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»Ich glaube, es ist besser, ich bleibe nicht hier«, sagte sie zu Andijos.
»Ja, ja, Madame, geht so rasch wie möglich«, sagte der Diener beschwörend.
»Zuerst muß ich wissen, wohin. Aber ich habe ja eine Schwester hier in Paris. Ich kenne ihre Adresse nicht, ich weiß nur, daß ihr Gatte Staatsanwalt ist, ein gewisser Maître Fallot. Ich glaube sogar, daß er sich seit seiner Vermählung Fallot de Sancé nennt.«
»Wenn wir zum Justizpalast fahren, wird man uns sicher Auskunft geben können.«
Die Kutsche und ihr Gefolge bewegten sich wieder durch Paris. Angélique sah nicht aus dem Fenster. Diese Stadt, die sie so feindselig empfing, übte keinen Reiz mehr auf sie aus. Florimond weinte. Er zahnte, und vergeblich rieb ihm Margot die Kiefer mit einer Tinktur aus Honig und zerstoßenem Fenchel ein.
Schließlich bekam man die Adresse des Staatsanwalts, der wie viele Beamte nicht weit vom Justizpalast auf der Ile de la Cité wohnte. Die Straße hieß Rue de l’Enfer[4], was Angélique als ein düsteres Vorzeichen erschien. Die Häuser waren dort noch grau und mittelalterlich, mit spitzen Giebeln, spärlichen Fensteröffnungen, Skulpturen und Wasserspeiern.
Das, vor dem die Kutsche schließlich hielt, wirkte kaum minder düster als die anderen, obwohl es drei ziemlich hohe Fenster in jedem Stockwerk aufwies.
Im Erdgeschoß befand sich die Kanzlei, an deren Tür ein Schild befestigt war mit der Aufschrift:
»Maître Fallot de Sancé. Staatsanwalt.«
Zwei Gehilfen, die sich auf der Schwelle rekelten, stürzten auf Angélique zu, kaum daß sie den Fuß auf die Erde gesetzt hatte, und überschütteten sie mit einem Schwall von Worten in einem unverständlichen Kauderwelsch. Schließlich erfaßte sie, daß die Burschen ihr die Kanzlei Maître de Sancés als den einzigen Ort in Paris priesen, wo auf das Gewinnen ihres Prozesses erpichte Leute gut beraten würden.
»Ich komme nicht wegen eines Prozesses«, sagte Angélique. »Ich möchte Madame Fallot besuchen.«
Enttäuscht deuteten sie auf eine Tür zur Linken, die zur Privatwohnung des Anwalts führte.
Angélique betätigte den Türklopfer. Ohne das Verschwinden ihres Gatten hätte sie Hortense gewiß nicht aufgesucht. Sie hatte zu dieser Schwester, deren Wesen von dem ihrigen so verschieden war, nie ein herzliches Verhältnis gehabt. Nun wurde sie sich bewußt, daß sie im Grunde eine gewisse Freude empfand, sie wiederzusehen. Die Erinnerung an die kleine Madelon wob ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Sie gedachte der Nächte, in denen sie, alle drei in ihrem großen Bett eng aneinandergedrängt, die Ohren gespitzt hatten, um etwa die flüchtigen Schritte des Gespensts von Monteloup zu erlauschen, jener alten, weißen Dame, die mit tastender Hand von Raum zu Raum wanderte. Sie waren sogar fest überzeugt gewesen, in einer bestimmten Winternacht gesehen zu haben, wie sie durch ihr Schlafzimmer schritt ...
So wartete sie in einer gewissen Spannung, daß man ihr öffnen kam.
Eine säuberlich gekleidete, dicke Magd in weißem Häubchen führte sie ins Vestibül, und fast zu gleicher Zeit schon erschien Hortense auf der Höhe der Treppe. Sie hatte die Kutsche vom Fenster aus gesehen.
Angélique hatte den Eindruck, daß ihre Schwester im Begriff gewesen war, ihr um den Hals zu fallen; doch alsbald besann sie sich eines anderen und nahm ein zurückhaltendes Wesen an. Im übrigen war es im Vorraum so dunkel, daß man einander kaum sehen konnte. Sie umarmten sich kühl.
Hortense wirkte noch dürrer und größer als früher.
»Meine arme Schwester!« sagte sie.
»Warum nennst du mich >meine arme Schwester<?« fragte Angélique.
Madame Fallot machte eine auf die Magd bezügliche Geste und zog Angélique in ihr Schlafzimmer. Es war ein großer Raum, der zugleich als Salon diente, denn um das Bett mit seinen schönen Vorhängen und der gelben Damastdecke waren zahlreiche Sessel und Schemel sowie Stühle und Bänke gruppiert. Angélique fragte sich, ob ihre Schwester wohl die Angewohnheit hatte, ihre Freunde auf dem Bett liegend zu empfangen, wie es die Preziösen taten. Freilich hatte Hortense früher als geistreich gegolten und sich einer gewählten Sprache befleißigt.
Auch hier war es infolge der farbigen Fenster dunkel, aber bei der herrschenden Hitze war das nicht unangenehm. Die Fliesen wurden durch hier und dort ausgestreute grüne Grasbüschel kühl gehalten. Angélique sog ihren guten, ländlichen Geruch ein.
»Es ist gemütlich bei dir«, sagte sie zu Hortense.
Ihre Schwester verzog keine Miene.
