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Seine Augen leuchteten auf. »Wollt Ihr, daß ich Euch einige meiner Arbeiten zeige, Mutter?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, lief er zu einer Truhe und kramte ein Stück Holz und ein Blatt Papier hervor. Es war das erstemal, daß er sich erbot, der Familie seine Arbeiten vorzulegen. Aber die Worte seiner Mutter hatten ihn bewegt, ohne daß er es sich eingestand, und er empfand das Bedürfnis, sie auf andere Gedanken zu bringen.
»Seht, dies ist der Kopf des alten Wilhelm.«
Als gute Familienmutter, die sie war, beugte sich die Baronin mit noch tränenverschleierten Augen über die mit dem Messer bearbeitete Birnbaumwurzel, die ihr Sohn ihr reichte. Sie fühlte, daß die Situation ihr über den Kopf wuchs. Was sollte man mit all diesen ungeduldigen, rebellischen Sprößlingen machen, die zu allem Überfluß sich auch noch herausnahmen, eigene Ideen über ihre Zukunft zu haben?
Der Kopf des alten Wilhelm war gewiß sprechend ähnlich, aber weshalb wollte Gontran deswegen gleich Bildhauer und Maler werden? War das denn überhaupt ein Beruf? Wohl wußte Madame de Sancé, daß berühmte Künstler am Hofe lebten oder in Rom, beispielsweise. Doch sie stellte sie im Geist auf eine Ebene mit Leuten vom Theater oder den Gauklern. Jedenfalls war das kein achtbarer Beruf. Sie kannte keine Edelleute, die Maler waren. »Und hier das Porträt von Angélique«, sagte der Junge, indem er das Blatt hinhielt.
Die mehrfarbig ausgeführte Zeichnung stellte eine Art Seeräuberin dar, die inmitten grimassierender, bärtiger Gesichter mit der Muskete schoß.
»Wie kannst du behaupten, dies stelle deine Schwester dar«, rief die bedauernswerte Mutter aus. »Angé-lique ist doch hübsch! Es ist durchaus möglich, daß sie eine gute Partie macht oder, wenn Gott will, in einen vornehmen Orden eintritt.«
»Und wenn Gott will, daß sie Anführerin einer Räuberbande wird?«
»Gontran, du lästerst! Manchmal frage ich mich, ob du deiner Sinne mächtig bist. Angélique, du erhebst nicht einmal Einspruch gegen das, was dein Bruder sagt?«
Doch Angélique lächelte gleichgültig. Sie preßte die Nase ans Fenster und spähte nach ihrem Vater aus. Sobald sie ihn auf dem schlammigen Weg daherkommen sah, auf den Stock mit dem silbernen Knauf gestützt, der sein einziger Luxus war, schlüpfte sie in die Küche und zog ihre Schuhe und ihren Mantel an. Dann lief sie zu ihrem Vater in den Stall, wo der Baron eben sein Pferd satteln ließ.
»Darf ich Euch begleiten, Vater?« fragte sie mit ihrer liebreizendsten Miene. Es lag ein wenig Absicht darin, aber sie war dem guten und stillen Mann, dessen tägliche Sorgen die sonnengebräunte Stirn mit tiefen Falten gezeichnet hatten, auch wirklich von Herzen zugetan.
Er konnte nicht widerstehen und setzte sie vor sich auf den Sattel. Angélique war seine Lieblingstochter. Er fand sie ausnehmend hübsch und träumte bisweilen davon, sie werde einen Herzog heiraten.
Es war ein klarer Herbsttag, und der seiner Blätter noch nicht beraubte nahe Wald breitete gegen den blauen Himmel sein rostfarbenes Laub aus.
Als sie am Parktor von Schloß Plessis-Bellière vorbeiritten, beugte sich Angélique gespannt vor und versuchte, am Ende der Kastanienallee die weiße Vision des bezaubernden Gebäudes zu entdecken, das sich in seinem Teich wie eine Traumwolke spiegelte. Alles war still, und der prachtvolle Bau im Renaissancestil, den seine Besitzer im Stich ließen, um am Hof zu leben, schien im Mysterium seines Parks und seiner Gärten zu schlafen. Die Hirschkühe des Forsts von Nieul, an den der Besitz grenzte, ergingen sich in den verödeten Alleen ...
Die Wohnung des Verwalters Molines befand sich zwei Kilometer weiter an einem der Parkeingänge. Es war ein hübsches Häuschen aus rotem Backstein mit schiefergedecktem Dachstock, das in seiner bürgerlichen Einfachheit wie der umsichtige Wächter jenes zierlichen Bauwerks wirkte, dessen italienische Grazie die an die mittelalterlichen Schlösser gewöhnten Leute der Umgegend noch immer verwunderte.
