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»Barcarole, werden sie mir Böses antun?«
»Ich glaube, es gibt in Paris keine Frau, deren hübsche Haut weniger fest an ihrem Körper sitzt.«
Obwohl er sichtlich seine böse Grimasse übertrieb, begriff sie, daß es keine leere Drohung war. Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, dann werde ich eben sterben. Ich kann nicht mehr umkehren. Du kannst es Cul-de-Bois sagen.«
Der Zwerg der Königin bedeckte mit tragischer Geste seine Augen.
»Ach, wie schmerzlich wird es doch sein, ein so schönes Mädchen mit durchschnittener Kehle sehen zu müssen.«
Als sie gehen wollte, hielt er sie am Rockschoß fest.
»Unter uns, es wäre besser, du würdest es selbst Cul-de-Bois sagen.«
Es regnete. Angélique, die rasch dahinschritt, verspürte eine unerklärliche Traurigkeit in ihrem Herzen und im Mund den scharfen Geschmack der Schokolade.
»Ich glaube«, sagte sie sich, während sie in die unruhigen Fluten des Flusses blickte, »daß wohl kaum eine Frau innerhalb so kurzer Zeit so verschiedene Schicksale hat erfahren müssen. Als ich vor wenig mehr als einem Jahr in den Louvre kam, wurde ich von der Grande Mademoiselle begrüßt und sprach mit dem König. Jetzt bedeutet es eine hohe Ehre für mich, vom Zwerg der Königin in seinem Raum empfangen zu werden.«
Doch als sie den »Kecken Hahn« betrat, bereiteten ihr die Speisegäste eine Ovation und klopften mit den Messern an ihre Teller.
»Die schöne Angélique! Die schöne Angélique!«
»Gott soll mich strafen, wenn ich zu stolz bin«, dachte sie, »aber ich bin lieber Königin in meiner Bratstube als Magd im Louvre. Meine schöne Angélique, denk daran, daß du an dem Tag, an dem du wieder vor dem König erscheinen wirst, mindestens fünf Millionen Diamanten auf deinem Kleid haben mußt!«
Dieser Gedanke brachte sie zum Lachen, und fröhlich begab sie sich in die Küche.
Vom Monat Dezember an verwandte Angélique all ihre Zeit auf die Geschäfte der Bratküche. Die Kundschaft nahm zu. Die Zufriedenheit der Blumenhändlerinnenzunft hatte die Lawine ins Rollen gebracht. Der »Kecke Hahn« spezialisierte sich auf Innungsfestessen. Handwerker, die selig waren, sich gemeinsam und zu Ehren ihres Schutzpatrons »die Eingeweide anfeuchten« und die Magen mit Futter vollstopfen zu können, ließen es sich unter den frisch gestrichenen und stets mit dem schönsten Wildbret, den leckersten Würsten garnierten Deckenbalken wohl sein.
Selbst die sakrosankte Zunft der Metzger, die größte und älteste von Paris, stellte sich ein, um am Tage des heiligen Sylvester ihren traditionellen Festschmaus abzuhalten. Man stürzte sich in den nicht abreißenden Strom der Festivitäten. Nach Weihnachten kam der Neujahrstag, darauf das Bacchanal des Dreikönigsfests, dann der Karneval.
Nach den Arbeitern, Handwerkern und Händlern erschienen im »Kecken Hahn« allmählich auch Gruppen von Freigeistern und liederlichen Philosophen, die das Recht auf alle Genüsse, die Verachtung der Frauen und die Verneinung Gottes verkündeten. Es war nicht leicht, sich ihren Vertraulichkeiten zu entziehen, aber auf der andern Seite erwiesen sie sich, was die Auswahl der Gerichte betraf, als äußerst heikel. Und obwohl sie zuweilen über deren Zynismus entsetzt war, legte Angélique doch großen Wert auf sie, weil sie ihrem Unternehmen ein Renommee verschafften, das ihm gehobenere Kundschaft zuführen würde.
Auch Komödianten kamen, um die Kunststücke des Affen Piccolo zu bewundern.
