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Da beklagte sie sich, indem sie ihren Kopf hin und her bewegte:
»Laß mich ... Laß mich!«
Aber er kümmerte sich nicht darum. Alles wurde dunkel. Die nervöse Spannung, die sie in den letzten Tagen aufrecht gehalten hatte, wich einer zermürbenden Müdigkeit. Sie war am Ende ihrer Kräfte, ihrer Tränen, ihrer Sinnenlust ...
Als sie erwachte, fand sie sich ausgestreckt auf dem Bett liegend, mit gespreizten Armen und Beinen, in der Stellung, in der der Schlaf über sie gekommen war. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Ein runder Sonnenfleck tanzte auf den Fliesen. Sie hörte das Wasser der Seine zwischen den Bogen des Pont Notre-Dame singen. Ein anderes, näheres Geräusch mischte sich ein, ein lebhaftes und gedämpftes Kratzen.
Sie wandte den Kopf und erblickte Desgray, der an seinem Arbeitstisch schrieb. Er trug seine Perücke und einen weißen, gestärkten Kragen. Er wirkte sehr ruhig und völlig von seiner Arbeit absorbiert. Sie betrachtete ihn, ohne zu begreifen. Ihr Erinnerungsvermögen war wie ausgeschaltet. Schließlich wurde sie sich ihrer schamlosen Stellung bewußt und nahm die Beine zusammen.
In diesem Augenblick hob Desgray den Kopf, und als er bemerkte, daß sie wach war, legte er die Feder nieder und trat ans Bett.
»Wie geht’s? Habt Ihr gut geschlafen?« Seine Stimme klang überaus höflich und ungezwungen.
Verständnislos sah sie zu ihm auf. Sie wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Wo war er ihr doch beängstigend, brutal, schamlos vorgekommen? Im Traum zweifellos.
»Geschlafen?« stammelte sie. »Meint Ihr, ich habe geschlafen? Wie lange denn?«
»Meiner Treu, seit bald drei Stunden genieße ich diesen reizvollen Anblick.«
»Drei Stunden!« wiederholte Angélique, indem sie auffuhr und das Laken heranzog, um ihre Blöße zu bedecken. »Das ist ja schrecklich! Und die Verabredung mit Monsieur Colbert?«
»Ihr habt noch eine Stunde, um Euch darauf vorzubereiten.«
Er betrat den anstoßenden Raum, wandte sich noch einmal zurück. »Ich habe hier einen bequemen Waschraum mit allem, was die Toilette der Damen erfordert: Schminke, Schönheitspflästerchen, Parfüm und so weiter ...«
Mit einem seidenen Morgenrock über dem Arm kam er zurück. Er warf ihn ihr zu.
»Zieht das an und beeilt Euch, meine Schöne.«
Ein wenig benommen machte sich Angélique daran, zu baden und sich anzukleiden. Ihre Sachen lagen sorgfältig gefaltet auf einer Truhe. Aus dem Nebenraum hörte sie das Kratzgeräusch der Feder. Plötzlich schob Desgray seinen Stuhl zurück und fragte:
»Kommt Ihr zurecht? Darf ich Eure Zofe spielen?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er ein und begann, flink die Verschnürungen ihres Rocks zu knüpfen.
Angélique wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Bei der Erinnerung an die Liebkosungen, die er sich herausgenommen hatte, geriet sie in lähmende Verlegenheit. Doch Desgray schien das alles vergessen zu haben. Es wäre ihr wie ein Traum vorgekommen, hätte sie nicht im Spiegel ihr Gesicht gesehen, ein sinnliches, gesättigtes Frauengesicht, dessen Lippen von den Bissen der Küsse geschwollen waren. Welche Schande! Auch für die Augen Uneingeweihter trug ihr Gesicht die Male der leidenschaftlichen Liebesspiele, in die Desgray sie mitgerissen hatte.
Unwillkürlich legte sie zwei Finger auf ihre Lippen, die noch immer schmerzhaft brannten. Dabei begeg-nete sie im Spiegel Desgrays lächelndem Blick.
»O ja, man sieht es«, sagte er, »aber das macht nichts. Die würdevollen Herrschaften, denen Ihr begegnet, werden sich dadurch nur um so leichter bezwingen lassen ... und vielleicht auch ein wenig neidisch sein.«
Der Polizist hatte sein Degengehänge umgeschnallt und griff nach seinem Hut. Er wirkte ausgesprochen elegant, wenn sein Äußeres auch etwas Düsteres und Strenges behielt.
»Ihr klettert die Stufenleiter hinauf, Monsieur Desgray«, sagte Angélique, indem sie sich bemühte, seine Ungezwungenheit nachzuahmen. »Ihr tragt den Degen, und Eure Wohnung ist fürwahr gutbürgerlich.«
»Ich empfange viel Besuch. Die Gesellschaft macht eine seltsame Entwicklung durch. Ist es meine Schuld, wenn die Spuren, die ich verfolge, mich immer ein wenig höher führen? Sorbonne wird langsam alt. Wenn er stirbt, werde ich ihn nicht ersetzen, denn heutzutage findet man die übelsten Mörder nicht in den Spelunken, sondern anderwärts.«
Er schien nachzudenken und fügte kopfschüttelnd hinzu: »In den Salons, beispielsweise ... Seid Ihr bereit, Madame?«
Angélique nahm ihren Fächer und nickte.
