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Doch war er bereits überzeugt, ein wagemutiger Geschäftsmann zu sein.
Ein wenig später trat Angélique in den Hof, um die frische Morgenluft einzuatmen. Sie drückte die Hand, die die Goldstücke umschloß, fest an die Brust. Dies war der Schlüssel zur Freiheit. Meister Bourgeaud war gewiß nicht betrogen worden. Angélique rechnete sich aus, daß sie mit ihrer kleinen Truppe, falls sie sich von den Überbleibseln der Festmähler ernähren und in Zukunft mit ihren Bemühungen auch ihre Einnahmen vermehren konnte, schließlich ein kleines Vermögen zusammentragen würde. Dann könnte man versuchen, etwas anderes zu unternehmen. Warum, zum Beispiel, nicht jenes Patent auf die Herstellung eines Schokolade genannten exotischen Getränks ausnützen, das David Chaillou zu besitzen behauptete?
Die Leute aus dem Volk würden wohl kaum etwas dafür übrig haben, aber vielleicht würden die immer nach Neuartigem und Absonderlichem gierenden Stutzer und »Preziösen« eine Mode daraus machen.
Angélique sah schon die Kutschen der vornehmen Damen und bändergeschmückten Edelleute in der Rue de la Vallée-de-Misère halten.
Doch dann schüttelte sie den Kopf. Es hatte keinen Sinn, zu weit in die Ferne zu schauen. Noch war ihr Leben gefährdet. Worauf es in erster Linie ankam, war einzuheimsen, wie eine Ameise einzuheimsen. Der Reichtum war der Schlüssel zur Freiheit, die Gewähr, nicht zu sterben, seine Kinder nicht sterben, die Gewähr, sie lachen zu sehen.
Wäre ihr Besitz nicht beschlagnahmt worden, hätte sie Joffrey gewiß retten können.
Die junge Frau schüttelte abermals den Kopf. Nein, daran durfte sie nicht mehr denken. Denn wenn ihre Gedanken diese Richtung einschlugen, wurde sie von dem Verlangen erfaßt, für immer einzuschlummern wie in der Strömung eines Gewässers, die einen davonträgt.
Angélique blickte zum feuchten Himmel auf, an dem die Morgenröte erlosch und einem lastenden Grau wich. Der Ruf des Branntweinverkäufers erklang auf der Gasse. Am Hofeingang leierte ein Bettler sein Klagelied. Als sie ihn genauer ins Auge faßte, erkannte sie Pain-Noir. Pain-Noir mit seinem Lumpen, seinen falschen Beulen, seinen Muscheln, Pain-Noir, den ewigen Pilger des Elends.
Von Angst erfaßt, holte sie ein Brot und einen Napf Fleischsuppe aus der Küche und brachte sie ihm. Der Gauner starrte sie unter seinen buschigen weißen Augenbrauen hervor böse an. Sie sprachen kein Wort.
Ein paar Tage lang teilte Angélique noch ihre Zeit zwischen den Kasserollen Meister Bourgeauds und den Blumen Mutter Marjolaines. Die Blumenverkäuferin hatte sie um Aushilfe gebeten, denn die Geburt des königlichen Kindes rückte näher, und jene Damen waren stark überlastet.
An einem Novembertag, als sie auf dem Pont-Neuf saßen, begann die Turmuhr des Justizpalastes zu schlagen, der Stundenschläger der Samaritaine ergriff seinen Hammer, und in der Ferne hörte man die dumpfen Böllerschüsse der Bastille-Kanone.
Die Bevölkerung von Paris geriet in äußerste Spannung.
»Die Königin ist niedergekommen! Die Königin ist niedergekommen!«
Atemlos zählte die Menge:
»Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig .«
Beim dreiundzwanzigsten Schuß begannen die Leute sich zu streiten. Einige behaupteten, es sei der fünfundzwanzigste, andere, es sei der zweiundzwanzigste. Die ersten waren die Optimisten, die letzteren die Pessimisten. Und noch immer regneten das Geläute, die Glockenspiele, die Böllerschüsse über das von einem Taumel der Begeisterung ergriffene Paris.
Kein Zweifel mehr: ein Knabe!
»Ein Thronfolger! Ein Thronfolger! Es lebe der Thronfolger! Es lebe die Königin! Es lebe der König!«
Man umarmte einander. Der Pont-Neuf brach in Freudengesänge aus. Die Läden und Werkstätten machten ihre Türen dicht. Die Springbrunnen ver-spien Ströme von Wein. An großen Tischen, die von den Lakaien des Königs auf den Straßen aufgestellt wurden, delektierte man sich an Pasteten und Konfekt.