»Das ist unser aller Meister«, sagten sie. »Schade, daß dieses Tier kein Mensch ist. Er hätte einen trefflichen Schauspieler abgegeben!«
Ohne an anderes als den gegenwärtigen Augenblick zu denken, packte Angélique ihre Aufgabe an. Lachen, ein harmloses Scherzwort anbringen, einer allzu kecken Hand eins draufgeben, das fiel ihr nicht schwer. Die Soßen rühren, Kräuter verschneiden, Platten garnieren, bedeutete ihr ein Vergnügen. Sie erinnerte sich, wie gern sie in Monteloup als kleines Mädchen in der Küche geholfen hatte. Aber vor allem in Toulouse, unter Joffreys Anleitung, hatte sie das richtige Verständnis für die kulinarischen Dinge bekommen.
Gewisse Rezepte wieder zusammenzustellen, sich auf bestimmte unverletzliche Grundsätze der gastronomischen Kunst zu besinnen verursachte ihr zuweilen melancholische Freude.
Nur eines konnte sie nicht ertragen, nämlich Florimond husten zu hören. Sofort überkam sie bohrende Angst, es könne eine unheilbare Krankheit in ihm stecken. Er war ja so zart. Ihre Nachbarinnen sagten angesichts des eingefallenen Gesichtchens des Kleinen: »Ihr werdet ihn nicht durchbringen. Ich habe dreie verloren ... ich fünfe ... Gott hat sie gegeben, Gott hat sie wieder genommen.« Tiefe Resignation herrschte unter diesen einfachen Leuten, Handwerkern, Tagelöhnern, kleinen Händlern. Ein starker Glaube hatte im Lauf der Jahrhunderte aus ihnen die arbeitsamste und geduldigste Volksklasse des Königreichs gemacht. Sie trugen ihre Prüfungen, ihr oft hartes Los in Ergebung, und da ihre angeborene Heiterkeit rasch wieder die Oberhand gewann, hörte man sie singen.
»Ich müßte Gott lieben. Vielleicht würde es mich dann nicht so grämen, Florimond husten zu hören«, sagte sich Angélique. »Wenn er stirbt, bricht mir das Herz. Ich werde das Leben hassen.«
Florimonds Nase lief, seine Ohren eiterten: er war krank.
Zwanzigmal am Tag nützte Angélique einen ruhigen Augenblick aus, um die sieben Treppen hinaufzulaufen, die zu der Mansarde führten, in der der kleine, vom Fieber geschüttelte Körper einsam gegen den Tod ankämpfte. Sie zitterte, während sie sich der Lagerstätte näherte, und stieß einen Seufzer aus, wenn sie sah, daß er noch atmete. Sanft strich sie über die breite, gewölbte Stirn, auf der feiner Schweiß perlte.
»Mein Herzchen! Mein Liebling! Laß mir meinen zarten, kleinen Jungen, lieber Gott! Ich verlange nichts anderes vom Leben. Ich will wieder zur Kirche gehen, ich will Messen lesen lassen. Aber laß mir meinen zarten, kleinen Jungen ...«
Am dritten Tag von Florimonds Krankheit »befahl« Meister Bourgeaud Angélique grimmig, ins große Schlafzimmer im ersten Stock hinunterzuziehen, das er seit dem Tode seiner Frau nicht mehr benützte. Gehörte sich das, ein Kind in einer Mansarde zu pflegen, die nicht größer war als eine Kleiderkammer und in der sich des Nachts mindestens sechs Menschen drängten, den Affen nicht gerechnet? Das waren ja richtige Zigeunersitten ...!
Florimond genas, aber Angélique blieb mit ihren beiden Kleinen auch weiterhin in der großen Stube des ersten Stocks, während Flipot und Linot eine zweite Mansarde zugewiesen erhielten. Rosine teilte weiterhin Barbes Bett.
»Und ich bitte mir aus«, schloß Meister Bourgeaud, rot vor Zorn, »daß du mir in Zukunft die Schande ersparst, jeden Tag zusehen zu müssen, wie ein Lümmel von Lakai vor der Nase aller Nachbarn Holz in meinem Hof ablädt. Bediene dich gefälligst des Holzstalls, wenn du einheizen willst.«
Angélique ließ also die Herzogin von Soissons durch den Diener wissen, sie bedürfe ihrer Zuwendungen nicht mehr und danke ihr für ihre gütige Hilfe. Als der Lakai zum letztenmal erschien, gab sie ihm ein Trinkgeld. Dieser, der sich von der Verblüffung des ersten Tages noch immer nicht erholt hatte, schüttelte nur den Kopf.
