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»Bis morgen, Barbe«, flüsterte sie.
»Wohin geht Madame?«
»Es bleibt mir noch ein Letztes zu tun«, sagte Angélique. »Dann bin ich endlich fertig damit. Das Leben kann neu beginnen.«
Von der Rue de la Vallée-de-Misère waren es nur ein paar Schritte bis zum Châtelet. Angélique mochte ihren Schritt noch so sehr verlangsamen, sie befand sich bald vor dem von zwei Türmchen eingerahmten und von einem Uhrturm überragten Hauptportal. Wie am Tage zuvor war das Gewölbe von Fackeln erleuchtet.
Angélique näherte sich dem Eingang, dann zögerte sie, schlug eine andere Richtung ein und begann durch die benachbarten Straßen zu wandern, in der Hoffnung, ein plötzliches Wunder werde das düstere Schloß vom Erdboden verschwinden lassen, dessen dicke Mauern schon sechs Jahrhunderten getrotzt hatten. Die Geschehnisse dieses letzten Tages hatten das dem Hauptmann der Wache gegebene Versprechen aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Erst Barbes Worte hatten es ihr wieder in Erinnerung gerufen. Nun war die Stunde gekommen, es einzulösen.
»Komm«, sagte sie sich, »du gewinnst nichts, wenn du draußen bleibst. Es muß nun mal sein.«
Also kehrte sie zum Gefängnis zurück und trat beherzt in die Wachstube.
»Ah, da bist du ja!« sagte der Hauptmann.
Er saß rauchend am Kamin und hatte beide Füße auf den Tisch gelegt.
»Ich hätte nicht gedacht, daß sie wiederkommen würde«, sagte einer der Männer.
»Ich schon«, versicherte der Hauptmann. »Weil ich zwar Kerls gesehen habe, die wortbrüchig geworden sind, aber nie eine Dirne. Nun, mein Schätzchen .?«
Ein eiskalter Blick traf sein hochgerötetes Gesicht. Ungerührt streckte der Hauptmann die Hand aus und zwickte sie freundschaftlich ins Hinterteil.
»Man wird dich jetzt zum Wundarzt bringen, damit er nachsehen kann, ob du nicht etwa krank bist. Wenn du es bist, wird er dir Salbe auflegen. Ich bin nämlich sehr heikel, mußt du wissen. Also, vorwärts!«
Ein Polizist führte Angélique zum Amtsraum des Wundarztes und von dort nach erfolgter Untersuchung über düstere Treppen und Flure ins Zimmer des Hauptmanns. Eine Weile blieb sie allein in dem Raum, dessen Fenster wie die einer Zelle vergittert und dessen dicke Wände nur mangelhaft mit schäbigen, ausgefransten Bergamo-Teppichen verkleidet waren. Die Luft roch nach altem Leder, nach Tabak und Wein. Angélique blieb stehen, wo der Polizist sie verlassen hatte, unfähig, sich zu setzen oder überhaupt etwas zu tun, krank vor Beklemmung und immer mehr erstarrend, denn die kühle Feuchtigkeit des Orts war durchdringend.
Endlich war im Gang die raunzende Stimme des Hauptmanns zu vernehmen. Polternd und eine wahre Flut wüster Beschimpfungen ausstoßend, trat er ein.
»Was für ein faules Gesindel! Unfähig, allein mit etwas fertig zu werden! Wenn ich nicht wäre!«
Er schleuderte seinen Degen und seine Pistole auf den Tisch, ließ sich schnaufend auf den nächsten Schemel sinken und befahl, Angélique einen Fuß entgegenstreckend: »Zieh mir meine Stiefel aus!«
Angéliques Blut wallte auf.
»Ich bin nicht Eure Magd!«
»Hör sich das einer an!« murmelte der Hauptmann und stemmte seine Hände auf die Knie.
Doch schon sagte sich Angélique, daß es töricht sei, in einem Augenblick den Zorn des Menschenfressers zu reizen, in dem sie völlig seiner Gnade ausgeliefert war. Sie versuchte, nachträglich ihre unüberlegten Worte zu mildern:
»Ich würde es gern tun, aber ich versteh’ mich nicht auf das Soldatenzeug. Eure Stiefel sind so groß und meine Hände so klein. Schaut doch.«
»Stimmt, sie sind klein, deine Hände. Du hast Prinzessinnenhände.«
»Ich kann’s versuchen .«
»Laß sein, Täubchen«, knurrte er und stieß sie zurück. Danach packte er einen seiner Stiefel und begann, aus Leibeskräften zu ziehen, wobei er fürchterliche Grimassen schnitt. Bis draußen eilige Schritte über den fliesenbelegten Gang klapperten; und eine bedrängte Stimme rief:
»Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«
»Was ist los?«
»Eben haben sie eine Leiche angeschleppt, die beim Petit-Pont aufgefischt worden ist.«
»Schafft sie ins Schauhaus.«
»Ja ... Aber sie hat eins mit dem Dolch in den Bauch gekriegt. Ihr müßt schon kommen und bestätigen.«
Der Hauptmann fluchte, stieß den schon halbwegs befreiten Fuß wieder in den Stiefel zurück und stürzte hinaus.
