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Angélique beugte sich gleichfalls hinaus und fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Was sie da unter dem weiten Himmel erblickte, war nicht die endlose Avenue, in der sich die Menge aufstellte, war nicht die Porte Saint-Antoine mit ihrem Triumphbogen aus weißem Stein, sondern etwas weiter zur Rechten die wuchtige Masse einer Festung, die sich wie ein düsterer Felsen aufreckte.
Halblaut fragte sie ihre Schwester, was für ein Kastell das sei.
»Die Bastille«, flüsterte Hortense hinter ihrem Fächer zurück.
Angélique konnte den Blick nicht von dem düsteren Bild lösen. Acht massive, von Wachttürmchen gekrönte Bastionen, blinde Fassaden, Mauern, Fallgatter, Zugbrücken, Gräben: eine Insel des Jammers, wie verloren im Meer einer gleichgültigen Stadt, eine abgeschlossene Welt, in welche nicht einmal an diesem Tage die Jubelrufe drangen: die Bastille!
Die Geduld der kleinen Gesellschaft wurde auf eine harte Probe gestellt. Endlich ließen die Rufe der Menge erkennen, daß der Festzug sich in Bewegung gesetzt hatte. Aus dem Dunkel der Porte Saint-Antoine tauchten die ersten Gruppen auf, aber erst gegen zwei Uhr nachmittags war es so weit, daß der König und die Königin nahten.
Weit aus dem Fenster gelehnt, ließen sich die jungen Frauen nicht die geringste Kleinigkeit des Schauspiels entgehen. Sie drängten sich eng zusammen, um Platz für alle zu schaffen. Angélique hatte ihre Arme um die Schultern Madame Scarrons und Athénaïs de Rochechouarts gelegt. Hortense, der junge Rochechouart und seine Schwester hatten an einem andern Dachfenster Platz gefunden.
Es war der Zug Seiner Eminenz Monseigneur Mazarins, der den lange erwarteten Höhepunkt der Ereignisse ankündigte.
Nie hatte man einen Kardinal-Minister solche Pracht entfalten sehen. Zweiundsiebzig Maultiere eröffneten einzeln hintereinandergehend das Geleit, über der Stirn im Rhythmus der Schritte schwankende weiße Federn, den Rücken mit goldbesticktem Samt bedeckt. Die Mundstücke, Beschläge und Maulkörbe bestanden aus massivem Silber.
In Seide gekleidete Pagen, Maultiertreiber und Pferdeknechte begleiteten die störrischen Tiere, denen zwölf lebhafte spanische Pferde folgten, deren vergoldete Steigbügel in der Sonne funkelten.
Rossewiehern, Hufgeklapper, Glöckchengeklingel, das Rauschen der prächtigen Gewänder vermischten sich mit dem Geräusch der heranrollenden elf Kutschen, die jeweils von sechs Pferden gezogen wurden.
Die mit wundervollen Goldschmiedearbeiten verzierte Karosse des Kardinals hielt vor dem Palais Beauvais, und man sah die Hausherrin sich in tiefem Knicks vor der roten Robe verneigen. Der Kardinal begab sich auf den Balkon zur Königin-Mutter und deren Schwägerin, der Exkönigin von England, Gattin des enthaupteten Königs Karls L, und nahm an ihrer Seite Platz. Indessen defilierte die Eskorte Seiner Eminenz vor den staunenden Augen der Menge: zuerst vierzig Diener zu Fuß, darauf die Edelleute und Offiziere; hundert Gardisten in schönen roten Kasacken mit goldenen und silbernen Aufschlägen beschlossen die herausfordernde Karawane.
Doch alle Welt applaudierte aus vollem Herzen. Mazarin hatte den Pyrenäenfrieden unterzeichnet. Man liebte ihn nicht mehr als zur Zeit der »Mazarinaden«, aber im Grunde war ihm jeder dankbar, daß er das französische Volk vor der Dummheit bewahrt hatte, seinen König zu verbannen, diesen König, den man jetzt in einem Paroxysmus der Bewunderung und Verehrung erwartete.
