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»Du willst nicht, daß sie stehlen, du willst nicht, daß sie betteln. Was willst du denn, daß sie tun?«
»Daß sie arbeiten.«
»Aber das ist doch Arbeit«, wandte das Mädchen ein.
»Nein. Komm und hilf mir, Florimond und Cantor in die Küche zu bringen. Du wirst auf sie achten und Barbe helfen.«
Sie war froh, die beiden Kleinen in diesem von Wärme und nahrhaften Küchendüften erfüllten weiträumigen Bezirk lassen zu können. Florimond steckte in einem kleinen Rock aus braungrauem Tamin, einem Leibchen aus gelber und einer Schürze aus grüner Serge. Dazu trug er ein Häubchen aus dem gleichen grünen Stoff. Diese Farben bewirkten, daß sein zartes Gesichtchen noch kränklicher aussah. Sie legte ihre Hand auf seine Stirn, um festzustellen, ob er etwa fieberte. Er wirkte munter, wenn auch zuweilen ein wenig launisch und mäkelig. Was Cantor betraf, so vergnügte der sich seit dem Morgen damit, unermüdlich das Leinenzeug abzustreifen, in das ihn Rosine mit nicht eben geschickten Händen zu wickeln versucht hatte. In dem Korb, in dem man ihn unterbrachte, richtete er sich, nackt wie ein Engelchen, sofort wieder auf und gab zu verstehen, daß er herauswolle, um die Flammen zu fangen.
»Dieses Kind ist nicht richtig aufgezogen worden«, stellte Barbe sorgenvoll fest. »Hat man ihm jemals Arme und Beine gewickelt, wie es sich gehört? Es wird sich nicht gerade halten können und womöglich bucklig werden.«
»So wie’s da liegt, wirkt es für ein Kind von neun Monaten ganz hübsch kräftig«, bemerkte Angélique, die die wohlgerundeten Hinterbäckchen ihres Jüngsten bewunderte.
Doch Barbe gab sich nicht zufrieden. Das Cantor sich so frei bewegte, ließ ihr keine Ruhe.
»Sobald ich einen Augenblick Zeit habe, werde ich Mullbinden zuschneiden, um ihn zu wickeln. Heute morgen ist allerdings nicht dran zu denken. Meister Bourgeaud ist ganz aus dem Häuschen. Stellt Euch vor, Madame, er hat mich angewiesen, die Fliesen aufzuwaschen, die Tische zu wachsen, und außerdem soll ich auch noch zum Temple laufen und weiche Kreide kaufen, um das Zinn zu putzen. Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht .«
»Sag Rosine, sie soll dir helfen.«
Nachdem sie ihre kleine Welt versorgt hatte, machte sich Angélique guten Muts auf den Weg zum Pont-Neuf. Die Blumenverkäuferin erkannte sie nicht. Angélique mußte ihr Einzelheiten jenes Tags in Erinnerung rufen, an dem sie ihr beim Blumenbinden geholfen und ihre Komplimente eingeheimst hatte.
»Ja, wie kann ich dich denn auch wiedererkennen?« rief die gute Frau aus. »Damals hattest du Haare und keine Schuhe. Heute hast du Schuhe und keine Haare. Nun, deine Finger haben sich hoffentlich nicht verändert ... Setz dich ruhig zu uns. An Arbeit fehlt’s nicht in dieser Allerheiligenzeit. Bald werden sich die Friedhöfe und die Kirchen mit Blumen schmücken, von den Bildern der Verstorbenen ganz zu schweigen.«
Angélique setzte sich unter den roten Schirm und machte sich gewissenhaft und geschickt ans Werk. Sie atmete die Luft des Pont-Neuf mit einem aus Zufriedenheit und Entsetzen gemischten Gefühl. Der von der Seine kommende Wind streifte feucht liebkosend ihre Lippen. Dicke Wolken zogen vorüber, doch die Sonne zerteilte sie, und am zartfarbigen Horizont des Flusses zeichnete sich die bezaubernde Silhouette von Paris ab. Angéliques Blick blieb am Justizpalast haften, der den Schatten seiner Türme auf den Pont-Neuf warf und gewisse Erinnerungen in ihr weckte. Doch was kümmerte sie das? Sie fühlte sich hier wohl und geborgen, und sie war froh, keinen der armen Schlucker zu kennen, die sich da herumtrieben. Sollte die Herrschaft Calembredaines, des berüchtigten Strolches vom Pont-Neuf, wirklich für immer zu Ende gegangen sein? Die Polizei und seine Genossen von der Gaunerzunft schienen sich förmlich in ihren Bemühungen vereinigt zu haben, ihn zu vernichten. Wo war er? Gehenkt? Ertrunken? Sie starrte in die trägen, blaugrauen Fluten der Seine. Sie empfand keinerlei Regung. Sie gestand sich sogar eine tiefe Erleichterung darüber ein, dieser eisernen Faust entronnen zu sein, die sie zwar beschützt, zugleich aber auch noch tiefer in die Abgründe des Verbrechens hineingezerrt hatte.
