142424.fb2
In die Rue de la Vallée-de-Misère flüchteten sich viele, denen die Teuerung dank ihrer wohlgefüllten Börsen nur geringe Beschränkungen auferlegte. Als Angélique einigermaßen wieder zur Besinnung gekommen war, sagte sie sich, daß man die Situation nutzen müsse. War es nicht billig, daß man diese feinen Herren für die Mühe zahlen ließ, die man sich gab, um ihnen Geflügel und Braten zu verschaffen? Mußte sie sich nicht für die Gefahren schadlos halten, denen sie auf den Expeditionen ausgesetzt war, die sie, nur von David begleitet, in die Umgebung von Meudon oder Grenelle unternahm, um heimlich Hammel oder Hühner einzukaufen? Ja, all das mußte man sich gebührend bezahlen lassen. Die Gäste hatten dafür auch durchaus Verständnis. Sie waren reich, aber sie konnten ihr Geld nicht essen, während die Bratköche, Metzger, Kuchenbäcker immer etwas zu essen hatten.
Drei furchtbare Monate verstrichen. Die Kälte nahm zu, die Hungersnot nahm zu, die Zahl der Bettler nahm zu, die sich um Meister Bourgeauds Bratküche drängten. Angélique entschloß sich, Cul-de-Bois aufzusuchen. Sie wußte, daß sie es längst schon hätte tun sollen. Barcarole hatte es ihr geraten, aber es schwindelte ihr bei dem Gedanken, noch einmal das Haus des Großen Coesre betreten zu müssen.
Wiederum galt es, sich zu überwinden, einen Schritt weiter zu gehen, eine neue Schlacht zu gewinnen. In einer dunklen, eisigen Nacht begab sie sich endlich zum Faubourg Saint-Denis.
Man führte sie vor Cul-de-Bois. Er hockte inmit-ten des Rauchs und Rußes der Öllampen wie ein groteskes Götzenbild auf einer Art Thron. Vor ihm auf der Erde stand das Kupferbecken. Sie warf eine schwere Börse hinein und überreichte Geschenke: einen mächtigen Schinken und ein Brot, im Augenblick wahre Raritäten.
»Nicht übel!« brummte Cul-de-Bois. »Ich erwarte dich schon lange, Marquise. Weißt du, daß du ein gefährliches Spiel getrieben hast?«
»Ich weiß, daß ich es dir zu verdanken habe, wenn ich noch lebe.«
Zu beiden Seiten des Throns standen die Schreckgestalten des grausigen Hofstaats: der große und der kleine Eunuch mit ihren Insignien, dem Besen und der Mistgabel mit dem aufgespießten Hund, sowie Jean-le-Barbon mit seinem wallenden Bart und der Rute des ehemaligen Zuchtmeisters des Gymnasiums von Navarra.
Cul-de-Bois, wie immer in sauber gebürstetem Rock und tadellos geschlungener Halsbinde, trug einen prächtigen Hut mit zwei Reihen roter Federn.
Angélique verpflichtete sich, ihm allmonatlich die gleiche Summe zu bringen oder bringen zu lassen, und versprach ihm, daß es seiner »Tafel« niemals an etwas fehlen würde. Als Gegenleistung verlangte sie, daß man sie in ihrer neuen Existenz unbehelligt ließe. Außerdem bat sie, man möge den Bettlern Anweisung geben, die Schwelle »ihrer« Bratstube zu räumen.
Vom Gesicht Cul-de-Bois’ las sie ab, daß sie endlich so gehandelt hatte, wie es sich geziemte, als »Ehrerbietige«, und daß er sich für befriedigt erklärte. Als sie ihn verließ, verneigte sie sich ernst vor ihm und fühlte sich fortan erleichtert. Wohl hatte man noch Hunger in Paris, bitteren Hunger, und die Geschäfte gingen schlecht, aber der Frühling nahte.
