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»Fürchtet Ihr nicht, Euer toulousanischer Besitz könne beschlagnahmt und versiegelt sein wie Euer Palais in Paris?«
Angélique starrte ihn entsetzt an; daran hatte sie noch nicht gedacht.
»Das ist unmöglich«, stammelte sie. »Weshalb sollte man das getan haben? Warum sollte man uns so hartnäckig verfolgen? Wir haben niemandem ein Unrecht zugefügt.«
Der Staatsanwalt machte eine salbungsvolle Gebärde.
»Ach, Madame! Gar viele Leute, die in diese Kanzlei kommen, äußern die gleichen Worte. Wenn man ihnen so zuhört, könnte man glauben, niemand füge je einem andern ein Unrecht zu. Und dennoch gibt es immer wieder Prozesse .«
»Und Arbeit für die Staatsanwälte«, dachte Angélique.
Mit dieser neuerlichen Unruhe im Herzen hatte sie wenig Sinn für den Spaziergang, der sie durch die Rue de la Colombe, die Rue des Marmousets und die Rue de la Lanterne vor den Justizpalast führte. Sie folgten dem Quai de l’Horloge und erreichten den Pont-Neuf am äußersten Ende der Insel. Seine Belebtheit begeisterte die Dienstboten. Kleine fliegende Kramläden drängten sich um die Bronzestatue des guten Königs Heinrich IV., und tausend Rufe priesen eine Unmenge der verschiedenartigsten Waren an. Hier war es ein wunderwirkendes Pflaster, dort zog man schmerzlos Zähne, dort wurden Bücher verkauft, dort Spielzeug, dort Halsketten aus Schildkrot gegen Leibschmerzen. Man hörte Trompeten blöken und Spieldosen schnarren. Eine abgezehrte, in ein vertragenes Kostüm gekleidete Gestalt schob Angélique ein Stück Papier in die Hand und verlangte zehn Sols dafür. Sie gab sie ihr mechanisch und steckte das Blatt in die Tasche. Dann forderte sie ihre Trabanten auf, sich etwas mehr zu beeilen.
Sie war nicht in der Stimmung, dieses lärmende Treiben zu genießen. Überdies wurde sie bei jedem Schritt von Bettlern aufgehalten, die plötzlich vor ihr auftauchten und auf eine eitrige Wunde deuteten, oder von zerlumpten Weibern, die Kinder auf dem Arm trugen, deren schorfige Gesichter von Fliegen bedeckt waren. Sie traten aus dem Schatten der Toreinfahrt, aus dem Winkel eines Kaufladens, tauchten über den Uferböschungen auf und stießen jammernde Rufe aus, die alsbald einen drohenden Ton annahmen.
Schließlich fühlte sich Angélique angeekelt, und da sie auch keine Münzen mehr hatte, wies sie Kouassi-Ba an, das Bettelvolk zu verjagen. Sofort fletschte der Schwarze seine Kannibalenzähne und drohte einem an Krücken humpelnden Manne, der eben auf sie zukam, worauf dieser sich mit erstaunlicher Behendigkeit aus dem Staube machte.
»Das hat man davon, wenn man wie ein armer Schlucker zu Fuß geht«, bemerkte die große Margot in beleidigtem Ton.
Der kleine Trupp durchschritt die endlose Galerie des Louvre, die das Königsschloß mit der Tuilerien-Residenz verbindet.
Eben erst vollendet und aus scharfkantigen Steinen von zartem Grau gefügt, das mit dem Pariser Himmel übereinstimmt, entfaltete die große, an der Wasserseite gelegene Galerie ihre abwechselnd dreieckigen und runden Giebel, ihre regelmäßige, schlichte, nur von griechischen Pilastern mit Akanthusblättern belebte Fassade.