Wie berauscht war sie von ihrer zurückgewonnenen Freiheit. Ihre Kraft schien ihr grenzenlos. Schritt für Schritt würde sie den Abhang wieder erklimmen, ihren beiden Söhnen einen Namen geben. Nie mehr sollten sie hungern, nie mehr frieren ...
Die Händlerinnen redeten über die Schlacht auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain. Man zählte noch, wie es schien, die Toten jener besonders blutigen Schlägerei. Aber diesmal, das mußte man zugestehen, war die Polizei ihrer Aufgabe völlig gewachsen gewesen. Seit dem berühmten Abend begegnete man auf den Straßen Rudeln von Gaunern, die von den Bütteln ins Arbeitshaus geführt wurden, oder Ketten von Sträflingen, die man auf die Galeeren brachte. Und an jedem Morgen fanden auf der Place de Grève zwei oder drei Hinrichtungen statt.
»Ihr werdet sehen«, versicherte die dicke Händlerin, die in der Innung der Blumenbinderinnen eine gewichtige Stellung einzunehmen schien, »unser junger König wird uns von diesem Ungeziefer befreien. Es heißt, er sei entschlossen, große Reformen durchzuführen. In Kürze soll jeder Bettler und Eckensteher, der keine Wohnung nachweisen kann, festgenommen und zwangsweise in ein Asyl eingewiesen werden.«
»Das ist ein König nach unserm Geschmack!« rief ein hübsches Mädchen, das einen Korb mit Nelken trug. »Er ist schön! Ich sah ihn eines Tages, als er in seiner Kutsche durch die Rue de la Vannerie fuhr. >Es lebe der König!< hab’ ich gerufen und ihm ein Sträußchen zugeworfen. Es ist in den Rinnstein gefallen, aber er hat es gesehen und freundlich gelächelt.«
»Er scheint in eine Hofdame der Königin verliebt zu sein und sie zu seiner Favoritin gemacht zu haben. Er soll sie mit Juwelen überschütten.«
»Da habt ihr wieder einmal eine der Klatschgeschichten dieses Reptils von Schmutzpoeten«, sagte die dicke Händlerin giftig. »Na, man weiß ja, daß die Männer nicht viel taugen! Trotzdem möchte ich behaupten, daß der Schmutzpoet diesmal gelogen hat, denn, mögen sie noch so große Schweine sein, es gibt keinen Mann, der so was seiner Frau antun würde, wenn sie dabei ist, ihr ersten Kind zu kriegen. Später ist es was anderes. Das Fleisch ist schwach.«
»Patin, ich werde dem Schmutzpoeten erzählen, was Ihr über den König gesagt habt.«
»Du kannst ruhig deinen Schnabel wetzen, mein Herzchen. Er ist im Gefängnis, und man wird ihn hängen.«
»Ich glaub’ es nicht. Er rückt jedesmal aus. Im übrigen wird er von uns gebraucht, denn er soll doch unsern Glückwunsch für die Königin verfassen.«
»Wir sind auf diesen galligen Liederjan nicht angewiesen«, versicherte die dicke Händlerin, die offensichtlich nichts für ihn übrig hatte. »Es gibt genug andere Poeten, die sich für unsere Gedichte ins Zeug legen würden; und acht Stände werden errichtet, um sie beim ersten Böllerschuß zu verteilen, der der Stadt die Geburt verkündet.«
»Beim fünfundzwanzigsten Böllerschuß wird man wissen, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist. Vierundzwanzig Böllerschüsse für eine Prinzessin, hundert für den Dauphin.«
Angelegentlich wurde über den Putz diskutiert, mit dem die Damen Blumen- und Apfelsinenverkäuferinnen vom Pont-Neuf sich auszustaffieren gedachten, wenn sie zusammen mit den Fischfrauen der Markthalle der jungen Wöchnerin und dem Dauphin die guten Wünsche der Händlerinnen von Paris überbringen würden.
»Im Augenblick«, erklärte Angéliques Meisterin, »geht mir eine andere Sorge im Kopf herum: Wohin soll unsere Innung tafeln gehen, um den Saint-Valbonne-Tag würdig zu feiern? Der Wirt der >Guten Kinder< hat uns im vergangenen Jahr wüst geprellt. Keinen Sol tu ich mehr in dessen Börse.«
Angélique mischte sich in die Unterhaltung, der sie bis dahin stumm gelauscht hatte, wie es sich für ein anständiges Lehrmädchen gehört.