Am Abend wurde auf der Seine vor dem Louvre ein Feuerwerk abgebrannt, das alle Welt begeisterte. Ein Schiff, von funkensprühenden Meeresungeheuern umrahmt, die die Feinde Frankreichs versinnbildlichten, trieb auf dem Wasser. Ein schöner Kavalier auf geflügeltem Roß sprang vom Dach der LouvreGalerie und durchbohrte die Ungeheuer mit seiner Lanze. Ihre Eingeweide quollen in Form von tausend bunten Schwärmern hervor.
Endlich stieg in einem Raketenbündel eine helleuchtende Sonne zum Nachthimmel auf, und Hunderte von Sternen formten die Namen Ludwig und Maria-Theresia.
Als die Königin von Fontainebleau zurückgekehrt war und sich mit dem königlichen Säugling wieder im Louvre niedergelassen hatte, trafen die Zünfte der Stadt Vorbereitungen, ihr ihre Glückwünsche darzubringen.
Mutter Marjolaine bemerkte zu Angélique, die sie ins Herz geschlossen hatte: »Du kommst mit. Es ist zwar nicht ganz in Ordnung, aber ich erkläre dich zu meinem Lehrmädchen, das meine Blumenkörbe trägt. Wird es dir Spaß machen, den schönen LouvrePalast zu sehen? Die Zimmer dort sollen breiter und höher als Kirchen sein!«
Angélique wagte nicht abzulehnen. Die Ehre, die die gute Frau ihr erwies, war groß. Aber zugleich reizte sie die uneingestandene Neugier, dieser Stätte wiederzubegegnen, die Zeuge so vieler Ereignisse und Tragödien ihres Lebens gewesen war. Würde sie die Tränen der Rührung vergießende Grande Mademoiselle entdecken, die schamlose Herzogin von Soissons, den feurigen Lauzun, den finsteren de Guiche, de Vardes? Wer von diesen vornehmen Damen und großen Herren würde inmitten der Händlerinnen jene Frau wiedererkennen, die unlängst noch in ihrem Hofkleid, von ihrem Mohren gefolgt, durch die Gänge des Louvre geeilt und vom einen zum andern gegangen war, um die Begnadigung ihres im voraus verurteilten Gatten zu erbitten .?
Am betreffenden Tage fand sie sich mit den Blumenfrauen und Apfelsinenverkäuferinnen des Pont-Neuf und den Fischweibern der Markthalle im Hof des Palastes ein. Ihre Waren, gleichermaßen schön, doch von unterschiedlichem Geruch, begleiteten sie: Körbe mit Blumen und Obst und kleine Tonnen mit Heringen, die nebeneinander vor dem Dauphin niedergestellt werden sollten, so daß er mit seinen Händchen die zarten Rosen, die leuchtenden Orangen und die schönen, silbrigen Fische berühren könnte.
Während die Damen die Treppe hinaufstiegen, die zu den königlichen Gemächern führte, begegneten sie dem apostolischen Nuntius, der soeben das traditionsgemäß vom Papst geschenkte Wickelzeug des mutmaßlichen Erben des Throns von Frankreich überreicht hatte: »zum Zeichen, daß er ihn als erstgeborenen Sohn der Kirche anerkannte«.
Im Zimmer der Königin, das sie dann betraten, knieten die Damen der Händlerinnenzünfte nieder und brachten ihre Glückwünsche dar. Wie sie auf den reichgemusterten Teppichen kniend, sah Angélique im Halbdunkel unter dem Baldachin des goldverzierten Bettes die Königin in einem prächtigen Kleide liegen. Sie trug noch immer den gleichen starren Ausdruck zur Schau wie damals in Saint-Jean-de-Luz, als sie eben ihrem düsteren Madrider Palast entronnen war. Aber die französische Mode und Frisur standen ihr weniger gut als der phantastische Infantinnenstaat, als der durch künstliches Haar aufgebauschte Kopfputz, der beinahe priesterlich das Gesicht des dem Sonnenkönig anverlobten jungen Idols eingerahmt hatte.
Als beglückte, liebende, durch die Aufmerksamkeiten des Königs beruhigte Mutter geruhte die Königin, der buntscheckigen, verwegenen Gruppe zuzulächeln. Der König stand an ihrer Seite auf den Stufen des Betts. Auch er lächelte, mit einer aufrichtigeren Leutseligkeit als seine Gattin, und gleichwohl erkannte Angélique ihn kaum wieder.
Die Veränderung drückte sich vor allem in der Haltung des Monarchen aus. Zu der Grazie des robusten jungen Mannes, den sie in Saint-Jean-de-Luz flüchtig gesehen hatte, gesellte sich jetzt eine stolzere Miene, eine Zurückhaltung, die bei der Umgebung des Königs den Eindruck außergewöhnlicher Macht hervorrief.
Seit dem Anfang ebendieses Jahres hatte Ludwig XIV. Mazarin sterben und einen großen Vasallen des Languedoc verschwinden sehen. Er hatte Fouquet seine Gunst entzogen, die La Vallière verführt, den Bau des Versailler Schlosses in Angriff genommen.
