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»Die Fronde liegt weit zurück«, murmelte der Advokat nachdenklich, »aber es bedarf nur eines Funkens, um die noch rauchende Strohfackel wieder aufflammen zu lassen. Zweifellos gibt es viele Leute, die davor bangen, daß ein solches Zeugnis ihres Verrats ans Tageslicht kommt.«
Mit einer einzigen Bewegung schob er die auf dem Tisch aufgehäuften Schriftstücke und Gänsekiele beiseite.
»Fassen wir kurz zusammen. Da haben wir also Euch, Mademoiselle Angélique de Sancé, ein kleines Mädchen, das man jedoch verdächtigt, im Besitz eines furchtbaren Geheimnisses zu sein. Der Fürst beauftragt seinen Diener Clément, Euch zu bespitzeln. Lange Jahre hindurch hat dieser ein Auge auf Euch. Endlich wird ihm zur Gewißheit, was bis dahin nur ein Verdacht war: Ihr seid es, die das Kästchen hatte verschwinden lassen, Ihr allein samt Eurem Gatten wißt um das Geheimnis seiner Aufbewahrung. Diesmal sucht unser Diener Fouquet auf und läßt sich seine Auskunft mit Gold bezahlen. Von diesem Augenblick an ist Euer Untergang beschlossene Sache. Alle diejenigen, die auf Kosten des Oberintendanten leben, alle diejenigen, die fürchten, ihre Pension und die Gunst des Hofs zu verlieren, verbünden sich insgeheim gegen den toulousanischen Edelmann, der eines schönen Tages vor dem König erscheinen und sagen könnte: >Hört an, was ich weiß!< Wären wir in Italien, hätte man zu Dolch oder Gift gegriffen. Aber man weiß, daß Graf Peyrac gegen Gift gefeit ist, und im übrigen gibt man in Frankreich den Dingen gern einen legalen Anstrich. So kommt also die von Monsieur de Fontenac eingefädelte Kabale höchst gelegen. Man wird den kompromittierenden Mann als Hexenmeister verhaften. Der König ist für die Sache gewonnen. Man schürt seine Eifersucht auf den allzu reichen Edelmann. Und siehe da, die Tore der Bastille schließen sich hinter dem Grafen Peyrac! Alle Welt kann aufatmen.«
»Nein«, sagte Angélique heftig. »Ich werde sie nicht aufatmen lassen. Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis uns Gerechtigkeit widerfährt. Ich gehe selbst zum König und sage ihm, warum wir so viele Feinde haben.«
»Pst!« machte Desgray. »Laßt Euch nicht fortreißen. Ihr tragt eine Pulverladung in Euren Händen, aber gebt acht, daß Ihr nicht als erste von ihr in Stücke gerissen werdet. Wer garantiert Euch, daß der König oder Mazarin über diese Geschichte nicht bereits im Bilde ist?«
»Aber sie sollten doch die Opfer des damaligen Komplotts sein: Man wollte den Kardinal und, wenn möglich, auch den König und seinen Bruder ermorden.«
»Ich verstehe, meine Schöne, ich verstehe sehr wohl«, sagte der Advokat. »Ich erkenne die Logik Eurer Argumentation durchaus an, Madame. Aber seht, die Intrigen der Großen gleichen einem Rattenkönig. Man riskiert das Leben, wenn man ihre Gefühle entwirren will. Es ist sehr wohl möglich, daß Monsieur de Mazarin durch einen seiner Spitzel in Kenntnis gesetzt worden ist. Aber was kümmert Mazarin eine Vergangenheit, aus der er als unbestrittener Sieger hervorging? Der Kardinal war im Begriff, mit den Spaniern die Rückkehr des Fürsten Condé auszuhandeln. War das der Moment, dem düsteren Bild, das man eben mit dem Schwamm aufhellen wollte, ein weiteres Verbrechen hinzuzufügen? Er stellte sich taub. Man will diesen Edelmann aus Toulouse verhaften - nun gut, soll man ihn verhaften. Ein vorzüglicher Gedanke. Der König tut immer, was der Kardinal sagt, und im übrigen hat der Reichtum Eures Gatten seinen Neid erregt. Es wird ein Kinderspiel sein, ihn den Verhaftbefehl für die Bastille unterschreiben zu lassen.« - »Aber der Bruder des Königs?