Der Verwalter war ganz das Abbild seines Hauses. Streng und würdevoll, seiner Rechte und seiner Rolle bewußt, wirkte er, als sei er der Herr dieses riesigen Besitzes, dessen Eigentümer dauernd abwesend war. Alle zwei Jahre vielleicht, im Herbst zur Jagd oder im Frühling, um Maiglöckchen zu pflücken, ließ sich ein Schwarm von Herren und Damen mit Wagen, Pferden, Hetzhunden und Musikanten in Plessis nieder, und ein paar Tage lang folgte ein Fest dem andern, zum gelinden Schrecken der Krautjunker der Nachbarschaft, die man nur einlud, um sich über sie lustig zu machen. Dann kehrte die ganze Gesellschaft nach Paris zurück, und das Schloß versank wieder in Schweigen.
Vom Geräusch der Pferdehufe angelockt, trat Molines in den Hof seines Hauses und verbeugte sich mehrmals, was ihn keine Überwindung kostete, da es zu seinem Amt gehörte. Baron Armand war offensichtlich angenehm davon berührt, aber Angélique, die wußte, wie hart und arrogant der Mann sein konnte, machte sich nichts aus so übertriebener Höflichkeit.
Wenn sie Molines auch unangenehm fand, brachte sie ihm doch eine gewisse Achtung entgegen, vermutlich des gepflegten Aussehens seiner Person und seines Hauses wegen. Seine stets dunkle Kleidung war aus gutem Stoff angefertigt und schien verschenkt oder eher verkauft zu werden, bevor sie auch nur die geringsten Spuren von Abnutzung aufwies. Er trug nach der neuen Mode Schnallenschuhe mit sehr hohen Absätzen.
Überdies aß man vortrefflich bei ihm. Angéliques Näschen schnupperte, als sie den mit Fliesen ausgelegten und vor Sauberkeit strahlenden Raum betraten, der an die Küche grenzte. Madame Molines versank bei ihrem tiefen Knicks fast in ihren Röcken und kehrte danach zu ihren Kuchen zurück.
Der Verwalter führte seine Gäste in ein kleines Arbeitszimmer, in das er frisches Wasser und eine Flasche Wein bringen ließ.
»Ich bin überaus beglückt, Herr Baron«, begann er, »daß Ihr persönlich meiner Aufforderung Folge geleistet habt. Für mich ist das ein Zeichen, daß wir uns über die Angelegenheit, an die ich denke, einigen werden.«
»Ihr unterwerft mich also einer Art Prüfung?« fragte Armand.
»Nichts für ungut, Herr Baron. Ich bin kein Mann von großer Bildung und habe nur einen bescheidenen Dorfschulunterricht genossen. Aber ich will Euch gestehen, daß mir der Dünkel gewisser Edelleute nie als ein Beweis von Intelligenz erschienen ist. Nun, man bedarf ihrer, wenn man über Geschäfte spricht, und seien diese noch so bescheiden.«
Der Landedelmann lehnte sich in seinen Polstersessel zurück und betrachtete den Verwalter gespannt. Er hatte ein wenig Angst vor dem, was dieser Nachbar, dessen Ruf nicht der beste war, ihm darlegen würde.
Molines galt für sehr reich. Anfangs war er mit den Bauern hart umgegangen, aber in den letzten Jahren hatte er sich bemüht, freundlicher zu sein, selbst den Ärmsten gegenüber. Über die Gründe dieses Umschwungs wußte man nicht viel zu sagen. Die Bauern mißtrauten ihm, doch da Molines jetzt hinsichtlich der Abgaben, die dem König und dem Marquis zustanden, mit sich reden ließ, behandelte man ihn mit Respekt.
Die Böswilligen unterstellten ihm, er handle so, um seinen ewig abwesenden Herrn in Schulden zu verstricken. Was die Marquise und Philippe, den Sohn, anbetraf, so interessierten sie sich nicht mehr für den Besitz als der Marquis selbst.
»Wenn es wahr ist, was man erzählt, habt Ihr alle Aussichten, den gesamten Besitz der du Plessis auf eigene Rechnung zu übernehmen«, sagte Armand de Sancé etwas grob.
»Pure Verleumdung, Herr Baron. Ich lege nicht nur Wert darauf, ein loyaler Diener des Herrn Marquis zu bleiben, sondern sehe auch keinerlei Vorteil in einem solchen Erwerb. Um Eure Bedenken zu zerstreuen, will ich Euch anvertrauen - obwohl ich damit kein Geheimnis verrate -, daß dieser Besitz mit Hypotheken überbelastet ist!«
»Kommt mir nicht mit dem Vorschlag, ihn zu kaufen. Ich habe nicht die Mittel .«
»Ein solcher Gedanke liegt mir fern, Herr Baron. Aber nehmt Ihr nicht noch ein Glas Wein?«
Angélique, die dieses Gespräch nicht interessierte, schlich hinaus und betrat die große Stube, in der Madame Molines damit beschäftigt war, den Teig für eine riesige Torte auszurollen. Sie lächelte dem Mädchen zu und reichte ihm eine Dose, der ein köstlicher Duft entströmte.