»Gott soll mich strafen, mein Kind, wenn ich je wieder eine Bratstube betrete, in der man sich erlaubt, auf solche Weise den feinsten Gaumen von Paris zu täuschen!«
Barbe lief auf diese feierliche Erklärung hin erschrocken in die Küche. Der Gast, ein Parlamentsrat, beklagte sich! Es geschah zum erstenmal, seitdem er in den »Kecken Hahn« kam, um sich einsam, stumm und mit Atlas und Bändern angetan zu Tisch zu setzen.
Er pflegte mit andachtsvoller Miene zu speisen und bezahlte das Doppelte der vorgelegten Rechnung. Daher verdiente seine Beschwerde, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel erfolgte, daß man sich beunruhigte.
Angélique erschien sofort an seinem Tisch. Der Edelmann musterte sie von oben bis unten. Er schien übler Laune zu sein, aber die Schönheit und vielleicht auch die unerwartete Vornehmheit der jungen Wirtin verblüfften ihn.
Nach kurzem Zögern hob er von neuem an: »Mein Kind, ich möchte Euch darauf aufmerksam machen, daß ich Euer Lokal nicht mehr betreten werde, wenn man mich noch ein einziges Mal auf solche Weise betrügt.«
Angélique erkundigte sich in überaus bescheidenem Ton, worüber er sich zu beklagen habe.
Der Gast erhob sich mit puterrotem Gesicht und in höchster Erregung, so daß sie versucht war, ihm auf den Rücken zu klopfen, weil sie vermutete, es sei ihm ein Geflügelknochen im Hals steckengeblieben. »Ich will wissen«, schrie er, »wer kürzlich mein Omelett gebacken hat, denn man soll nicht glauben, daß ich dieses hier unter demselben Titel wie jenes erste verspeisen werde.«
Angélique dachte nach und erinnerte sich, daß sie selbst es gewesen war, die den besagten Eierkuchen gebacken hatte.
»Ich freue mich, daß er Euch geschmeckt hat«, sagte sie, »aber ich muß gestehen, daß er Euch sozusagen zufälligerweise und völlig improvisiert serviert worden ist. Im allgemeinen muß die Bestellung im voraus gemacht werden, damit ich mir die nötigen Zutaten beschaffen kann.«
Die kleinen Schweinsaugen des Gastes leuchteten begehrlich auf. Mit beschwörender Stimme bat er sie, ihm ihr Rezept anzuvertrauen, und sie mußte, um ihr Küchengeheimnis zu hüten, ebenso viele Kniffe anwenden, als gälte es, ihre Tugend zu verteidigen.
Rasch den Mann einschätzend, entschied sie, daß man ihn nur richtig zu behandeln brauchte, um ihn in eine unerschöpfliche Einnahmequelle für den »Kecken Hahn« zu verwandeln.
Resolut stemmte sie daher in der blitzschnell übernommenen Rolle der artigen, aber auch geschäftstüchtigen Wirtin die Arme in die Hüften und erklärte ihm, da er auf diesem Gebiete so beschlagen sei, wisse er sicher, daß jahrhundertealter Tradition gemäß die Küchenmeister ihre Spezialrezepte nur gegen klingende Münze preisgäben.
Seiner hohen gesellschaftlichen Stellung zum Trotz stieß der behäbige Edelmann ein paar derbe Flüche aus, gab dann aber mit einem Seufzer zu, daß die Forderung gerechtfertigt sei. Gut denn, er wolle einen angemessenen Preis zahlen, unter der Voraussetzung freilich, daß das neu aufgelegte Meisterstück genau dem allerersten entspreche. Er gedenke, als Begutachter eine Tischgesellschaft der ausgepichtesten Feinschmecker aus Justizpalast und Parlament mitzubringen.