Angélique, die für so strenge Reize nicht recht empfänglich war, fand vor allem, daß dieses lange Gemäuer kein Ende nahm. Es kam ihr düster vor. Es hieß, die lange Galerie sei von Karl IX. erbaut worden, dem verbrecherischen König, der darauf bedacht gewesen war, im Falle eines Aufruhrs aus Paris fliehen zu können, ohne seinen Palast verlassen zu müssen. Tatsächlich konnte er über die große Galerie vom Louvre in den Stall der Tuilerien gelangen, sich dort aufs Pferd schwingen und durch die Pforte Saint-Honoré sofort das freie Feld erreichen.
Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich den Tour du Bois erblickte, den zerfallenden und von Efeu bedeckten Überrest der Stadtmauer des alten Paris. Kurz danach tauchte der Pavillon de Flore auf, der die Galerie abschloß und sie in rechtem Winkel mit dem Tuilerien-Schloß verband.
Die Luft wurde kühler. Ein leichter Wind erhob sich von der Seine und verwehte die übelriechenden Ausdünstungen der Stadt.
Endlich betrat man die Tuilerien, den mit tausend Ornamenten verzierten, mit einer mächtigen Kuppel und kleinen Hauben versehenen Palast, eine Sommerresidenz von weiblicher Grazie, denn sie war für eine Frau erbaut worden, für Katharina von Mediä, die prunkliebende Italienerin.
Hier hieß man sie warten. Die Grande Mademoiselle war zum Luxembourg gefahren, um ihren Einzug vorzubereiten, denn Monsieur, der Bruder des Königs, war entschlossen, sie aus den Tuilerien zu vertreiben, in denen sie doch schon seit Jahren wohnte. Er hatte sich mit seinem gesamten Gefolge in einem Flügel des Palastes niedergelassen. Mademoiselle hatte ihn freimütig einen infamen Intriganten genannt, worauf es zu einem großen Gezeter gekommen war. Schließlich gab Mademoiselle wie immer nach. Sie war eben wirklich zu gutmütig.
Monsieur de Préfontaines, ihr Kammerherr, der Angélique all dies anvertraute, schlug die Augen zum Himmel auf und bat die junge Frau, in einem kleinen Salon Platz zu nehmen, dessen Fenster nach den Tuileriengärten gingen; dann fuhr er mit seinen Klagen fort. Ach, das war ja noch nicht alles! Mademoiselle wünschte sich durch Augenschein von der Vermögenslage ihres verstorbenen Vaters zu überzeugen. Vor drei Tagen war man zurückgekehrt, und seitdem lief sie mit einem Schwarm von Advokaten und Aktuaren herum und vertiefte sich in alte Aktenstücke, als habe sie den Ehrgeiz, Kanzleiangestellte eines Anwalts zu werden.
Und auch damit noch nicht genug, Gott sei’s geklagt! Denn da wartete ein Abgesandter des Königs von Portugal, der den Auftrag hatte, über die Heirat seines Monarchen mit der reichen Erbin zu verhandeln.
»Aber das ist doch großartig«, sagte Angélique. »Mademoiselle ist bezaubernd, und ich bin überzeugt, daß sie schon viele schmeichelhafte Anträge europäischer Fürstlichkeiten bekommen hat.«
»O ja, das hat sie allerdings«, stimmte der gute Monsieur de Préfontaines zu, »bis zu einem Prinzen in der Wiege, der ihr erst vor sechs Monaten angetragen wurde. Aber Mademoiselle ist schwierig. Ich weiß tatsächlich nicht, ob sie sich überhaupt einmal entscheiden wird. Sie fühlt sich in Paris so wohl, daß sie nie den Mut aufbringen wird, an einem langweiligen kleinen Hof in Deutschland oder Italien zu leben. Was Seine Majestät Alphons IV. von Portugal betrifft, so hat sie mich gebeten, den Jesuiten, den er mit der Überbringung seiner Botschaft beauftragt hat, noch hinsichtlich einiger Einzelheiten auszuhorchen. Ja, nun muß ich mich zurückziehen, Madame. Vergebt mir.«
Allein geblieben, setzte sich Angélique ans Fenster und betrachtete den wunderbaren Garten. Jenseits der mosaikartigen Blumenbeete sah man die weißen Flocken einer großen Mandelbaum-Anpflanzung schimmern und etwas weiter entfernt die grüne Masse des Parks.
