142424.fb2 Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 144

Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 144

Es war, als erwache sie endlich aus langer Stumpfheit und als gebe ihr erst dieses Erwachen den Blick frei auf ihr grausiges, ruiniertes Leben. Was hatte sie mit ihrem Kind geschehen lassen! Ein wilder Zorn auf sich selbst und die Welt überkam sie, und obgleich sie nach dieser fürchterlichen Nacht hätte erschöpft und leer sein müssen, fühlte sie sich jäh von einer wunderbaren Kraft überflutet.

»Nie mehr ...«, sagte sie sich, »nie mehr wird er hungern ... wird er frieren ... Nie mehr wird er sich ängstigen. Ich schwöre es.«

Aber warteten draußen vor der Klostertür nicht der Hunger, die Kälte und die Angst auf sie? Es mußte etwas geschehen. Sofort.

Angélique sah sich um. Sie war nur eine jener bejammernswürdigen Mütter, eine jener »Armen«, die nichts zu fordern haben und über die sich die eleganten Damen aus Barmherzigkeit neigten, bevor sie wieder zu ihren literarischen Zirkeln und Hofintrigen zurückkehrten.

Mit einem Schleiertuch über dem Haar, das die gleißenden Perlen verbarg, und einer an Samt und Seide gehefteten Schürze gingen die hochwohlgeborenen Wohltäterinnen vom einen zum andern. Eine Magd folgte ihnen mit einem Korb, dem die Damen Kuchen, Obst, zuweilen Pasteten oder halbe Hühner entnahmen, die Reste der fürstlichen Tafeln.

»O meine Liebe«, sagte eine von ihnen, »Ihr seid recht mutig, Euch in Eurem Zustand zu so früher Stunde zum Almosenausteilen zu begeben. Gott wird es Euch lohnen.«

»Ich will es hoffen, Teuerste.«

Das Auflachen, das diesen Worten folgte, kam Angélique vertraut vor. Sie blickte auf und erkannte die Herzogin von Soissons, der die rothaarige Bertille einen Umhang aus blauer Seide reichte. Die Herzogin hüllte sich fröstelnd in ihn ein.

»Es ist nicht recht vom lieben Gott, daß er die Frauen zwingt, neun Monate lang die Frucht eines kurzen Vergnügens in ihrem Schoß zu tragen«, sagte sie zu der Äbtissin, die sie zur Tür begleitete.

»Was bliebe den Menschen, wenn in den irdischen Dingen alles nur Vergnügen wäre«, erwiderte die Nonne lächelnd.

Angélique erhob sich und reichte Linot ihren Sohn.

»Hüte Florimond.«

Aber der Kleine klammerte sich an sie und schrie. So entschloß sie sich, ihn bei sich zu behalten, und gebot den andern:

»Bleibt da und rührt Euch nicht von der Stelle.«

Eine Kutsche wartete in der Rue Saint-Martin. Als die Herzogin von Soissons sich anschickte einzusteigen, trat eine ärmlich gekleidete Frau mit einem Kind im Arm zu ihr und sagte: »Madame, mein Kind stirbt vor Hunger und Kälte. Gebt einem Eurer Lakaien Anweisung, an einen von mir bezeichneten Ort einen Karren mit Brennholz, einen Topf Suppe, Brot, Decken und Kleidung zu bringen.«

Die vornehme Dame musterte die Bettlerin verwundert.

»Ihr seid ja reichlich keck, Mädchen. Habt Ihr heute früh nicht Euren Teller Suppe bekommen?«

»Von einem Teller Suppe kann ich nicht leben, Madame. Was ich von Euch erbitte, ist wenig im Vergleich zu Eurem Reichtum. Ihr werdet mir einen Karren voll Holz und Nahrung zukommen lassen, bis ich mich auf andere Weise behelfen kann.«

»Unerhört!« rief die Herzogin aus. »Hörst du das, Bertille? Diese Bettlerinnen werden jeden Tag unverschämter! Laßt mich los, Weib! Rührt mich nicht an mit Euren schmutzigen Händen, sonst lasse ich Euch von meinen Lakaien prügeln.«

»Seht Euch vor, Madame«, sagte Angélique leise. »Seht Euch vor, daß ich nichts von Kouassi-Bas Kind erzähle!«

Die Herzogin, die ihre Röcke gerafft hatte, um in die Kutsche zu steigen, hielt wie erstarrt inne.

Angélique fuhr fort:

»Ich kenne im Faubourg Saint-Denis ein Haus, in dem ein Mohrenkind aufgezogen wird .«

»Sprecht leiser«, zischte Madame de Soissons wütend.

Sie drängte sie ein Stück beiseite.

»Was ist das für eine Geschichte?« fragte sie in trok-kenem Ton. Und um sich Haltung zu geben, schlug sie ihren Fächer auf und bewegte ihn heftig, obwohl ein scharfer Wind wehte.

Da Florimond auf Angéliques steifen Gliedern zu lasten begann, nahm sie ihn auf den andern Arm.

