142424.fb2
Stumm schloß er seine Arme um sie und drückte sie an sich.
»Ihr seid mein Freund, Desgray«, murmelte sie mit klagender Stimme. »Ich habe keinen besseren und werde nie einen besseren haben. Sagt mir, Ihr, der Ihr alles wißt, sagt mir, daß ich seiner nicht unwürdig geworden bin. Er war ein Mann, der sein Mißgeschick und die Armut in solchem Maße überwunden hatte, daß er die Geister der andern beherrschte, wie wenige Menschenwesen es vermögen ... Aber ich, was habe nicht auch ich alles überwunden? Ihr allein wißt, von wo ich zurückkehre, Desgray. Erinnert Euch und sagt mir: Bin ich jenes einzigartigen Willenphänomens unwürdig, das der Graf Peyrac war? Wird er nicht in der Kraft, die ich entwickelt habe, um seine Söhne dem Elend zu entreißen, die seine wiedererkennen, wenn er wiederkäme .?«
»Oh, zerbrecht Euch doch nicht den Kopf, meine Liebe!« sagte Desgray in seinem trägen Ton. »Wenn er wiederkäme . nun ja, wenn er wiederkäme, würde er, soweit ich diesen Mann kenne, Euch zunächst einmal eine hübsche Tracht Prügel verabfolgen. Alsdann würde er Euch in seine Arme nehmen und Euch so liebhaben, daß Ihr um Gnade winselt. Danach würdet Ihr beide Euch nach einem ruhigen Fleckchen Erde umsehen, um dort auf Eure goldene Hochzeit zu warten. Beruhigt Euch, mein Engel. Und geht Euren Weg weiter.«
»Ist es nicht wunderlich, Desgray, daß ich die Hoffnung nicht in mir ersticken kann, ihn eines Tages wiederzusehen? Es ist behauptet worden, daß ... nicht er es gewesen sei, den man auf der Place de Grève verbrannt habe.«
»Hört nicht auf Schwätzereien«, sagte er hart. »Man neigt immer dazu, ein außergewöhnliches Wesen mit einem Kranz von Legenden zu umgeben. Er ist tot, Angélique. Gebt Euch keinen törichten Hoffnungen mehr hin, das nutzt die Seele ab. Blickt nach vorn und heiratet Euren kleinen Marquis.«
Sie erwiderte nichts. Ihr Herz wurde von einem maßlosen, kindlichen Schmerz gepeinigt.
»Ich kann nicht mehr!« stöhnte sie. »Ich bin zu traurig. Umarmt mich, Desgray!«
»Oh, diese Frauen!« brummte er. »Sie erzählen einem von ihrer größten Liebe, von einem einzigartigen Wesen. Und im nächsten Augenblick bitten sie einen, sie zu umarmen. Was für eine Sippschaft!«
Ein wenig brutal streifte er die Ärmel ihres Mieders bis zu den Ellbogen hoch, und sie spürte, wie seine behaarten Hände unter ihre Achseln glitten, deren heimliche Wärme er zu genießen schien.
»Ihr seid verteufelt appetitanregend, das kann ich nicht leugnen, aber ich werde Euch nicht umarmen.«
»Weshalb?«
»Weil ich Besseres zu tun habe, als Euch zu lieben. Und wenn ich Euch einmal genommen habe, so nur, um Euch einen Dienst zu erweisen. Ihr hattet meinen Seelenfrieden einmal zuviel strapaziert.«
Langsam zog er seine Hände zurück, wobei er sich die Zeit nahm, unterwegs über ihre Brüste zu streichen.
»Grollt mir nicht, meine Schöne, und gedenkt meiner ... zuweilen. Ich werde es Euch danken. Viel Glück, Marquise der Engel!«
Schon zu Anfang hatte Philippe ihr gesagt, daß die Hochzeit auf Schloß Plessis stattfinden würde. Es lag ihm nichts daran, die Zeremonie sonderlich prunkvoll zu gestalten. Das paßte vortrefflich zu Angéliques Absichten, denn es gab ihr die Möglichkeit, das berüchtigte Kästchen unauffällig aus seinem Versteck zu holen. Manchmal brach ihr der kalte Schweiß aus, wenn sie sich fragte, ob es sich wohl noch am gleichen Platz befinde, im Ziertürmchen des Schlosses. Wenn jemand es nun entdeckt hatte? Aber das war wenig wahrscheinlich. Wer konnte schon auf den Gedanken gekommen sein, sich auf einer Dachrinne herumzutreiben, die kaum für ein Kind breit genug war, und in das Innere eines Türmchens von so harmlosem Aussehen zu spähen? Und sie wußte, daß im Laufe der letzten Jahre am Schloß Plessis keinerlei bauliche Veränderungen vorgenommen worden waren. Es bestand also alle Aussicht, daß sie den Einsatz für ihren Triumph an seinem Platz vorfinden würde. Am Tage der Hochzeit würde sie ihn Philippe übergeben können. Die Vorbereitungen für die Abreise nach dem Poitou verursachten eine Folge unruhiger Tage. Man nahm Florimond und Cantor samt ihrem ganzen »Hofstaat« mit: Barbe, Javotte, Flipot, Leichtfuß, die Hunde, den Affen, die Papageien. Mit den Koffern und der Dienerschaft wurden eine Kutsche und zwei Wagen benötigt. Daran sollte sich Philippes Gefolge anschließen.