»Kommt, nehmt Euch davon, Herzchen. Das ist kandiertes Angelika oder Engelwurz, wie man auch sagt. Ihr tragt seinen Namen. Ich mache es selbst mit schönem, weißem Zucker. Es ist besser als das der Patres von der Abtei, die nur Kandiszucker verwenden.«
Während Angélique ihr zuhörte, biß sie mit Lust in die klebrigen grünen Stiele. Das also wurde nach dem Pflücken aus den großen, kräftigen Pflanzen der Moore, deren Duft im Naturzustand bitterer war.
Sie schaute sich bewundernd um. Die Möbel glänzten. In einer Ecke stand eine Uhr, jene Erfindung, die Großvater teuflisch nannte. Um sie genauer besehen und ihr Ticken vernehmen zu können, näherte sie sich dem Arbeitszimmer, in dem die beiden Herren sich unterhielten. Sie hörte ihren Vater sagen: »Heiliger Dionysius, Ihr macht mich ganz wirr, Molines. Man erzählt ja eine ganze Menge über Euch, aber im Grunde ist sich alle Welt einig, daß Ihr eine Persönlichkeit seid und einen bemerkenswerten Spürsinn habt. Nun, Eure eigenen Worte sagen mir freilich, daß Ihr in Wirklichkeit die schlimmsten Utopien hegt.«
»Was findet Ihr denn bei dem, was ich Euch dargelegt habe, so unvernünftig, Herr Baron?«
»Überlegt doch einmal. Ihr wißt, daß ich mich für Maulesel interessiere, daß ich durch Kreuzung eine recht schöne Rasse herausgezüchtet habe, und Ihr ermutigt mich, diese Zucht zu intensivieren, deren Produkte abzusetzen Ihr Euch anheischig macht. So weit gut. Ich vermag Euch aber nicht zu folgen, wenn Ihr von einem langfristigen Ausfuhrkontrakt nach - Spanien redet. Wir befinden uns im Krieg mit Spanien, mein Freund.«
»Der Krieg wird nicht ewig dauern, Herr Baron.«
»Wir hoffen es. Aber man kann auf solcherlei Hoffnung keinen soliden Handel gründen.«
Der Verwalter verzog sein Gesicht zu einem herablassenden Lächeln, das dem verarmten Edelmann entging. Dieser fuhr in heftigerem Tone fort:
»Wie wollt Ihr mit einer Nation Handel treiben, die uns bekriegt? Erstens einmal ist es verboten, und das ist recht so, denn Spanien ist der Feind. Überdies sind die Grenzen geschlossen und die Verbindungswege und Brücken überwacht. Allerdings will ich gerne zugeben, daß das Liefern von Mauleseln an einen Feind nicht so schlimm ist wie das Liefern von Waffen, zumal die Feindseligkeiten sich nicht mehr hier abspielen, sondern auf fremdem Boden. Schließlich habe ich zuwenig Tiere, als daß sich ein Handel irgendwelcher Art lohnen würde. Das würde mich viel Geld und Jahre der Vorbereitung kosten. Meine finanziellen Mittel erlauben mir ein solches Experiment nicht.« Sein Stolz verbot ihm hinzuzufügen, daß er sogar daran dachte, sein Gestüt aufzugeben.
»Herr Baron, wollt Ihr gütigst bedenken, daß Ihr bereits vier hervorragende Hengste besitzt und daß es Euch leichter fallen dürfte als mir, sich noch viele weitere bei den Edelleuten der Umgebung zu verschaffen. Was die Eselinnen betrifft, so findet man deren zu Hunderten für zehn oder zwanzig Livres das Stück. Durch weitere Trockenlegung der Moore lassen sich die Weiden verbessern, Eure Maultiere sind im übrigen ja sehr robust. Ich meine, mit zwanzigtausend Livres müßte es zu machen sein, so daß die Sache nach drei oder vier Jahren in Gang käme.«
Der arme Baron schien vom Schwindel erfaßt zu werden.
»Mein Gott, Ihr habt es ja gut vor! Zwanzigtausend Livres! Für so wertvoll haltet Ihr meine armseligen Maultiere, über die sich hierzulande alle Welt lustig macht? Zwanzigtausend Livres! Ihr jedenfalls werdet sie mir gewiß nicht vorstrecken, diese zwanzigtausend Livres.«
»Und warum nicht?« sagte Molines gelassen.
Der Edelmann starrte ihn einigermaßen verblüfft an.
»Das wäre höchst töricht von Euch, Molines! Ich darf Euch darauf aufmerksam machen, daß ich keinen Bürgen stellen kann.«
»Ich würde mich mit einem einfachen Gesellschaftsvertrag zu hälftigen Anteilen und einer Hypothek auf diese Zucht begnügen. Wir könnten den Vertrag privat und insgeheim in Paris abschließen.«
»Damit Ihr es wißt, ich fürchte, ich habe auf absehbare Zeit nicht die Mittel, in die Hauptstadt zu reisen. Und außerdem erscheint mir Euer Vorschlag so beunruhigend und gewagt, daß ich zunächst einige Freunde befragen möchte ...«