von Charenton. Ich flehe Euch an, kommt mit mir und zwingt sie, mir mein Kind zurückzugeben. Dem Befehl der Polizei können sie nicht trotzen .«
Es trat verblüfftes Schweigen ein, dann begann einer der Männer dröhnend zu lachen.
»Hoho! So was ist noch nicht dagewesen! Hohoho! Ein Mädchen, das die Polizei in Bewegung setzt, um ... Hoho! Für wen hältst du dich eigentlich, Marquise?«
»Sie hat geträumt! Sie hat geglaubt, sie sei die Königin von Frankreich!« Das Gelächter überflutete die ganze Wachstube. Nur der Hauptmann ließ sich nicht anstecken, und sein hochrotes Gesicht nahm einen fürchterlichen Ausdruck an.
»Er läßt mich ins Gefängnis werfen. Ich bin verloren!« dachte Angélique.
Von panischer Angst ergriffen, sah sie sich im Kreise um.
»Es ist ein acht Monate altes Bübchen«, rief sie. »Es ist schön wie ein Engel. Es gleicht Euren Kleinen, die in diesem Augenblick in ihrer Wiege neben ihrer Mutter schlafen . Und die Zigeuner werden es mit sich nehmen, weit weg ... Es wird nie wieder seine Mutter sehen ... Fern von seiner Heimat, seinem König . Es .«
Tränenlose Schluchzer erstickten ihre Worte. Auf den fidelen Gesichtern der Wachmänner erstarb das Lachen. Sie wechselten verlegene Blicke.
»Meiner Treu«, sagte ein narbenbedeckter Alter, »wenn diese Landstreicherin so an ihrem Knirps hängt ... Es gibt schon genug, die an den Straßenecken verkommen ...«
»Ruhe!« wetterte der Hauptmann.
Breitspurig pflanzte er sich vor der jungen Frau auf. »Also«, sagte er mit unheimlicher Ruhe, »man ist nicht nur eine zur Auspeitschung verurteilte Dirne, nein, man tut auch noch vornehm und kommt mir nichts, dir nichts hierher, um eine Korporalschaft Polizisten in seinen Dienst einzuspannen! Und was bietet man als Gegenleistung, Marquise?«
Sie schaute ihm tapfer ins Gesicht: »Mich.«
Der Koloß kniff verdutzt die Augen zusammen.
»Komm mit mir«, befahl er plötzlich.
Und er drängte sie in einen benachbarten Raum, der als Schreibstube diente.
»Was meinst du eigentlich mit deinem >mich<?« knurrte er.
Angélique schluckte mühsam, aber sie wich nicht aus.
»Ich meine, daß ich tun werde, was Ihr von mir verlangt.«
Unversehens wurde sie von einer unsinnigen Angst erfaßt: daß er sie gar nicht mehr haben wollte, daß er sie zu armselig fand. Cantors und Florimonds Leben hing von den Gelüsten dieses Scheusals ab.
Und er wiederum sagte sich, daß er noch nie ein solches Mädchen gesehen habe. Ein göttlicher Körper! Ja, beim Himmel, das ließ sich unter der schäbigen Kleidung ahnen. Eine hübsche Abwechslung nach den fetten, verblühten Mädchen, die er gemeinhin in die Finger bekam. Aber vor allem das Gesicht! Er sah nie einer Dirne ins Gesicht. Das war uninteressant. Hatte er so alt werden müssen, um endlich zu entdek-ken, was das bedeutete, das Gesicht einer Frau?
Der Menschenfresser wurde nachdenklich, und Angélique zitterte in ihrer Angst. Endlich streckte er die Hände aus und zog Angélique ungestüm an sich.
»Was ich verlange«, sagte er mit verwegener Miene, »was ich verlange .«
Er zögerte, und sie ahnte nicht, wieviel Scheu in diesem Zögern lag.
»Ich verlange eine ganze Nacht«, schloß er. »Verstanden? Nicht nur so zwischen Tür und Angel, wie ich’s dir vorhin vorschlug ... Eine ganze Nacht.« Er ließ sie los und griff mit hämischer Geste nach seiner Pfeife.
»Das wird dich lehren, die Zierpuppe zu spielen! Also? Einverstanden?«
Unfähig, ein Wort hervorzubringen, gab sie nur ein Zeichen der Zustimmung.