»Das muß ich schon sagen, ich bin in meinem Leben zu vielen Dingen gezwungen worden, aber noch nie dazu, dergleichen wie dich zu sehen!«
»Es wäre alles nur halb so schlimm«, erwiderte Angélique, »wenn nicht ich gezwungen gewesen wäre, auch dich zu sehen.«
In der letzten Zeit hatte sie die von Madame de Soissons geschickten Nahrungsmittel und Kleidungsstücke den Bettlern und Gaunern gegeben, die in wachsender Zahl in der Umgebung des »Kecken Hahns« herumlungerten. Manches bekannte Gesicht tauchte da stumm und drohend vor ihr auf. Sie gab ihnen, wie man etwas gibt, um sich böse Kräfte zu versöhnen.
Schweigend forderte sie von ihnen das Recht auf Freiheit, aber täglich wurden sie anspruchsvoller. Die Springflut ihrer Lumpen und Krücken setzte zum Angriff auf ihre Zuflucht an. Sogar die Gäste des »Kecken Hahns« beschwerten sich über diese Zudringlichkeit und erklärten, der Eingang sei mehr von verlausten Gestalten umlagert als ein Kirchenportal. Ihr Gestank und der Anblick ihrer Eiterbeulen seien kaum appetitanregend.
Meister Bourgeaud wetterte diesmal in echtem Unwillen.
»Du ziehst sie an wie der Schnittlauch die Schlangen oder die Landasseln. Hör auf, ihnen Almosen zu spenden, und befreie mich von diesem Gezücht, oder wir sind geschiedene Leute.«
Sie war um Antwort nicht verlegen:
»Bildet Ihr Euch vielleicht ein, Eure Bratstube hätte unter den Bettlern mehr zu leiden als die andern? Habt Ihr noch nichts von den Gerüchten über eine Hungersnot gehört, die sich im Land verbreitet? Es heißt, die hungernden Bauern zögen gleich Armeen in die Städte und die Zahl der Armen vervielfache sich .«
Aber sie hatte Angst. Des Nachts stand sie in der großen, stillen Stube, in der nur die Atemzüge ihrer beiden Kinder vernehmbar waren, und sah durchs Fenster auf die mondbeglänzten Fluten der Seine. Zu Füßen des Hauses befand sich ein kleiner Platz, auf den die Abfälle der Bratküchen geworfen wurden: Federn, Pfoten, Eingeweide, Reste, die man nicht mehr servieren konnte. Hunde und dunkle Elendsgestalten taten sich gütlich daran. Man hörte sie stöbern. Es war die Stunde, da die Rufe und Pfiffe der Strolche die Nacht durchschnitten. Angélique wußte, daß nur wenige Schritte entfernt, zur Linken, jenseits der Spitze des Pont-au-Change, der Quai de Gesvres begann, dessen hallendes Gewölbe die schönste Räuberhöhle der Hauptstadt bildete. Sie erinnerte sich des feuchten, weiträumigen Schlupfwinkels, durch den in Strömen das Blut der Schlächtereien der Rue de la Vieille-Lanterne floß. Jetzt hatte sie nichts mehr mit dem berüchtigten Volk der Nacht gemein. Sie gehörte zu denen, die sich in ihren wohlverwahrten Häusern bekreuzigen, wenn in den düsteren Gassen ein Todesschrei ertönte. Das war schon viel, aber würde die Last der Vergangenheit sie auf ihrem Weg nicht hemmen?
Angélique trat an das Bett, in dem Florimond und Cantor schliefen. Florimonds lange schwarze Wimpern beschatteten seine perlmutterglänzenden Wangen. Sein Haar bildete einen großen, dunklen Heiligenschein, der sich mit dem von Cantors Haaren vereinigte, die ebenso dicht und üppig wurden. Doch dessen Locken waren goldbraun, während Florimonds schwarz blieben wie die Flügel eines Raben.
