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Die Bedienerin reichte die Suppe. Das gestärkte weiße Tischtuch zeigte noch die Falten vom Plätten in regelmäßiger Viereckform.
Das Silber war recht schön, aber die Familie Fallot benützte keine Gabeln, deren Gebrauch noch nicht allgemein verbreitet war. Joffrey war es gewesen, der Angélique gelehrt hatte, sich ihrer zu bedienen, und sie erinnerte sich, daß sie sich am Tage ihrer Hochzeit in Toulouse mit diesem Instrument in der Hand reichlich ungeschickt vorgekommen war. Es gab mehrere aus Fisch, Eiern und Milchspeise bestehende Gänge. Angélique vermutete, daß ihre Schwester zwei oder drei Gerichte aus einer benachbarten Bratküche hatte kommen lassen, um das Menü zu vervollständigen.
»Du darfst meinetwegen aber keine Umstände machen, Hortense.«
»Bildest du dir ein, die Familie eines Staatsanwalts ißt nur Haferbrei und Kohlsuppe?« erwiderte die Schwester scharf.
Am Abend konnte Angélique trotz ihrer Müdigkeit lange nicht einschlafen. Sie lauschte den Rufen, die aus den stickigen Gassen der unbekannten Stadt heraufdrangen.
Das Glöckchen eines Totenausrufers erklang.
»Betet zu Gott, ihr Schläfer allzumal, daß er die Toten aufnehm’ in seinen Himmelssaal.«
Angélique erschauerte und barg ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie tastete nach dem langen, warmen Körper Joffreys. Wie sehr sehnte sie sich nach seiner Heiterkeit, seiner Lebhaftigkeit, seiner wunderbaren, stets gütigen Stimme, seinen liebkosenden Händen!
Wann würden sie einander wiederfinden? Wie glücklich würden sie dann sein! Sie würde sich in seine Arme schmiegen und ihn bitten, sie an sich zu drücken, sie ganz fest an sich zu pressen .!
Sie schlief ein, das Kopfkissen aus grobem, nach Lavendel duftendem Leinen im Arm.
Angélique schob den hölzernen Ladenflügel zurück, dann rüttelte sie an dem bunten Butzenscheibenfenster. Schließlich gelang es ihr, es zu öffnen. Man mußte Pariser sein, um bei solcher Hitze bei geschlossenem Fenster schlafen zu können. Sie atmete die frische Morgenluft ein, dann hielt sie verblüfft und staunend inne.
Ihr Zimmer lag nicht nach der Rue de l’Enfer, sondern nach der Hinterseite des Hauses hinaus. Es hing über einem Wasserlauf, der in der aufsteigenden Sonne golden glitzerte und von Kähnen und schwerbeladenen Zillen durchpflügt wurde.
Auf dem gegenüberliegenden Ufer bildete das mit Leinen überdachte Verdeck eines Waschboots einen leuchtend weißen Fleck in der von leichtem Dunst verschleierten Landschaft. Das Gekreisch der Frauen, das Schlaggeräusch ihrer Waschbeutel drangen bis zu Angélique, vermischt mit den Rufen der Flußschiffer und dem Wiehern der Pferde, die von Knechten zur Tränke geführt wurden.
Zur Rechten, an der Spitze der Insel, befand sich ein kleiner, von Zillen erfüllter Hafen. Dort wurden Körbe mit Apfelsinen, Kirschen, Trauben und Birnen ausgeladen. Zerlumpte junge Burschen, die am äußersten Ende ihrer Kähne standen, bissen herzhaft in Apfelsinen und warfen die Reste in die Fluten, die sie träge an den Häusern vorbeitrieben; dann legten sie ihre Lumpen ab und tauchten ins fahle Wasser. Ein grellrot bemalter hölzerner Steg verband, vom Hafen ausgehend, die Stadt mit einer kleinen Insel.
Gegenüber, kurz hinter dem Waschboot, erstreckte sich eine weitere, von Frachtschiffen wimmelnde Häfenanlage. Dort wurden Fässer und Säcke aufgestapelt und Berge von Heu für die Ställe ausgeladen. Mit Bootshaken bewaffnete Flußschiffer hielten Holzflöße auf, die mit der Strömung herunterkamen, und zogen sie ans Ufer, wo Tagelöhner die Stämme aufschichteten.