Ein Wort drängte sich bei seinem Anblick auf: majestätisch. Ja, das war Ludwig XIV., dessen erste Taten auf dem Wege zur absoluten Macht den Hof verblüfft hatten und Europa einzuschüchtern begannen.
In der heftigen Bewegung, die sie erfaßte, als sie sich zwischen diesen einfachen Frauen zu Füßen des Königs knien sah, fühlte sich Angélique wie geblendet und gelähmt. Sie sah nur noch den König.
Später, nachdem sie mit ihren Genossinnen die königlichen Gemächer verlassen hatte, berichtete man ihr, die Königin-Mutter und Madame d’Orléans seien anwesend gewesen, dazu Mademoiselle de Montpensier, der Herzog von Enghien, Sohn des Fürsten Condé, und viele junge Leute ihrer Häuser.
Sie hatte nichts gesehen. Vor einer ungewissen, dunklen Vision hob sich allein die Silhouette des Königs ab. Er, der lächelnd auf den Stufen des Bettes der Königin stand, er hatte ihr Angst eingeflößt. Er glich dem andern nicht, dem König, der sie in den Tuilerien empfangen hatte und den sie am liebsten an seiner Halsbinde gepackt und geschüttelt hätte. Damals waren sie wie zwei sehr junge Wesen von gleicher Kraft gewesen, die einander erbittert bekämpften, beide überzeugt, den Sieg zu verdienen.
Welche Torheit! Wie war es nur möglich, daß sie nicht sofort begriffen hatte, welch ausgeprägter Charakter in diesem Monarchen steckte, der nie im Leben auch nur die geringste Schmälerung seiner Autorität dulden würde! Von Anfang an war es der König, der triumphieren mußte, und weil sie, Angélique, ihn verkannt hatte, war sie wie Glas zerbrochen worden.
Sie folgte der Gruppe der Lehrmädchen, die schwatzend und kichernd dem Küchenflügel zustrebte, von wo sie ins Freie gelangen würde. Die Innungsmeisterinnen blieben noch, um an einem großen Festmahl teilzunehmen; die Lehrmädchen hatten kein Recht auf solche Bewirtung.
Als sie die Anrichteräume durchschritten, hörte Angélique hinter ihr jemand pfeifen: ein langer, zwei kurze Töne. Sie erkannte das Signal der Bande Calembredaines und glaubte zu träumen. Hier, im Louvre .?
Sie wandte sich um. In der Öffnung einer Tür warf eine kleine Gestalt ihren Schatten auf den Fußboden.
»Barcarole!« Von jäher, aufrichtiger Freude erfaßt, lief sie zu ihm. Er blähte sich würdevoll und stolz.
»Kommt herein, Schwesterchen! Kommt herein, meine teure Marquise! Laßt uns ein wenig plaudern.«
Sie lachte. »O Barcarole, wie schön du bist! Und wie gewählt du sprichst!«
»Ich bin der Zwerg der Königin«, sagte Barcarole voller Selbstgefälligkeit. Er führte sie in ein kleines Empfangszimmer und ließ sie sein Wams aus orangefarbener und gelber Seide bewundern, das von einem mit Schellen besetzten Gürtel zusammengehalten wurde. Dann schlug er verwegene Kapriolen, damit sie das Geläute seines Schellenwerks beurteilen konnte. Der Zwerg sah ausgesprochen gepflegt aus und wirkte glücklich und munter. Angélique bekannte ihm, daß sie ihn verjüngt fände.
»Nunja, ich habe selbst ein bißchen das Gefühl«, gestand Barcarole bescheiden. »Ich führe hier kein übles Leben und habe das Gefühl, daß ich den Leuten dieses Hauses ganz gut gefalle. Komm, Schwesterchen. Ich muß dich einer vornehmen Dame vorstellen, für die ich, wie ich dir nicht verhehlen will, zärtliche Gefühle empfinde - die sie liebevoll erwidert.«
Mit Miene und Haltung des glücklichen Liebhabers führte der Zwerg Angélique durch das finstere Labyrinth des Gesindeflügels. Schließlich hieß er sie in einen düsteren Raum eintreten, in dem sie eine überaus häßliche Frau von ungefähr vierzig Jahren an einem Tisch sitzen sah, auf dem sie mit Hilfe eines kleinen Kohlenbeckens etwas braute.
»Dona Teresita, ich stelle Euch Dona Angelica vor, die schönste Madonna von Paris«, verkündete Barcarole hochtrabend.
Die Frau starrte Angélique mit ihren dunklen, scharfen Augen durchbohrend an und sagte einen Satz auf spanisch, dem man das Wort Marquise der Engel entnehmen konnte.
Barcarole zwinkerte Angélique zu.
»Sie fragt, ob du etwa jene Marquise der Engel seist, von der ich ihr bis zum Überdruß erzählt habe. Du siehst, Schwesterchen, ich vergesse meine Freunde nicht.«