Er selbst tat, als habe er mit der ganzen Angelegenheit nichts zu schaffen, und besuchte weiterhin die Bälle und Empfänge des Hofs. Wenn man auf seine Heirat anspielte, runzelte er verwundert die Stirn, als müsse er sich erst besinnen, und rief dann in verächtlichem Ton: »Ach so, ja, richtig!«
Während dieser letzten Woche sah Angélique ihn kein einziges Mal. Durch kurze Briefchen, die Molines übermittelte, gab er ihr seine Anweisungen. Sie habe an dem und dem Datum aufzubrechen. Er werde sie an dem und dem Tage treffen. Er werde mit dem Abbé und Molines erscheinen. Die Trauung werde dann sofort stattfinden.
Angélique spielte zunächst die fügsame Gattin. Später, beschloß sie, würde man diesem Grünschnabel schon einen anderen Ton beibringen. Schließlich brachte sie ihm ein Vermögen zu, und durch die Trennung von der kleinen Lamoignon hatte sie ihm das Herz nicht gebrochen. Sie würde ihm zu verstehen geben, daß sie zwar ein wenig brutal habe vorgehen müssen, daß dies ihnen beiden aber von Nutzen sein werde und sein sauertöpfisches Gehaben deshalb lächerlich sei.
Erleichtert und zugleich enttäuscht, daß er nicht kam, bemühte sie sich, nicht allzuviel an ihn zu denken. Das »Problem Philippe« trübte ihre Freude, und wenn sie nachdachte, wurde sie sich bewußt, daß sie Angst hatte. Es war besser, nicht nachzudenken.
Die Wagen legten die Strecke nach Poitiers in weniger als drei Tagen zurück. Die Straßen waren vom Frühlingsregen aufgeweicht, aber es gab keine Zwischenfälle, abgesehen von einem Achsenbruch kurz vor der Ankunft in Poitiers. Vierundzwanzig Stunden blieben sie dort. Am Morgen des übernächsten Tages begann sich Angélique in der Gegend, durch die sie rollten, zurechtzufinden. Man kam ziemlich nahe an Monteloup vorbei, und sie mußte sich zurückhalten, um dort nicht schnell einen Besuch abzustatten, aber die Kinder waren müde und verschmutzt. Man hatte in der vergangenen Nacht in einer schlechten, von Flöhen und Ratten heimgesuchten Herberge geschlafen. Auf Plessis würde man den nötigen Komfort vorfinden.
Angélique legte den Arm um die Schultern ihrer kleinen Jungen und atmete beglückt die reine Luft der blühenden Fluren. Es kam ihr unbegreiflich vor, daß sie so viele Jahre in einer Stadt wie Paris hatte leben können. Sie stieß immer wieder Freudenlaute aus und nannte die Namen der Weiler, durch die sie fuhren und deren jeder ihr eine Episode aus ihrer Kindheit ins Gedächtnis rief.
In den letzten Tagen hatte Angélique ihren Söhnen ausführlich von Monteloup und den herrlichen Spielen erzählt, mit denen man sich dort vergnügen konnte. Florimond war fast davon überzeugt, daß man im alten Schloß ein kleines Mädchen namens Madelon und einen kleinen Jungen namens Gontran vorfinden würde.
Endlich tauchte Plessis auf, weiß und verwunschen am Rande seines Teichs. Es kam Angélique, die inzwischen die prunkvollen Residenzen von Chantilly und die Pariser Paläste kennengelernt hatte, kleiner vor, als sie es in ihrer Erinnerung sah. Einige Dienstboten fanden sich ein. Obwohl die Herrschaft sich nicht um ihr Provinzschloß kümmerte, befand es sich dank Molines’ Fürsorge in gepflegtem Zustand. Aber Angélique spürte nicht das erwartete Glücksgefühl. Vielleicht hätte sie in Tränen ausbrechen, vielleicht hätte sie einen Freudentanz aufführen und Florimond und Cantor abküssen sollen. Da sie all das nicht konnte, fühlte sie sich wie gelähmt.
Sie erkundigte sich nach dem Schlafraum der Kinder, kümmerte sich persönlich um deren Unterbringung und verließ sie erst, als sie, gebadet und frisch gekleidet, vor ihrem Milchbrei saßen.