Angélique wartete von neuem und erstarrte immer mehr zu Eis. Sie begann schon zu hoffen, daß die Nacht auf diese Weise vergehen oder daß er nicht wiederkommen oder daß ihm am Ende gar ein Unglück zustoßen werde, als das Châtelet abermals von seiner gewaltigen Stimme widerhallte. Ein Polizist begleitete ihn.
»Zieh mir die Stiefel aus«, sagte er zu ihm. »So. Und nun verdufte. Und du, Mädchen, leg dich in die Falle, statt zähneklappernd herumzustehen.«
Angélique wandte sich zum Alkoven und begann sich auszuziehen. Es war ihr, als presse ihr eine Hand das Herz zusammen. Sie wußte nicht recht, ob sie sich auch ihres Hemdes entledigen solle, und entschied sich schließlich, es anzubehalten. Trotz ihrer Beklemmung empfand sie dann doch ein Gefühl des Wohlbehagens, als sie unter die Decken schlüpfte. Die Pfühle waren weich, und ganz allmählich wurde ihr wieder warm. Sie zog das Laken übers Kinn, während sie den Hauptmann sich gleichfalls ausziehen hörte.
Es war so etwas wie ein Naturphänomen: Er knirschte, schnaubte, ächzte, grunzte, und der Schatten seiner riesigen Gestalt füllte eine ganze Wand aus.
Er nahm die prächtige braune Perücke ab und stülpte sie sorgsam über einen hölzernen Pilz. Nachdem er sich sodann energisch den kahlen Schädel gerieben hatte, warf er seine letzten Kleidungsstücke von sich.
Auch jetzt noch, ohne Stiefel und Perücke, im Adamskostüm, wirkte der Hauptmann höchst imposant. Sie hörte ihn in einem Eimer Wasser planschen, dann kam er, ein Handtuch züchtig um die Lenden geknotet, zurück. In diesem Augenblick wurde abermals an die Tür geklopft.
»Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«
Er öffnete.
»Herr Hauptmann, die Wachpatrouille ist zurückgekehrt und meldet, in der Rue des Martyrs sei ein Haus ausgeraubt worden .«
»Schockschwerenot!« donnerte der Hauptmann. »Wann, in drei Teufels Namen, merkt ihr endlich, daß ich der Märtyrer bin! Seht ihr nicht, daß ich ein knuspriges Hühnchen in meinem Bett habe, das seit drei Stunden auf mich wartet? Glaubt ihr, ich habe Zeit, mich um eure Albernheiten zu kümmern?«
Krachend schlug er die Tür zu, schob mit Getöse die Riegel vor und stand einen Augenblick lang nackt und kolossal da, während er die unflätigsten Schimpfworte ausstieß. Dabei schlang er ein Tuch um seine Glatze und ließ kokett zwei Zipfel über der Stirn herausragen.
Endlich ergriff er den Leuchter und näherte sich behutsam dem Alkoven.
Angélique sah den roten Riesen auf sich zukommen, dessen gehörnter Kopf einen grotesken Schatten an die Decke warf. Entspannt durch die Wärme des Betts, erschlafft durch das lange Warten und schon nahe am Einschlafen, fand sie diese Erscheinung so komisch, daß sie unwillkürlich lachen mußte. Der Menschenfresser blieb überrascht stehen, und sein Vollmondgesicht nahm einen jovialen Ausdruck an.
»Hoho! Das Schätzchen lächelt mich an! Darauf war ich ja gar nicht gefaßt! Bisher hab’ ich nur feststellen können, daß du eine Meisterin im Abschießen eisiger Blicke bist. Aber ich sehe, daß du auch Spaß verstehst. Hehe! Du lachst, meine Schöne! Gut so! Hehe! Hohoho!«
Er lachte aus vollem Hals, und mit seiner Haube und seinem Leuchter schien er ihr so komisch, daß Angélique in ihrem Kopfkissen schier erstickte. Mit tränenfeuchten Augen gelang es ihr endlich, sich zu beherrschen. Sie war wütend über sich selbst, denn sie hatte sich fest vorgenommen, würdevoll und gleichgültig zu sein, nur das zu gewähren, was man von ihr verlangen würde, und nun lachte sie wie ein Freudenmädchen, das seinen Kunden zufriedenstellen will.
»Gut so, meine Hübsche, gut so«, wiederholte der Hauptmann höchst vergnügt. »Nun rück mal ein bißchen und mach mir ein Plätzchen neben dir.«
Dieses »Plätzchen«, das er verlangte, hätte beinahe aufs neue Angéliques nervöse Heiterkeit erregt. Doch zugleich überkam sie der Gedanke an das, was ihr bevorstand. Während er sich ins Bett schwang, wich sie auf die entgegengesetzte Seite zurück und blieb dort zusammengekauert, stumm und wie gelähmt liegen.