Angélique genoß die ländliche Luft und schaute den sich drehenden kleinen Windmühlen auf den fernen Anhöhen von Chaillot, Passy und Roule zu. Gegen Mittag entstand endlich Bewegung im Schloß, und Mademoiselle de Montpensier erschien, schwitzend und sich fächelnd.
»Meine kleine Freundin«, sagte sie zu Angélique, »Ihr kommt immer im richtigen Augenblick. Wenn ich von lauter albernen Ohrfeigengesichtern umgeben bin, hat Euer reizendes Gesichtchen mit den klugen und klaren Augen etwas ... ja etwas geradezu Erfrischendes für mich. Wird man uns nun endlich Limonade und Eis bringen oder nicht?«
Sie ließ sich in einen Sessel sinken und kam allmählich zu Atem.
»Daß Ihr’s nur wißt: Ich hätte heute morgen den kleinen Monsieur am liebsten erdrosselt, und das wäre mir nicht schwergefallen. Er verjagt mich aus diesem Palast, in dem ich seit meiner Kindheit gelebt, ja, ich möchte sogar sagen: geherrscht habe. Von hier aus habe ich meine Diener und meine Wachen auf die Leute Mazarins gehetzt. Der Kardinal wollte sich dem Volkszorn durch die Flucht entziehen, aber unversehens konnte er nicht mehr aus Paris heraus. Um ein Haar hätte man ihn ermordet und seine Leiche in den Fluß geworfen.«
»Seine Eminenz scheint es Euch nicht nachzutragen.«
»Oh, er ist äußerst liebenswürdig. Was wollt Ihr? Die Fronde ist vorbei. Aber es war höchste Zeit. Wenn ich durch Paris galoppierte, jubelte mir das Volk zu und ließ die Ketten fallen, mit denen es die Straßen verbarrikadiert hatte. Jetzt langweile ich mich. Ich müsse heiraten, sagt man. Was haltet Ihr von diesem Alphonso von Portugal?
»Ich gestehe Eurer Hoheit, daß ich noch nie etwas von ihm gehört habe.«
»Préfontaines hat mir da gerade einiges mitgeteilt, was mich kaum ermuntert. Er scheint ein kleiner Dickwanst mit unangenehmem Körpergeruch zu sein, der dauernd Geschwüre zwischen seinen Speckfalten hat .«
»Ich verstehe, daß Eure Hoheit sich nicht für ihn begeistern kann .«
Angélique fragte sich, ob sie angesichts dieses Wortschwalls das Thema würde anschlagen können, das ihr am Herzen lag. Sie mußte an die Skepsis des jungen Advokaten hinsichtlich der Hochherzigkeit der Großen denken. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte:
»Eure Hoheit möge mir verzeihen, aber ich weiß, daß Ihr über alle Vorgänge bei Hof auf dem laufenden seid. Ist es Euch nicht zu Ohren gekommen, daß mein Gatte in der Bastille ist?«
Die Prinzessin schien ehrlich überrascht und bewegt.
»In der Bastille? Ja, was für ein Verbrechen hat er denn begangen?«
»Eben das weiß ich nicht, und ich setze große Hoffnungen auf Euch, Hoheit, daß Ihr mir bei der Lösung dieses Rätsels behilflich seid.«
Sie berichtete von den Ereignissen in Saint-Jean-de-Luz und dem mysteriösen Verschwinden des Grafen Peyrac. Die am Palais in Saint-Paul angebrachten Siegel bewiesen deutlich, daß seine Entführung auf eine Verfügung der Justizbehörden zurückgehe, aber das Geheimnis werde streng gehütet.
