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»Ja.«
»Weint er?«
»Er hat geweint, aber ich hab’ ihm gesagt, du würdest kommen und ihn holen.«
Sie hörte, wie der Junge sich umwandte und begütigend flüsterte: »Siehst du, Flo, deine Mama ist da.«
»Geduldet euch noch, ich werde euch herausholen«, versprach sie.
Sie trat zurück und untersuchte die Tür. Die Schlösser schienen widerstandsfähig zu sein, aber vielleicht ließen sich die Angeln aus der brüchigen Mauer lösen. Verzweifelt grub sie ihre Nägel in den Mörtel, als sie hinter sich ein seltsames Geräusch vernahm, etwas wie ein unterdrücktes Kichern, das rasch zum Gelächter wurde.
Angélique fuhr herum und erblickte den Großen Coesre. Das Ungeheuer lag auf einem niedrigen, vierrädrigen Wagen, den er offenbar durch die Gänge seines unheimlichen Labyrinths bewegte, indem er sich mit seinen Armen vorwärtsschob.
Von der Türschwelle aus fixierte er die junge Frau mit seinen grausam glitzernden Augen. Und sie erkannte, von Entsetzen gelähmt, die phantastische Erscheinung vom Friedhof der Unschuldigen Kindlein wieder.
Er hörte nicht auf zu lachen; das wüste Gewieher schüttelte seinen verkrüppelten Oberkörper, an dem die dünnen, schlaffen Beinchen hingen.
Dann setzte er sich, noch immer lachend, schwerfällig mit seinem Gefährt in Bewegung. Wie gebannt folgte ihm Angélique mit dem Blick. Er kam nicht auf sie zu, sondern durchquerte den Raum in der Diagonalen, und plötzlich bemerkte sie an der Wand einen der kupfernen Gongs, wie sie sie schon in anderen Räumen gesehen hatte. Auf dem Boden unter ihm lag ein Eisenstab.
Der Große Coesre war im Begriff, den Gong zu schlagen. Und auf dessen hallenden Ruf hin würden sich aus den Tiefen des Hauses alle Bettler, alle Banditen, alle Dämonen dieser Hölle auf Angélique, auf Florimond stürzen .
Die Augen des erstochenen Tiers wurden glasig.
»Oh, du hast ihn getötet!« sagte eine Stimme.
Auf derselben Schwelle, auf der vor kurzem der Große Coesre erschienen war, stand jetzt ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit einem Madonnengesicht.
Angéliques Blick glitt über die blutgerötete Klinge ihres Dolchs. Dann sagte sie mit leiser Stimme:
»Keinen Laut! Sonst muß ich auch dich töten.«
»O nein, sei unbesorgt. Ich bin ja froh, daß du ihn getötet hast!«
Sie näherte sich. »Niemand hatte den Mut, ihn zu töten«, murmelte sie. »Alle hatten sie Angst. Dabei war er nichts als ein widerliches kleines Männchen.«
Sie hob ihre schwarzen Augen zu Angélique auf. »Aber jetzt mußt du dich schleunigst davonmachen.«
»Wer bist du?«
»Ich bin Rosine . Die letzte Frau des Großen Coesre.«
Angélique barg den Dolch wieder in ihrem Gürtel.
»Du mußt mir helfen, Rosine. Mein Kind ist hinter jener Tür. Jean-Pourri hat es dort eingeschlossen. Ich muß es wiederhaben.«
»Der Doppelschlüssel ist dort«, sagte das Mädchen. »Jean-Pourri hat ihn dem Großen Coesre anvertraut. In seinem Wagen.«
Sie bückte sich zu dem reglosen, abstoßenden Körper. »Da ist er.«
Sie selbst schob den Schlüssel in die knirschenden Schlösser. Die Tür ging auf. Angélique tastete sich ins Innere des Verlieses und ergriff Florimond, den Linot auf dem Arm hielt. Das Kind weinte nicht, noch schrie es, aber es war vor Kälte erstarrt und umfing mit seinen beiden mageren Ärmchen so fest ihren Hals, daß ihr fast der Atem verging.