Dann begab sie sich nach dem Zimmer im Nordflügel, das sie für sich selbst hatte richten lassen - das Zimmer des Fürsten Condé.
Sie mußte sich noch in Javottes Hilfeleistungen fügen und die Begrüßungen der beiden Diener erwidern, die Bottiche mit heißem Wasser in die anstoßende Badestube trugen.
Auf ihr ungehobeltes Französisch antwortete sie unwillkürlich in der heimatlichen Mundart, und sie sperrten vor Verwunderung Mund und Nase auf, als sie diese vornehme Dame aus Paris, deren äußerliche Aufmachung ihnen höchst extravagant vorkam, sich in ihrem Jargon ausdrücken hörten, als sei er ihr von der Wiege an vertraut.
»Es ist schon so«, sagte Angélique lachend zu ihnen. »Erkennt ihr mich nicht wieder? Ich bin Angélique de Sancé. Und du, Guillot, ich erinnere mich, daß du aus dem Dorf Maubuis in der Nähe von Monteloup stammst.«
Der Angeredete, mit dem sie vor Zeiten an schönen Sommertagen in Brombeeren und Vogelkirschen geschwelgt hatte, lächelte verzückt.
»Und Ihr seid das also, die unsern Herrn geheiratet hat?«
»Freilich bin ich das.«
»Oh, da sind wir aber alle froh. Wir haben schon ein bißchen Angst gehabt, wie die neue Herrin wohl sein würde.«
So waren also die Leute hierzulande nicht im Bilde. Oder vielmehr, was sie wußten, war irrig, denn sie glaubten, die Trauung habe schon in Paris stattgefunden.
»Schade, daß Ihr nicht gewartet habt«, fuhr Guillot fort, während er seinen struppigen Kopf schüttelte. »Das wäre eine schöne Hochzeit gewesen!«
Angélique wagte nicht, Philippe zu desavouieren, indem sie diesem gutmütigen Tölpel sagte, daß die Trauung hier stattfinden sollte und daß sie selbst sich auf die Lustbarkeiten freue, weil sie bei dieser Gelegenheit die alten Bekannten aus der Umgebung wiedersehen würde.
»Es wird trotzdem Festlichkeiten geben«, versprach sie.
Dann drängte sie Javotte ungeduldig, sich ein wenig zu beeilen, und als die kleine Zofe endlich gegangen war, sah sich Angélique in ihrem Räume um.
Die Einrichtung hatte in den vergangenen zehn Jahren keine Veränderung erfahren, aber Angélique sah sie nicht mehr mit den geblendeten Augen des kleinen Mädchens von damals und fand die schweren Möbel im holländischen Stil und das Bett mit den vier plumpen Säulen reichlich altmodisch. An das gepflegte Parkett ihres Zimmers gewöhnt, kamen ihr die mit Blumen und frischem Gras bestreuten Fliesen für eine zukünftige Marquise ein wenig bäurisch vor. Das Bild des Olymps an der Wand hatte seinen verwirrenden Reiz verloren.
Die junge Frau ging zum Fenster und öffnete es. Als sie sah, wie schmal der Sims war, auf dem sie sich damals so leichtfüßig bewegt hatte, erschrak sie. »Ich bin viel zu dick geworden. Nie im Leben komme ich bis zu dem Türmchen«, sagte sie sich verzweifelt.
Nach einigem Überlegen beschloß sie, Javotte zu holen.
»Javotte, mein Kind, du bist schmal, klein und geschmeidiger als ein Schilfrohr. Du wirst versuchen, auf diesen Sims zu steigen und bis zu dem Ecktürmchen zu gelangen. Gib acht, daß du nicht hinunterpurzelst, sei so gut.«
»Gern, Madame«, erwiderte Javotte, die durch ein Nadelöhr geschlüpft wäre, um ihrer Herrin einen Gefallen zu erweisen.
Aus dem Fenster gebeugt, beobachtete Angélique ängstlich, wie die Kleine sich entlang der Dachrinne vorwärts bewegte.
»Schau ins Innere des Türmchens. Siehst du etwas?«
»Ich sehe etwas Dunkles, einen Kasten«, erwiderte Javotte alsbald.
»Gut so. Nimm ihn heraus und bring ihn mir vorsichtig.«
Ein paar Augenblicke später hielt Angélique die Schatulle des Mönchs Exili in ihren Händen. Eine Staubkruste bedeckte sie, aber sie bestand aus Sandelholz, und weder Tiere noch Schimmel hatten ihr etwas anhaben können.
»Geh«, sagte Angélique mit ausdrucksloser Stimme zu Javotte, »und schwatze nicht über das, was du eben getan hast. Wenn du den Mund hältst, bekommst du eine Haube und ein neues Kleid.«