»Laßt uns ein wenig überlegen«, sagte Mademoiselle de Montpensier. »Euer Gatte hatte Feinde - wie jedermann. Wer könnte wohl nach Eurer Ansicht darauf aus sein, ihm zu schaden?«
»Mein Gatte stand sich mit dem Erzbischof von Toulouse nicht sonderlich gut. Aber ich glaube nicht, daß Seine Eminenz etwas gegen ihn vorbringen konnte, was das Eingreifen des Königs gerechtfertigt hätte.«
»Vielleicht hat Graf Peyrac jemanden vor den Kopf gestoßen, der einen starken Einfluß auf Seine Majestät ausübt? Ich erinnere mich da an einen gewissen Vorfall, meine Liebe. Monsieur de Peyrac hat einmal meinem Vater gegenüber eine ungewöhnliche Halsstarrigkeit an den Tag gelegt, als dieser sich in Toulouse als Statthalter des Languedoc vorstellte. Oh, mein Vater hat es ihm nicht nachgetragen, und außerdem ist er tot. Mein Vater war nicht neidisch, wenn er auch seine Zeit mit dem Aushecken von Komplotten verbrachte. Ich habe diese Leidenschaft geerbt, das gebe ich zu, und deshalb bin ich beim König nicht eben gut angeschrieben. Er ist ein so argwöhnischer junger Mann . Ach, da fällt mir ein, könnte Monsieur de Peyrac am Ende nicht den König selbst vor den Kopf gestoßen haben?«
»Mein Gatte ist kein Mensch, der sich in Schmeicheleien ergeht. Gleichwohl empfand er Achtung vor dem König. Hat er sich nicht bemüht, ihm gefällig zu sein, als er ihn in sein Haus in Toulouse einlud?«
»Oh, welch ein herrliches Fest«, erinnerte sich Mademoiselle begeistert und schlug die Hände zusammen. »Die kleinen Vögelchen, die von einem mächtigen Felsen aus Zuckerwerk aufflogen .! Aber ich habe mir auch sagen lassen, daß der König über das alles ein wenig gereizt war. Genau wie damals bei diesem Monsieur Fouquet in Vaux-le-Vicomte. All diese großen Herren sind sich nicht bewußt, daß der König, mag er auch lächeln, sich insgeheim darüber ärgert, wenn seine eigenen Untertanen ihn mit ihrem Prunk zu überstrahlen versuchen.«
»Ich kann nicht glauben, daß Seine Majestät von so kleinlicher Gesinnung ist.«
»Der König wirkt gutmütig und ehrenhaft, ich gebe es zu. Aber wie dem auch sei, er erinnert sich immer der Zeit, als die Fürsten ihn noch bekriegten. Ich habe es auch getan, ich weiß eigentlich nicht mehr, weshalb. Kurzum, Seine Majestät mißtraut all denen, die den Kopf ein wenig zu hoch erheben.«
»Mein Gatte hat niemals versucht, gegen den König zu intrigieren. Er ist stets ein ergebener Untertan gewesen und hat allein ein Viertel der gesamten Steuern des Languedoc gezahlt.«
Mademoiselle de Montpensier versetzte ihr einen freundschaftlichen kleinen Schlag mit dem Fächer.
»Wie feurig Ihr ihn verteidigt! Ich gestehe, daß sein Anblick mich ein wenig erschreckte, aber als ich mich in Saint-Jean-de-Luz mit ihm unterhielt, begann ich zu begreifen, warum er solchen Erfolg bei den Frauen hat. Weint nicht, Liebe, man wird Euch Euren verführerischen großen Hinkefuß zurückgeben, und müßte ich den Kardinal selbst ins Gebet nehmen und mich dabei wie üblich in die Nesseln setzen!«
Ein wenig aufgemuntert, trennte sich Angélique von der Grande Mademoiselle. Man war übereingekommen, daß diese sie benachrichtigen würde, sobald sie verläßliche Auskünfte bekommen hätte. Um sich ihrer Freundin gefällig zu erweisen, willigte die Prinzessin ein, sich um den kleinen Giovanni zu kümmern und ihn in ihre Kapelle aufzunehmen, bis sich die Gelegenheit ergeben würde, ihn Baptiste Lully, dem Hofkomponisten des Königs, vorzustellen.