»Sergeant!« rief der Hauptmann.
Einer der Männer stürzte herein.
»Die Pferde ...! Und fünf Mann. Tummelt euch!«
Der kleine Trupp verhielt in Sichtweite des Zigeunerlagers, und der Hauptmann erteilte seine Anweisungen: »Zwei Mann dort hinüber hinter das Wäldchen, falls sie auf den Gedanken kommen sollten, sich übers freie Feld davonzumachen. Du, Mädchen, bleibst hier.«
Instinktiv - wie Tiere, die daran gewöhnt sind, in die Nacht zu wittern - spähten die Zigeuner schon nach der Straße und schlossen sich zusammen. Der Hauptmann und drei der Büttel rückten vor, während die beiden anderen das befohlene Umgehungsmanöver ausführten.
Angélique blieb im Dunkel zurück. Bald schon hörte sie die Stimme des Hauptmanns, der dem Anführer der Zigeuner unter Zuhilfenahme wüster Flüche erklärte, daß alle seine Leute, Männer, Frauen und Kinder, sich vor ihm aufzustellen hätten. Man werde ihre Personalien aufnehmen. Es sei eine unumgängliche Formalität, der Vorfälle wegen, die sich am Abend zuvor auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain ereignet hätten. Danach werde man sie in Frieden lassen.
Beruhigt fügten sich die Nomaden. Im Laufe der Zeit hatten sie sich an die Scherereien gewöhnt, die ihnen überall auf der Welt von der Polizei gemacht wurden.
»Nun komm her, Kleine«, raunzte die Stimme des Hauptmanns.
Angélique lief hinzu.
»Das Kind dieser Frau befindet sich bei euch«, fuhr er fort. »Gebt es heraus, oder ihr werdet aufgespießt.«
Im gleichen Augenblick entdeckte Angélique Cantor, der friedlich an der braunen Brust einer Zigeunerin schlief. Wie eine Tigerin stürzte sie auf die Frau zu und entriß ihr den Kleinen, der zu weinen begann. Die Zigeunerin schrie auf, aber der Anführer der Horde gebot ihr Schweigen. Der Anblick der berittenen Büttel, deren Hellebarden angriffsbereit im Flammenschein blinkten, hatte ihm klargemacht, daß jeglicher Widerstand sinnlos war.
Indessen setzte er eine hochfahrende Miene auf und erklärte, man habe für das Kind dreißig Sols bezahlt. Angélique warf sie ihm zu, dann schlossen sich ihre Arme leidenschaftlich um den kleinen, runden und glatten Körper.
In Paris war es bei ihrer Rückkehr Nacht geworden. Die biederen Leute begannen ihre Fenster zu verschließen und ihre Kerzen zu löschen. Die Edelleute und Bürger begaben sich in die Schenken oder ins Theater. Vom Turm des Châtelet schlug es zehn Uhr.
Angélique ließ sich vorsichtig vom Pferd heruntergleiten und sah flehend zum Hauptmann auf.
»Laßt mich eine Unterkunft für mein Kind suchen«, sagte sie. »Ich schwöre Euch, daß ich morgen abend wiederkommen werde.«
Er setzte eine drohende Miene auf. »Hintergeh mich ja nicht. Es würde dir übel bekommen.«
»Ich schwöre Euch.«
Und da sie nicht wußte, wie sie ihn von ihrer ehrlichen Absicht überzeugen sollte, kreuzte sie zur Bekräftigung nach Gaunerart zwei Finger.
»In Ordnung«, sagte der Hauptmann. »Dieser Eid wird selten gebrochen. Ich erwarte dich . aber laß mich nicht zu lange schmachten. Und als Abschlagszahlung gibst du mir jetzt einen Kuß.«
Doch sie zuckte zurück und lief davon. Wie konnte er es wagen, sie anzurühren, während sie noch ihr Kindchen im Arm trug!
Die Rue de la Vallée-de-Misère lag gleich hinter dem Châtelet. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, erreichte sie den »Kecken Hahn«, durchquerte die Wirtsstube und betrat die Küche.
Barbe war wie üblich damit beschäftigt, trübsinnigen Gesichts einen alten Hahn zu rupfen.
Angélique legte ihr das Kind auf die Schürze.