»Soll ich Euch Euren Umschlag zurückgeben?«
»Welchen Umschlag?«
»Den, den Ihr mir anvertrautet, als Ihr kamt.«
Sie wußte nicht sofort, was er meinte, doch dann erinnerte sie sich plötzlich, und eine leichte Röte stieg in ihr Gesicht. Es war der Umschlag, der ihr Testament enthielt und den sie Desgray in der Absicht übergeben hatte, sich danach das Leben zu nehmen.
Sich das Leben nehmen? Was für ein komischer Gedanke! Warum hatte sie sich nur das Leben nehmen wollen? Das war wirklich nicht der richtige Augenblick. Da sie sich doch zum erstenmal seit Jahren vor dem Ziel all ihrer Bemühungen sah! Da sie den König von Frankreich sozusagen in der Hand hatte .!
»Ja, ja«, sagte sie hastig, »gebt ihn mir zurück.«
Er öffnete die Schatulle und reichte ihr den versiegelten Umschlag. Aber er zog ihn zurück, als sie ihn eben ergreifen wollte, und Angélique sah ihn fragend an.
Abermals hatte er jenen rötlich schimmernden Blick, der wie ein Strahl bis ins Innerste der Seele zu dringen schien.
»Ihr wolltet sterben, nicht wahr?«
Angélique starrte ihn schuldbewußt wie ein ertapptes Schulmädchen an, dann senkte sie nickend den Kopf.
»Und jetzt?«
»Jetzt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich vor, aus dieser Situation meinen Vorteil zu ziehen. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, und ich bin überzeugt, daß ich wieder vorankommen werde, wenn es mir gelingt, das Schokoladegeschäft in Zug zu bringen.«
»Gut so.«
Er ging mit dem Umschlag zum Kamin und warf ihn ins Feuer. Nachdem das letzte Blatt in Flammen aufgegangen war, kehrte er lächelnd zu ihr zurück.
»Desgray«, murmelte sie, »wie habt Ihr erraten .?«
»Oh, meine Liebe«, rief er lachend aus, »glaubt Ihr, daß ich so wenig abgefeimt bin, eine Frau nicht verdächtig zu finden, die sich mit verstörter Miene, ungepudert und ungeschminkt bei mir einstellt und mir obendrein noch erzählt, sie sei mit einem Stutzer verabredet, um in der Galerie des Palais zu paradieren? Im übrigen .«
Er sah nachdenklich vor sich hin.
»Ich kenne Euch zu gut. Ich habe sofort gemerkt, daß etwas nicht stimmte, daß Ihr gefährdet wart, und daß es galt, rasch und wirksam zu handeln. In Anbetracht meiner freundschaftlichen Gesinnung werdet Ihr mir verzeihen, daß ich so unzart mit Euch umgegangen bin, nicht wahr, Madame?«
»Ich weiß noch nicht«, sagte sie in sanft grollendem Ton. »Ich werde es mir überlegen.«
Doch Desgray lachte und warf ihr einen warmen, besitzergreifenden Blick zu.
Die junge Frau fühlte sich gedemütigt, aber sie sagte sich zu gleicher Zeit, daß sie auf der Welt keinen besseren Freund besaß als ihn.
»Wegen der Auskunft«, fuhr er fort, »die Ihr mir ... so bereitwillig gabt, braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen. Sie ist mir wertvoll, aber das war nur ein Vorwand. Ich werde sie mir merken, aber ich habe bereits vergessen, wer sie mir erteilt hat. Einen Rat noch, Madame, wenn Ihr ihn einem bescheidenen Polizisten verstattet: Schaut immer geradeaus, wendet Euch nie nach der Vergangenheit um. Vermeidet es, in ihrer Asche zu stochern . jener Asche, die man in alle Winde verstreut hat. Denn jedesmal, wenn Ihr daran denkt, werdet Ihr Euch nach dem Tode sehnen. Und ich werde nicht immer da sein, um Euch rechtzeitig aufzurütteln .«
Maskiert und eines Übermaßes von Vorsicht wegen mit verbundenen Augen wurde Angélique von einer Kutsche, deren Rouleaus heruntergelassen waren, zu einem kleinen Haus im Vorort Vaugirard gefahren. Man nahm ihr die Binde erst in einem von ein paar Leuchtern erhellten Salon ab, in dem sich vier oder fünf gemessene, mit Perücken versehene Herren befanden, die über Angéliques Erscheinen einigermaßen ungehalten zu sein schienen. Ohne Desgrays Gegenwart hätte sie das Gefühl gehabt, in eine Falle geraten zu sein.