Musketiere in blauer Uniform, die leichte Reiterei, der Generalprofoß und seine Stellvertreter kündigten endlich den königlichen Trupp an. In ihm erkannte Angélique manche Gesichter. Sie zeigte ihren Gefährtinnen den Marquis d’Humières und den Herzog von Lauzun an der Spitze ihrer hundert Edelleute. Lauzun, schalkhaft wie immer, warf den Damen ungeniert Küsse zu. Die Menge antwortete mit gerührtem Gelächter.
Wie beliebt sie waren, diese so tapferen und glänzenden jungen Herren! Um ihrer kriegerischen und galanten Heldentaten willen sah man über ihre Verschwendungssucht, ihren Dünkel und ihre schamlosen Ausschweifungen in den Schenken hinweg.
Plötzlich wich Angélique ein wenig zurück und preßte die Lippen aufeinander: Unten zog der Marquis de Vardes vor seinen hundert Schweizern dahin, das von der blonden Perücke umrahmte harte Gesicht herausfordernd erhoben.
Dann schwoll der Sturm des Jubels zu ohrenbetäubender Gewalt: Der König nahte, er war da, schön und gewaltig wie das Tagesgestirn!
Wie groß er war, der König von Frankreich! Ein richtiger König endlich! Weder verächtlich wie Karl IX., wie Heinrich III., noch zu schlicht wie Heinrich IV., noch zu streng wie Ludwig XIII.
Ein leutseliger und majestätischer Monarch, dessen Joch man mit Vergnügen tragen würde, um dieses Pompes willen, den das glückselige kleine Volk mit seinem Schweiß bezahlt hatte, um seine Augen zu erfreuen. Ludwig, der von Gott Gegebene, das vierundzwanzig Jahre lang unter den Gebeten und Tränen des Volkes erwartete Kind, das Wunderkind, das nicht enttäuschte.
Auf einem braunroten Pferd ritt Ludwig XIV. langsam daher, in einigem Abstand eskortiert von seinem ersten Kammerherrn, seinem Oberstallmeister, seinem Schloßhauptmann.
Er hatte den Baldachin zurückgewiesen, den die Stadt für ihn hatte sticken lassen. Er wollte, daß das Volk ihn sah, in seinem silberdurchwirkten Gewand, das die vorteilhafte Linie seines kräftigen Oberkörpers betonte. Ein Hut, dessen Reiherfedern durch Brillantennadeln befestigt waren, schützte sein lächelndes Gesicht vor der Sonne.
Er grüßte winkend.
Vor dem Palais Beauvais angelangt, neigte er sich zu einer graziösen Verbeugung, die jeder der Adressaten auf seine Weise auslegte. Anna von Österreich erblickte in ihr die Zärtlichkeit des Sohnes, der ihr größtes Glück und ihre größte Sorge gewesen war; die bekümmerte Witwe des Königs von England den Ausdruck des Mitgefühls und der Bewunderung angesichts versunkener Größe und würdig getragenen Unglücks; der Kardinal die Dankbarkeit eines Schülers, dem er die Krone bewahrt hatte. Bewegt, gierig und mit einer Träne im einzigen Auge, gedachte Catherine de Beauvais des schönen, glühenden Jünglings, den sie einmal in ihren kundigen Armen gehalten hatte.
Der Monarch kam nicht auf den Gedanken, die kastanienbraunen Augen bis zu den Fenstern des Dachstocks zu erheben. Dort hätten sie drei auf ihn herabgebeugte Köpfe erblickt, einen blonden, einen braunen und einen goldkäferfarbenen, deren dank dem seltsamsten aller Zufälle vereinigte Besitzerinnen in seinem Leben eine Rolle spielen sollten: Athénaïs de Rochechouart, Angélique de Peyrac, Françoise Scarron, geborene d’Aubigné.
Unter ihrer Hand spürte Angélique die golden glänzende Haut Françoises erschauern.
»Wie schön er ist!« flüsterte die Witwe.
Ob der Anblick des göttergleichen Mannes, der sich unter brausenden Jubelrufen entfernte, in ihr den Gedanken an den lüsternen Krüppel auslöste, dessen Dienerin und Spielzeug sie acht lange Jahre gewesen war?