»Versuche nicht, mich durch dein harmloses Gehabe hinters Licht zu führen. Ich weiß über alles Bescheid.«
»Dann hast du Glück, denn ich muß gestehen, daß ich selber nicht im geringsten weiß, was eigentlich vorgeht.«
»Welche Unvorsichtigkeit, dich hier mitten in Paris zu zeigen!« sagte Hortense, indem sie die Augen zum Himmel aufschlug.
»Hör mal, Hortense, fang nicht wieder an, deine Augen zu verdrehen. Ich weiß nicht, ob dein Mann wie ich ist, aber ich entsinne mich, daß ich diese Grimasse nie mit ansehen konnte, ohne dir eine Ohrfeige zu verabfolgen. Jetzt werde ich dir sagen, was ich weiß, und danach wirst du mir sagen, was du weißt.«
Sie erzählte ihr, wie Graf Peyrac plötzlich verschwunden war, während sie sich wegen der Hochzeit des Königs in Saint-Jean-de-Luz befanden. Da die Mutmaßungen gewisser Freunde sie zu der Ansicht gebracht hätten, er sei entführt und nach Paris gebrächt worden, sei sie ebenfalls in die Hauptstadt gereist. Hier habe sie ihr Palais versiegelt vorgefunden und erfahren, ihr Gatte sei höchstwahrscheinlich in der Bastille.
Hortense sagte streng: »Da konntest du ja wohl ermessen, wie kompromittierend dein Erscheinen am hellichten Tage für einen hohen Beamten des Königs sein mußte. Und dennoch bist du hierhergekommen!«
»Ja, das war freilich gewagt«, erwiderte Angélique, »aber mein erster Gedanke war, daß die Leute meiner Familie mir helfen könnten.«
»Das erstemal, daß du dich deiner Familie erinnerst, wie mir scheint. Ich bin sicher, du wärest niemals zu mir gekommen, wenn du in deinem schönen, neuen Haus in Saint-Paul wie ein Pfau hättest herumstolzieren können. Warum hast du nicht die prächtigen Freunde deines so reichen und schönen Herrn Gemahls um Gastfreundschaft gebeten, all jene Fürsten, Herzöge und Grafen, statt uns durch deine Gegenwart in Unannehmlichkeiten zu bringen?«
Angélique war nahe daran, aufzustehen und türknallend das Haus zu verlassen, aber sie glaubte, von der Straße her das Weinen Florimonds zu hören, und beherrschte sich.
»Hortense, ich mache mir keine Illusionen. Als liebevolle und ergebene Schwester setzt du mich vor die Tür. Aber ich habe ein vierzehn Monate altes Kind bei mir, das gebadet, genährt und frisch gekleidet werden muß. Es ist spät. Wenn ich mich jetzt noch auf die Suche nach einer Unterkunft mache, kann es mir passieren, daß ich an einer Straßenecke nächtigen muß. Nimm mich für diese eine Nacht auf.«
»Das ist für die Sicherheit meines Heims eine Nacht zuviel.«
»Man könnte meinen, ich stände im Ruf, ein lasterhaftes Leben zu führen!«
Madame Fallot kniff die Lippen zusammen, und ihre braunen, lebhaften, wenn auch ziemlich kleinen Augen funkelten.
»Dein Ruf ist nicht fleckenlos. Was den deines Gatten betrifft - der ist grauenvoll.«
Angélique konnte sich angesichts dieser pathetischen Redeweise eines Lächelns nicht erwehren.
»Ich versichere dir, daß mein Gatte der beste aller Männer ist. Du würdest es sofort merken, wenn du ihn kennenlerntest .«
»Gott behüte mich davor! Ich würde vor Angst sterben. Wenn es stimmt, was man mir gesagt hat, dann begreife ich nicht, wie du mehrere Jahre in seinem Hause leben konntest. Er muß dich behext haben.«
Nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu:
»Freilich hast du schon als Kind eine ausgesprochene Vorliebe für alle möglichen Laster gehabt.«
»Du bist ja wirklich von seltener Liebenswürdigkeit, meine Teure! Freilich hattest du deinerseits schon als Kind eine ausgesprochene Vorliebe für Verleumdung und Boshaftigkeit.«
»Das wird ja immer schöner! Jetzt beschimpfst du mich auch noch unter meinem eigenen Dach.«
»Weshalb weigerst du dich, mir zu glauben? Ich sage dir, daß mein Mann nur infolge eines Mißverständnisses in der Bastille ist.«
»Wenn er in der Bastille ist, dann deshalb, weil es eine Gerechtigkeit gibt.«
»Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, wird er alsbald freigelassen werden.«
»Verstattet mir, mich einzumischen, meine Damen, die Ihr so trefflich über die Gerechtigkeit zu reden wißt«, ließ sich hinter ihnen eine ernste Stimme vernehmen.
Ein Mann hatte den Raum betreten. Er mußte in den Dreißigern sein, wirkte jedoch schon sehr gesetzt. Unter der braunen Perücke trug sein volles, sorgfältig rasiertes Gesicht eine zugleich ernste und aufmerksame Miene zur Schau, die etwas Priesterliches hatte. Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt wie jemand, der durch seinen Beruf daran gewöhnt ist, vertrauliche Mitteilungen zu empfangen.
An seinem vornehmen, aber nur durch eine schwarze Litze und Hornknöpfe belebten Gewand aus schwarzem Tuch und dem makellosen, jedoch schlichten Kragen erkannte Angélique, daß sie ihren Schwager, den Staatsanwalt, vor sich hatte. Um ihn durch Schmeichelei zu gewinnen, verneigte sie sich vor ihm, aber er trat auf sie zu und küßte sie feierlich auf die Wangen, wie es sich zwischen Familienmitgliedern geziemte.