»Ich kenne ein Mohrenkind, das nicht bei seiner Mutter aufwächst. Es ist in Fontainebleau an einem gewissen, mir bekannten Tage zur Welt gekommen, unter dem Beistand einer gewissen Frau, deren Namen ich jedem, der es wissen will, sagen könnte. Der Hof wird sich vermutlich höchlichst amüsieren, wenn er erfährt, daß Madame de Soissons ein Kind dreizehn Monate lang in ihrem Schoß getragen hat!«

»O dieses liederliche Weibsbild!« rief die schöne Olympe aus, die ihr südliches Temperament wieder einmal nicht zu zügeln vermochte. Sie fixierte Angélique und versuchte, sie zu identifizieren, aber die junge Frau senkte nur die Augen, fest überzeugt, daß niemand hinter ihrem ärmlichen Äußeren die strahlende Madame de Peyrac vermuten würde.

»Nun ist es wirklich genug!« erklärte die Herzogin von Soissons zornig und rauschte auf ihre Kutsche zu. »Ihr verdient, daß ich Euch prügeln lasse. Ich kann es nicht leiden, wenn man sich über mich lustig macht.«

»Der König kann es auch nicht leiden, wenn man sich über ihn lustig macht«, flüsterte Angélique, die ihr auf dem Fuße folgte.

Die Dame wurde puterrot, ließ sich auf das Samtpolster sinken und ordnete erregt ihre Röcke.

»Der König! Der König ...! Eine Landstreicherin ohne Hemd erlaubt sich, vom König zu reden! Es ist unerträglich! Nun, und? Was wollt Ihr .?«

»Ich habe es Euch bereits gesagt, Madame. Sehr wenig: eine Fuhre Holz, warme Kleider für mich selbst, für mein Kleines und meine acht- und zehnjährigen Jungen, ein wenig Nahrung .«

»Oh, daß man mit mir so zu sprechen wagt! Welche Erniedrigung!« knirschte Madame de Soissons. »Und da beglückwünscht sich dieser Narr von Polizeipräfekt zu seinem Unternehmen auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain und behauptet, er habe die gefährlichste Gaunerbande der Stadt zerschlagen ... Warum schließt ihr den Wagenschlag nicht, ihr Tölpel!« rief sie, zu den Lakaien gewandt.

Einer von ihnen schob Angélique beiseite, um dem Befehl seiner Herrin nachzukommen, aber sie gab sich nicht geschlagen und trat abermals an die Kutschentür.

»Kann ich mich im Palais Soissons, Rue Saint-Honoré, melden?«

»Meldet Euch«, sagte die Herzogin trocken. »Ich werde Anweisungen erteilen.«

So sah denn Meister Bourgeaud, Bratkoch der Rue de la Vallée-de-Misère, der gerade über seiner ersten Pinte Wein hockte und melancholisch an die lustigen Liedchen dachte, die ehedem zu dieser Stunde die Meisterin Bourgeaud zu singen pflegte, einen wunderlichen Aufzug in seinem Hof eintreffen.

Ein aus zwei jungen Frauen und drei Kindern bestehendes Grüppchen abgerissener Gestalten schritt vor einem Diener in vornehmer, kirschroter Livree einher, welch letzterer höchst mißvergnügt einen mit Holz und Kleidungsstücken beladenen Karren zog. Um das seltsame Bild zu vervollständigen, hockte ein kleiner Affe auf dem Karren, dem es offensichtlich Spaß machte, sich spazierenfahren zu lassen, und der den Vorübergehenden Grimassen schnitt. Einer der Knaben trug eine Bettlerleier, deren Saiten er munter zupfte.

Meister Bourgeaud sprang auf, fluchte, schlug mit der Faust auf den Tisch und erschien in der Küche, als Angélique eben Florimond in Barbes Arme legte.

»Ja, was denn? Was ist denn das?« stammelte er außer sich. »Willst du mir gar wieder erzählen, daß der da dir gehört? Wo ich dich für ein braves und ehrsames Mädchen gehalten habe, Barbe?«

»Meister Bourgeaud, hört mich an .«

»Ich will nichts hören! Man betrachtet meine Bratstube als ein Asyl! Ich bin entehrt .«

Er warf seine Kochmütze auf den Boden und lief hinaus, um einen Polizisten zu holen.

»Behalte die beiden Kleinen hier bei dir in der Wärme«, sagte Angélique zu Barbe. »Ich mache droben in deinem Zimmer Feuer.«

Der verdutzte und gekränkte Lakai der Madame de Soissons mußte also die Holzscheite über eine wacklige Treppe in den siebenten Stock hinaufschaffen und sie in einem kleinen Raum ablegen, der nicht einmal ein mit Vorhängen versehenes Bett auf wies.

»Und du wirst der Frau Herzogin einschärfen, daß sie mir dasselbe jeden Tag bringen läßt«, sagte Angélique zu ihm, als sie ihn verabschiedete.

Der Lakai räusperte sich ominös. »Hör mal, meine Schöne, wenn du meine Meinung wissen willst .«

»Ich will deine Meinung nicht wissen, Dummkopf, und ich verbiete dir, mich zu duzen«, schloß Angélique in einem Ton, der sich mit ihrem zerrissenen Mieder und den abgeschnittenen Haaren schlecht vertrug.