Athénaïs murmelte mit vor Begeisterung glänzenden Augen:
»Gewiß ist er schön in seinem silbernen Rock. Aber ich möchte annehmen, daß er auch ohne Rock nicht übel aussieht, und erst recht ohne Hemd. Die Königin kann froh sein, einen solchen Mann im Bett zu haben.«
Angélique schwieg.
»Das ist ER«, dachte sie, »er, der unser Schicksal in Händen hält. Gott sei uns gnädig, er ist zu groß, er ist zu erhaben!«
Jubelrufe der Menge lenkten ihren Blick wieder nach unten.
»Monsieur le Prince! Vive Monsieur le Prince!«
Hager, ausgemergelt, verächtlich dreinblickend, das Gesicht mit den feurigen Augen und der Adlernase hochmütig geradeaus gerichtet, zog der Fürst Condé wieder in Paris ein. Er kam aus Flandern, wohin ihn seine Erhebung gegen die königliche Autorität geführt hatte. Er empfand weder Skrupel noch Reue, und das Volk von Paris seinerseits trug ihm nichts nach. Man vergaß den Verräter, man jubelte dem Sieger von Rocroi und Lens zu.
Neben ihm ritt Monsieur, der Bruder des Königs, in eine Wolke von Spitzen gehüllt und mehr denn je einem verkleideten Mädchen gleichend.
Schließlich erschien die junge Königin in einem von sechs Pferden gezogenen Wagen, deren Schabracken mit goldenen Lilien und Edelsteinen besetzt waren.
Die scharfzüngigen Neuigkeitskrämer des Pont-Neuf hatten das Gerücht verbreitet, die neue Königin sei linkisch, häßlich und dumm. Um so erfreuter war man, nun feststellen zu können, daß sie, wenn auch nicht ausgesprochen hübsch, so doch mit ihrem Perlmutterteint, ihren großen blauen Augen, ihrem feinen, blaßgoldnen Haar jedenfalls recht reizvoll war. Man bewunderte ihre Haltung, ihre wahrhaft königliche Würde, die Ausdauer, mit der diese zarte junge Frau die Last ihres mit Diamanten, Perlen und Rubinen besetzten Goldbrokatkleides trug. Nachdem sie vorübergezogen war, wurden die Absperrungen aufgehoben. Man hatte bis zur Erschöpfung bestaunt und bewundert.
Im Palais Beauvais aber ließen sich die fürstlichen Gäste an einer Tafel nieder, auf der zur Stillung von Hunger und Durst alles aufs prächtigste vorbereitet war.
Die Hausherrin stand am Fuße der Treppe und schien nach jemandem zu spähen. Als die kleine Gruppe der Poitou-Leute, der Angélique angehörte, herunterkam, rief sie ihnen mit ihrer rauhen Stimme zu:
»Nun, habt ihr alles bequem beaugenscheinigen können?«
Sie bejahten leidenschaftlich mit vor Erregung geröteten Wangen und bedankten sich.
»Gut so. Geht dort hinein und eßt ein Stück Kuchen.«
Sie faltete ihren großen Fächer und schlug damit Angélique leicht auf die Schulter«
»Ihr, meine Schöne, kommt einmal mit mir.«
Verwundert folgte die junge Frau Madame de Beauvais durch die von Gästen erfüllten Säle. Schließlich langten sie in einem kleinen, verlassenen Boudoir an.
»Hu!« machte die alte Dame, während sie sich fächelte. »Es ist nicht einfach, sich abzusondern.«
Aufmerksam musterte sie Angélique. Das über die leere Augenhöhle halb herabhängende Lid gab ihrer Physiognomie einen tückischen Ausdruck, den die Spuren roter Schminke, die sich in den Runzeln verkrustet hatte, und das Lächeln des zahnlosen Mundes noch verstärkten.
»Ich glaube, es wird gehen«, äußerte sie als Ergebnis ihrer Prüfung. »Meine Schöne, was würdet Ihr zu einem großen Schloß in der Umgebung von Paris sagen, mit einem Haushofmeister, Dienern, Lakaien, Zofen, sechs Kutschen, Pferden und hunderttausend Livres Rente?«
»Mir bietet man das alles an?« fragte Angélique lachend.
»Euch.«