»Ich kenne eine vorzügliche Bratküche in der Rue de la Vallée-de-Misère, die gar nicht teuer ist und wo man nahrhafte und neuartige Gerichte bereitet.«
Sie zählte hastig auf, was ihr an Spezialitäten der Peyracschen Tafel einfiel, bei deren Herstellung sie Hand angelegt hatte:
»Hummerpasteten, mit Fenchel gefüllten Truthahn, Lammfrikassee, ganz zu schweigen von den Mandelschnitten, den Fleischpasteten und den Aniswaffeln. Aber, meine Damen, Ihr bekommt dort auch etwas vorgesetzt, das selbst Seine Majestät Ludwig XIV noch nie auf seiner Tafel gesehen hat: kleine, brennende Windbeutel, die eine Nuß aus gefrorener Gänseleber enthalten, ein wahres Wunder.«
»Hui, Mädchen, du machst uns den Mund wäßrig!« riefen die Händlerinnen aus. »Wie heißt denn das Lokal?«
»Zum >Kecken Hahn<, die letzte Bratstube der Rue de la Vallée-de-Misère in der Richtung des Quai des Tanneurs.«
»Meiner Treu, ich glaube nicht, daß man dort einen sonderlich guten Tisch führt. Mein Alter, der in der großen Metzgerei arbeitet, geht manchmal zum Vespern hinüber und sagt, es sei eine trübselige und wenig einladende Wirtschaft.«
»Da hat man Euch etwas ganz Falsches berichtet, meine Liebe. Bei Meister Bourgeaud, dem Wirt, ist gerade eben ein Neffe aus Toulouse eingetroffen, ein raffinierter Koch, der eine ganze Menge Gerichte aus dem Süden kennt. Vergeßt nicht, daß in Toulouse die Blumen Königinnen sind. Der heilige Valbonne wird beglückt sein, wenn man ihn unter diesem Zeichen feiert! Und im >Kecken Hahn< ist auch ein Äffchen, das lustige Grimassen schneidet. Und ein Leiermann, der alle Lieder des Pont-Neuf kennt. Kurzum, es ist alles da, was dazugehört, um sich in guter Gesellschaft zu vergnügen.«
»Hör mal, du scheinst mir für das Reklamemachen noch begabter zu sein als für das Blumenbinden. Ich werde dich zu dieser Bratstube begleiten.«
»Nur nicht heute! Der Koch aus Toulouse ist auf die Felder gegangen, um persönlich den Kohl für eine göttliche Specksuppe auszuwählen, deren Rezept er allein kennt. Aber morgen abend wird man Euch erwarten, Euch und zwei weitere Damen, damit Ihr nach Eurem Belieben ein Menü zusammenstellt.«
»Und du, was machst du in dieser Bratküche?«
»Ich bin eine Verwandte Meister Bourgeauds«, erklärte Angélique ohne Umschweife. »Mein Mann war Zuckerbäcker. Er hatte noch nicht seine Meisterprüfung abgelegt, als er an der Pest starb. Er ließ mich in größter Armut zurück, denn wir hatten seiner Krankheit wegen beim Apotheker beträchtliche Schulden gemacht.«
»Was Apothekerrechnungen anbelangt, können wir auch ein Liedchen singen!« seufzten die guten Frauen mit einem bekümmerten Blick gen Himmel.
»Meister Bourgeaud hat mich aus Mitleid aufgenommen, und ich helfe ihm im Geschäft. Aber da die Kundschaft rar ist, suche ich mir nebenbei ein bißchen Geld zu verdienen.«
»Wie heißt du, meine Schöne?« - »Angélique.«
Worauf sie aufstand und sagte, sie müsse gehen, um sofort den Bratkoch ins Bild zu setzen.
Während sie raschen Schrittes der Rue de la Vallée-de-Misère zustrebte, wunderte sie sich über all die Lügen, die sie an einem einzigen Vormittag von sich gegeben hatte. Sie suchte gar nicht den aus heiterem Himmel gekommenen Einfall zu begreifen, der sie veranlaßt hatte, Gäste für Meister Bourgeaud zu werben. Wollte sie sich dem Bratkoch, der sie schließlich doch nicht hinausgeworfen hatte, dankbar erweisen? Hoffte sie auf eine Belohnung von seiner Seite? Sie stellte sich keine Fragen. Der plötzlich hellwach gewordene Instinkt der Mutter, die ihre Kleinen verteidigt, trieb sie vorwärts.
An der Biegung des Quai de la Mégisserie tauchten die Türme des Châtelet auf, aber das Geschehen der vergangenen Nacht schien ihr schon in weite Ferne entrückt. Sie machte unwillkürlich eine Bewegung wie jemand, der einen Kieselstein über seine Schulter wirft. So warf sie auch diese Erinnerung mit manchen anderen hinter sich.
Am nächsten Morgen stand Angélique in aller Herrgottsfrühe auf und weckte Barbe. Offenbar hatte das derbe Mädchen noch nicht recht erfaßt, welche Rolle Angélique bei der Vorbereitung des Festmahls der Innung zu übernehmen gedachte.
»Schlaft doch noch, Herrin«, sagte sie gähnend und sich die Augen reibend. »Daheim in Eurer Familie wart Ihr sicher nicht gewohnt, so früh aufzustehen.«
»Du irrst dich, Barbe. Ich stehe gern früh auf: alte ländliche Gewohnheit. Und was meine Familie betrifft, so kennst du sie ja nicht, außer meiner Schwester, und von der redest du mir besser nicht. Außerdem - was vorbei ist, ist vorbei, und wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann mach in Zukunft keine Anspielungen mehr.«
Barbe war sprachlos. Sie schneuzte sich geräuschvoll und protestierte gegen eine Beschuldigung, die ihr schrecklich vorkam.