Angélique stellte fest, daß Cantor »in ihre Familie schlug«. Er war von jener zugleich verfeinerten und bäuerlichen Rasse der Sancé de Monteloup. Nicht viel Herz, aber Leidenschaft. Nicht übermäßige geistige Regsamkeit, aber Klarheit. Seine eigensinnige Stirn erinnerte sie an Josselin, sein stilles Wesen an Raymond, sein Hang zur Einsamkeit an Gontran. Äußerlich ähnelte er Madelon, ohne deren Sensibilität zu besitzen.
Dieses rundliche, kleine Kerlchen mit den klaren, scharfen Augen war schon eine richtige Persönlichkeit, eine Vereinigung Jahrhunderte hindurch vererbter Tugenden und Untugenden. Vorausgesetzt, daß man ihn nicht in seiner Freiheit und Unabhängigkeit beschränkte, ließ er sich mühelos erziehen. Aber als Barbe ihn wieder ans Gängelband der Kinder seines Alters nehmen wollte und als es ihr geglückt war, ihn eng in seine Windeln zu wickeln, hatte der für gewöhnlich so sanfte Cantor nach ein paar Augenblicken der Verblüffung einen richtigen Zornanfall bekommen. Nach zwei Stunden hatte die taub gewordene Nachbarschaft seine Befreiung gefordert.
Barbe behauptete, Angélique ziehe Florimond vor und beschäftige sich zu wenig mit ihrem Jüngsten. Angélique gab zurück, Cantor habe es ja gar nicht nötig, daß man sich mit ihm beschäftige. Sein ganzes Verhalten bewies eindeutig, daß er vor allem darauf Wert legte, in Ruhe gelassen zu werden, während der sensible Florimond es gern hatte, wenn man sich mit ihm abgab, wenn man mit ihm sprach und seine Fragen beantwortete. Er brauchte viel Fürsorge und Liebe.
Zwischen Angélique und Cantor stellte sich der Kontakt ohne Worte und ohne Gesten ein. Sie waren von gleicher Art. Wenn sich nachmittags ein paar Augenblicke der Muße ergaben, setzte sie sich vors Feuer und nahm ihn auf die Knie. Sie betrachtete ihn, bewunderte sein rosiges, festes Fleisch und wurde sich der Kostbarkeit dieses Geschöpfchens bewußt, das noch nicht ein Jahr alt war und von seiner Geburt an - sogar schon vorher, dachte sie - um sein Leben gekämpft und sich gegen jede Gefahr, die seine zarte Existenz bedrohte, hartnäckig zur Wehr gesetzt hatte.
Das Kind saugte an einem Hühnerknochen, und hin und wieder warf es ihr aus seinen grünen Augen, die den ihren so ähnlich waren, einen spitzbübischen Blick zu.
Cantor war ihre Kraft und Florimond ihre Zartheit. Sie stellten die beiden Pole ihres Wesens dar.
Die Hungersnot, von der Angélique gesprochen hatte, war kein leeres Gerücht. Nach dem Fest der Heiligen Drei Könige begann sie an die Tore von Paris zu pochen. Die Ernte des Jahres war mehr als schlecht gewesen. Zu viele Truppen lagen noch auf dem Lande in Quartier, und vor allem ließ das Steuersystem den Spekulanten freies Spiel. Von ihren Innungen beschützt, litten die Lebensmittelhändler weniger Mangel als die anderen Berufe. Bratköche, Metzger, Bäcker hatten noch immer zu essen, aber die Schwierigkeiten des Geschäftslebens häuften sich. Die Kundschaft wurde rar. Angélique war bekümmert bei dem Gedanken, daß die gute Saison der Feste nicht das einbrachte, was sie erhofft hatte. Aber - Gott sei’s gelobt - sie und ihre kleine Truppe waren vor der Prüfung bewahrt. Sie pries sich wieder einmal glücklich, grade in einer Bratküche Zuflucht gesucht zu haben. Sonst wären sie und ihre Kinder im Verlaufe dieser tragischen Monate wohl verhungert.
- Abermals litten die Pariser Hunger, abermals raffte die Pest, seine ständige Begleiterin, die Menschen dahin. Und abermals trugen die Prozessionen, die die Fürsprache des Himmels erflehten, das prunkende Gold der Reliquienschreine und Banner durch die vereisten Straßen, auf denen von der Seuche dahingeraffte oder von der Kälte zu Boden gezwungene Menschenleiber verwesten.