»Jetzt hilf mir, aus dieser Höhle herauszukommen«, bat sie Rosine.
Linot und Flipot klammerten sich an ihre Röcke. Sie befreite sich von den kleinen, schmierigen Händen, aber die Jungen liefen hinter ihr drein.
»Laß uns nicht im Stich, Marquise der Engel!«
Plötzlich legte Rosine, die sie zu einer Treppe gedrängt hatte, den Finger an die Lippen.
»Pst! Es kommt jemand herauf.«
Schwere Schritte hallten im unteren Stockwerk wider.
»Es ist Bavottant, der Schwachsinnige. Kommt schnell!«
Und sie zog Angélique und die Kinder mit sich. Als sie eben atemlos die Straße erreichten, stieg ein unmenschliches Jammergeschrei aus den Gründen des Palasts des Großen Coesre auf. Es war Bavottant, der Schwachsinnige, der vor dem Leichnam des königlichen Zwergs, den er so lange umsorgt hatte, seinem Schmerz freien Lauf ließ.
»Rasch, rasch!« drängte Rosine.
Keuchend rannten sie durch das Gewirr der dunklen Gassen, das kein Ende zu nehmen schien. Immer wieder glitten ihre bloßen Füße auf dem schlüpfrigen Pflaster aus. Endlich verlangsamte das junge Mädchen den Schritt.
»Da sind die Laternen«, sagte es. »Das ist die Rue Saint-Martin.«
»Wir müssen noch weiter. Sie könnten uns verfolgen.«
»Bavottant kann nicht sprechen. Niemand wird begreifen, was geschehen ist. Vielleicht glaubt man sogar, daß er ihn umgebracht hat. Später wird man einen neuen Großen Coesre einsetzen. Und ich werde niemals dorthin zurückkehren. Ich bleibe bei dir, weil du ihn getötet hast.«
»Und wenn Jean-Pourri uns findet?« fragte Linot.
»Er wird euch nicht finden. Ich beschütze euch alle.«
Rosine deutete auf einen blassen Schimmer am Firmament, der die Laternen verbleichen ließ.
»Schau, die Nacht ist vorbei.«
»Ja, die Nacht ist vorbei«, wiederholte Angélique nachdrücklich.
Im Kloster Saint-Martin-des-Champs verteilte man des Morgens eine Suppe an die Armen. Die vornehmen Damen, die der Frühmesse beigewohnt hatten, halfen den Nonnen bei diesem Liebeswerk. Ihre Gäste, die sich oft genug mit dem Straßengraben als Nachtquartier hatten begnügen müssen, genossen im großen Refektorium ein paar flüchtige Augenblicke des Wohlbehagens. Jeder von ihnen bekam einen Napf mit heißer Fleischbrühe und ein rundes Brot.
Hier war es, wo Angélique mit Florimond auf dem Arm landete, gefolgt von Rosine, Linot und Flipot. Alle fünf waren sie erschöpft und schmutzbedeckt.
Der Duft der Suppe war recht einladend, aber Angélique wollte erst Florimond trinken lassen, bevor sie sich selbst sättigte. Behutsam führte sie die Schale an die Lippen des Kleinen, der mit halbgeschlossenen Augen hastig atmete, als könne sein durch die Angst überanstrengtes Herz nicht zum normalen Rhythmus zurückfinden. Apathisch ließ er die Fleischbrühe von seinen Lippen herabrinnen. Indessen belebte ihn die Wärme der Flüssigkeit, er stieß auf, und es gelang ihm, einen Mundvoll zu schlucken. Dann streckte er selbst die Hände nach der Schale aus, um gierig zu trinken.
Angélique betrachtete das kleine, unter dem dunklen, wirren Haarschopf fast verschwindende Gesicht-chen.
»Das also«, sagte sie bei sich, »hast du aus dem Sohn Joffreys de Peyrac gemacht, aus dem Nachkommen der Grafen von Toulouse, dem Kind der Blumenspiele, zum Licht und zur Freude geboren .«