Überall dieser Geschäftigkeit lag ein duftiges, gelbliches Licht von der Farbe der Schlüsselblume und verwandelte jede Szene in ein köstliches, traumartiges Gemälde, das durch den Reflex eines Lakens oder einer weißen Haube, einer dicht über den Wasserspiegel hinwegstreichenden Möwe plötzlich belebt wurde.
»Die Seine«, murmelte Angélique.
Die Seine, das war Paris. Stellte das Wappen der Stadt nicht ein silbernes Schiff dar, das die Verdienste der Kaufleute versinnbildlichte, denen sie ihren Reichtum verdankte?
Am Tage zuvor hatte Angélique nur düstere und übelriechende Straßen gesehen. Doch dieses andere Bild der Stadt versöhnte sie ein wenig mit Paris. Sie dachte mit größerem Optimismus an die Schritte, die sie gleich heute unternehmen mußte. Zuallererst würde sie in die Tuilerien gehen und die Grande Mademoiselle um Audienz bitten. Sie würde ihr ganz offen ihre Situation schildern: das Verschwinden des Gatten, der versiegelte Besitz, die in absolutes Schweigen gehüllte Angelegenheit. Man hatte keine Erklärung gegeben. Niemand außer den direkt Interessierten wußte Bescheid. Von ihrer erlauchten Freundin hoffte Angélique etwas über die Intrigen zu erfahren, die zu Joffreys Verhaftung geführt hatten. Wer weiß, vielleicht würde sie bis zum König vordringen? Der König, der den Verhaftbefehl unterschrieben hatte, mußte ja schließlich einen Grund gehabt haben. Er sollte ihn nennen. Auch jetzt noch fragte sich Angélique, ob all das nicht eine Ausgeburt ihrer Phantasie war. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal die Atmosphäre der Festlichkeiten von Saint-Jean-de-Luz, die Fröhlichkeit, den Glanz; jedermann dachte nur an seine Juwelen, an seinen Platz in der Kathedrale und daran, daß man ja nichts versäume.
Und dann war mit einem Male die Stimme Joffreys für Angélique verstummt. Nichts mehr. Sie war plötzlich allein gewesen.
Jemand klopfte an die Tür, und Hortenses Magd trat mit einem Milchtopf ein.
»Ich bringe Milch für den Kleinen, Madame. Es ist besonders gute. Ich habe sie selbst zu früher Stunde geholt. Die Frauen aus den Dörfern waren gerade erst gekommen. Die Milch in ihren Kannen war noch kuhwarm.«
»Das ist sehr lieb, mein Kind, daß Ihr Euch solche Mühe macht. Aber Ihr hättet die Kleine schicken sollen, die ich bei mir habe, um mir die Milch heraufzu-bringen.«
»Ich wollte doch sehen, ob das Kerlchen aufgewacht ist. Ich habe die kleinen Kinder so gern, Madame. Es ist schade, daß Madame Hortense die ihrigen in Pflege gibt. Vor sechs Monaten hat sie eins bekommen, das ich ins Dorf Chaillot zur Amme brachte. Ach, jeden Tag hab’ ich Angst, jemand könnte kommen und mir sagen, daß es gestorben ist; denn die gute Frau hatte kaum Milch, und ich glaube, daß sie es mit in Wasser und Wein getauchtem Brot nährt.«
»Das kleine Mädchen, das man jetzt zurückgebracht hat, scheint hübsch zu sein.«
»Wenn eins mal durchkommt - wie viele müssen sterben!« sagte die Magd seufzend.
Sie hatte runde Apfelbäckchen und blaue, kindliche Augen. Angélique empfand eine plötzliche Zuneigung für sie.
»Wie heißt du, Mädchen?«
»Zu dienen, Madame, ich heiße Barbe.«
»Weißt du, Barbe, ich habe mein Kind in der ersten Zeit selbst gestillt. Ich hoffe, es wird kräftig werden.«
»Nichts ersetzt die Pflege einer Mutter«, sagte Barbe tendenziös.