Angélique ging auf seine Bedingungen ein und wurde von der eleganten Kundschaft wärmstens beglückwünscht. Dann übergab sie das aufgeschriebene Rezept dem Parlamentsrat du Bernay, der es mit bewegter Stimme vorlas, als handele es sich um einen Liebesbrief:
»Man füge einem Dutzend geschlagener Eier eine Prise Schnittlauch bei, zwei oder drei getrocknete Hahnenkammblätter, zwei oder drei Stiele Pimper-nell, zwei oder drei Boretschblätter, ebensoviel Spitzwegerich, fünf oder sechs Sauerampferblätter, ein oder zwei Stiele Thymian, zwei bis drei zarte Lattichblätter, ein wenig Majoran, Ysop und Brunnenkresse. Das ganze in einer irdenen Kasserolle backen lassen, in die man zuvor zur Hälfte Öl, zur Hälfte Vanves-Butter gegeben hat. Mit frischer Sahne übergießen .«
Nach dieser Verlesung trat weihevolle Stille ein, und der Parlamentsrat wandte sich feierlich an Angélique:
»Mademoiselle, ich gebe zu, daß ich selbst mich niemals, auch nicht gegen eine weit höhere Summe als die, die wir Euch soeben übergaben, dazu hätte überwinden können, ein solches Geheimnis preiszugeben, das allein der Götter würdig ist. Ich erkenne darin Euer Bestreben, uns gefällig zu sein, und meine Freunde und ich werden uns dafür erkenntlich zeigen, indem wir häufig diese gastliche Stätte besuchen.«
Auf solche Weise gewann Angélique die Kundschaft der »Leckermäuler«. Diesen Herren bedeuteten die Tafelfreuden mehr als alle andern einschließlich derjenigen der Liebe. Und immer mehr Kutschen und Sänften hielten unter dem Wirtshausschild des »Kecken Hahns«, so wie sie es sich einstens erträumt hatte.
Meister Bourgeaud war sichtlich beeindruckt und beunruhigt ob des Ansturms dieser neuen Stammgäste. Die Beliebtheit, deren sich seine Bratstube erfreute, drohte ihn in zahllose Schwierigkeiten zu verwickeln, und infolge seiner angeborenen Trägheit stand er der Sache hilflos gegenüber.
Indessen war der behäbige Küchenmeister auf vielen Gebieten seiner Kunst nicht zu schlagen. Er verstand sich trefflich darauf, Geflügel, Fleisch und Wildbret auszuwählen und zu braten, und auch darauf, sie zu zerteilen und die besten Stücke auszuwählen. Freilich kannte er sich bei den Fischen weniger gut aus, was in erster Linie von der Tatsache herrührte, daß sein Lokal als Bratstube prinzipiell nicht das Recht hatte, Fischgerichte zu bereiten, die man bei einem speziellen Gastwirt holen lassen mußte. Angélique erlangte, nachdem sie einige ihrer Stammgäste um Fürsprache gebeten hatte, von der entsprechenden Gastwirtskorporation die Genehmigung, Zwischengerichte und Zuckergebackenes zu verabreichen.
Hinterlistig verwies sie Meister Bourgeaud aus seiner eigenen Küche und schickte ihn in die Wirtsstube, wo seine wieder jovial gewordene Miene die Gäste erfreute; sie überließ ihm das Revier der Weinfässer und die Zubereitung der einfacheren Gerichte für die Kundschaft aus dem niederen Volk: Tagelöhner und Handwerker. Aber diese verschwanden allmählich angesichts der Invasion von Spitzenmanschetten und Federhüten. Sie wurden alsbald durch eine andere Kategorie von Speisegästen ersetzt, die an einem einzigen Abend ebensoviel auf den Tisch warfen wie ein bescheidener Handwerker in einem Monat: Nach den »Leckermäulern« fanden die »Vielfraße« den Weg in den »Kecken Hahn«.
Eines Tages bereitete der Tisch der Edelleute einem dickwanstigen Herrn eine Ovation, der eben auf der Schwelle erschienen war. Man nannte ihn Montmaur. Er war schlicht gekleidet und hatte ein rotes, lustiges Gesicht.