Florimond erwachte. Er klammerte sich mit beiden Händen an das Gitter seines Bettchens, setzte sich auf und betrachtete mit seinen dunklen, leuchtenden Augen das neue Gesicht.
»Das goldige Schätzchen, das süße Engelchen! Guten Morgen, mein Herzchen«, koste Barbe, nahm den schlaftrunkenen Kleinen in ihre Arme und trug ihn ans Fenster, um ihm die Kähne, die Möwen und die Apfelsinenkörbe zu zeigen.
»Wie heißt der kleine Hafen?« fragte Angélique.
»Das ist der Saint-Landry-Hafen, der Fruchthafen, und das dort hinten ist die Rote Brücke, die zur Insel Saint-Louis führt. Gegenüber wird auch viel ausgeladen: Es gibt da einen Heuhafen, einen Holzhafen, einen Getreidehafen und einen Weinhafen. Diese Güter gehen vor allem die Herren vom Stadthaus an, jenem schönen Gebäude, das Ihr dort drüben am Ufer seht.«
»Und der große Platz, der davor liegt?«
»Das ist die Place de Grève.«
Barbe kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
»Heute morgen sind eine Menge Leute dort. Sicher wird da wieder einer gehängt.«
»Gehängt?« rief Angélique entsetzt aus.
»Freilich! Auf der Place de Grève finden die Hinrichtungen statt. Von meiner Dachstube aus, die genau hier drüber liegt, entgeht mir keine einzige, wenn es auch ein bißchen weit entfernt ist. Das Hängen ist mir noch das liebste, weil ich ein empfindsames Herz habe. Und es ist das Übliche, aber ich habe auch zwei Köpfe mit dem Beil abhauen sehen und einen Scheiterhaufen für einen Hexenmeister.«
Angélique erschauerte und wandte sich ab. Der Ausblick aus ihrem Fenster kam ihr mit einem Male weniger lieblich vor.
Nachdem Angélique sich einigermaßen elegant gekleidet hatte, da sie in die Tuilerien zu gehen gedachte; bat sie Margot, ihren Umhang zu nehmen und sie zu begleiten. Die Kindsmagd würde Florimond hüten, und Barbe sollte auf beide ein wachsames Auge haben. Angélique war froh, das Hausmädchen zur Verbündeten zu haben, denn das war Hortenses wegen sehr wichtig, die wenig Hilfe hatte. Außer Barbe gab es nur ein Küchenmädchen und einen Hausburschen, der das Wasser und das Holz für die Feuer im Winter besorgte, sich um die Kerzen kümmerte und die Böden auf wusch.
»Eure Dienerschaft wird bald nicht mehr sehr stattlich sein«, bemerkte die große Margot mit verächtlich verzogenem Mund. »Was ich befürchtete, ist eingetreten, Madame. Euer Diener- und Kutscherpack hat sich davongemacht, und es ist niemand mehr da, um Eure Kutsche zu fahren und Eure Pferde zu versorgen.«
Nach der ersten Verblüffung heiterte sich Angéliques Miene auf.
»Eigentlich ist das ganz gut so. Ich habe nur viertausend Livres bei mir. Ich will zwar Monsieur d’Andijos nach Toulouse schicken, damit er mir Geld bringt, aber inzwischen und da man nicht weiß, was die Zukunft bringt, ist es mir lieb, daß ich diese Leute nicht zu bezahlen brauche. Ich werde meine Pferde und meine Kutsche an den Besitzer des öffentlichen Stalls verkaufen, und wir gehen eben zu Fuß. Ich habe große Lust, mir die Kaufläden anzuschauen.«
»Madame macht sich keine Vorstellung von dem Schmutz auf den Straßen. An manchen Stellen versinkt man bis zum Knöchel im Morast.«
»Meine Schwester hat mir gesagt, daß man sehr bequem geht, wenn man Schuhe mit Holzsohlen anzieht. Komm, Margot, Liebe, brumme nicht, wir wollen uns Paris anschauen. Ist das nicht herrlich?«