Der neue Gast setzte sich, nachdem er die Zurufe der Leckermäuler mit einem herablassenden Lächeln beantwortet hatte, an einen Einzeltisch und bestellte mit lauter Stimme einen Kapaun am Spieß, ein gebratenes Spanferkel, einen Karpfen in Petersilie und sechs Täubchen.
Aus der Gruppe der ausgepichten Epikureer erscholl belustigtes Gelächter.
Einer von ihnen, Graf Rochechouart, stand auf und trat zum Tisch des einsamen Gastes.
»Dieser gute Montmaur«, sagte er, »ist also noch immer unverbesserlich. Ihr hättet als Gans auf die Welt kommen müssen, um das Vergnügen zu genießen, bis zum Platzen vollgestopft zu werden. Macht doch mal Euren Mund auf! Ich möchte gar zu gerne wissen, ob Mutter Natur etwa vergessen hat, Euch mit einem Gaumen auszurüsten!«
Der dicke Schlemmer nahm sich Zeit, um ein riesiges, zu einer Kugel geformtes Stück Brot mit Butter und Käse zu verschlingen, das als Hors-d’œuvre dienen sollte, dann rollte er mit seinen sanften Augen und brummte:
»Na, was denn! Jeder nach seinem Geschmack?«
»Was für ein Ausspruch, Freund! Wie könnt Ihr von Geschmack reden, wenn Ihr als gelehrter und berühmter Professor des Collège de France Euch gleich drei ungeheuerliche Verstöße auf einmal gegen den elementarsten kulinarischen Geschmack zuschulden kommen laßt?«
»Ihr seid Streithähne!« knurrte der weise Professor gutmütig. »Der Geschmack dessen, was ich esse, genügt mir, und ich sehe nicht ein, worin, zum Teufel, die angeblichen Fehler bestehen sollen, die Ihr mir vorwerft.«
»Nun denn, so wißt zunächst einmal, daß man eine Mahlzeit nicht mit dem Käse beginnt. Das wäre das eine. Dann ist es eine Unmöglichkeit, Petersilie an einen Karpfen zu tun. Schließlich, den Fisch nach dem Fleisch und dem Wildbret zu essen ist unerhört! Das wäre das dritte. Aber da fällt mir ein: das ist noch nicht alles. Ihr habt einen weiteren Fehler begangen. Wer nennt ihn mir?«
Die ganze Tischgesellschaft versank in angestrengtes Nachdenken. Rochechouart seufzte:
»Ihr Herren, Ihr Herren, wie stumpf Euer Geist heute ist! Freilich kann ich Euch verstehen. Allein vom Anhören des Menüs des Herrn Professors bekommt man schon einen leeren Kopf. Ich bedauere, daß unsre teure und edle Freundin, die Marquise de Sablé, nicht anwesend ist, um mir die rechte Antwort zu geben, sie, die alle Nuancen der gastronomischen Etikette kennt. Nun, Ihr Herren, laßt Euch durch die Anwesenheit dieses wohlbeleibten Barbaren nicht aus der Ruhe bringen, der die Spezies der Vielfraße vertritt. Wer also findet es heraus?«
»Darf auch die Wirtin sich zu Worte melden?« fragte Angélique.
Graf Rochechouart wandte sich auf seinen hohen Absätzen um, lächelte und legte den Arm um ihre Taille.
»Eine gewöhnliche Wirtin würde von unsrer epikureischen und empfindlichen Gesellschaft nicht angehört werden. Aber der Fee, die Ihr seid, steht jegli-ches Recht zu.«
»Nun, Ihr Herren, der vierte Fehler, den Ihr Monsieur de Montmaur vorwerft, besteht darin, daß er nach dem Osterfest Täubchen in sein Menü aufnahm ...«
»Meiner Treu, das stimmt!« rief der Rat du Bernay enthusiastisch aus. »In dieser Jahreszeit sind die Täubchen entweder schon zu alt oder noch zu jung.«