« - »Der Bruder des Königs? Nun, auch den kümmert es kaum mehr, daß Fouquet ihn hatte umbringen lassen wollen, als er noch klein war. Nur das Heute interessiert ihn, und heute ist es Fouquet, der ihn erhält. Fouquet überschüttet ihn mit Gold, verschafft ihm Günstlinge. Der kleine Monsieur ist weder von seiner Mutter noch von seinem Bruder verwöhnt worden: Er zittert davor, daß man seinen Beschützer kompromittieren könnte. - Kurz und gut, diese Geschichte wäre bestens verlaufen, wenn Ihr nicht auf der Bildfläche erschienen wäret. Man hoffte, Ihr würdet, des Beistands Eures Gatten beraubt, geräuschlos verschwinden ... irgendwohin. Man will es gar nicht wissen. Das Schicksal der Ehefrauen bleibt immer unbekannt, wenn ein Edelmann in Ungnade fällt. Sie sind so taktvoll, sich in Rauch aufzulösen. Vielleicht gehen sie ins Kloster. Vielleicht wechseln sie den Namen. Nur Ihr paßt Euch dem herrschenden Gesetz nicht an. Ihr verlangt Gerechtigkeit! Das ist höchst vermessen - hab’ ich nicht recht? Zweimal versucht man, Euch umzubringen. Als es mißlingt, spielt Fouquet den Versucher .«
Angélique stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Es ist grauenhaft«, murmelte sie. »Wohin man auch schaut, man sieht nur Feinde, haßerfüllte, neidische, verächtliche, drohende Blicke .«
»Seid vernünftig, Madame, noch ist es Zeit«, sagte Desgray. »Fouquet bietet Euch die Möglichkeit, Euch auf anständige Weise aus der Affäre zu ziehen. Zwar gibt man Euch nicht das Vermögen Eures Gatten zurück, aber man verhilft Euch zu einem sorgenlosen Leben. Was wollt Ihr mehr?«
»Ich will meinen Mann!« schrie Angélique und sprang wütend auf.
Der Advokat musterte sie mit einem ironischen Blick.
»Ihr seid wirklich eine wunderliche Frau.«
»Und Ihr seid ein elender Feigling. In Wahrheit zittert Ihr um Euer Leben wie alle andern.«
»Freilich, in den Augen jener hohen Persönlichkeiten ist das Leben eines kümmerlichen Kanzlisten keinen Deut wert.«
»Schön, dann behütet es doch, Euer armseliges Leben! Behütet es für die Krämer, die sich von ihren Lehrlingen bestehlen lassen, und für die neidischen Erben. Ich brauche Euch nicht.«
Der Advokat erhob sich wortlos und entfaltete umständlich ein Blatt Papier.
»Hier ist die Aufstellung meiner Auslagen. Ihr werdet daraus ersehen, daß ich nichts für mich selbst einbehalten habe.«
»Ob Ihr ehrlich seid oder ein Gauner, ist mir gleichgültig.«
»Einen Ratschlag noch.«
»Ich bedarf Eurer Ratschläge nicht mehr. Ich werde mich von meinem Schwager beraten lassen.«
»Euer Schwager hat keineswegs die Absicht, in dieser Angelegenheit Partei zu ergreifen. Er hat Euch aufgenommen und an mich verwiesen, weil er, wenn die Dinge günstig verlaufen, Ruhm zu ernten hofft, andernfalls seine Hände in Unschuld waschen wird und sich in jedem Fall hinter seiner Verpflichtung dem König gegenüber verschanzen kann. Und deshalb sage ich Euch abermals: Versucht, bis zum König vorzudringen.«
Er verneigte sich ehrerbietig, setzte seinen abgetragenen Hut auf und wandte sich in der Tür noch einmal um.
»Wenn Ihr mich braucht, könnt Ihr mich in den >Drei Mohren< rufen lassen, wo ich mich jeden Abend aufhalte.«
Als er gegangen war, verspürte Angélique plötzlich das Bedürfnis zu weinen. Nun fühlte sie sich völlig allein. Es war ihr, als laste ein Gewitterhimmel über ihr, ein bedrohliches Wolkengebilde, das sich aus allen Richtungen zusammengezogen hatte: der Ehrgeiz des Erzbischofs von Toulouse, die Angst Fouquets und Condés, die Charakterlosigkeit des Kardinals und in ihrer nächsten Umgebung die mißtrauische Wachsamkeit ihres Schwagers und ihrer Schwester, die bereit waren, sie beim ersten beunruhigenden Anzeichen aus dem Hause zu jagen .
Im Vestibül begegnete sie Hortense, die eine weiße Schürze um ihre magere Taille gebunden hatte. Das Haus duftete nach Himbeeren und Apfelsinen. Im September pflegten die guten Hausfrauen ihre Marmelade zu bereiten. Es war ein gewichtiges Unternehmen, das da zwischen großen Kupferkesseln, zerstoßenen Zuckerhüten und Barbes Tränen abrollte. Der Haushalt stand drei Tage lang auf dem Kopf.
Hortense trug einen der kostbaren Zuckerhüte in den Händen und stieß gegen Florimond, der, seine silberne Rassel schwingend, eben aus der Küche schoß. Das genügte, um das Gewitter losbrechen zu lassen.
»Man ist nicht nur eingeengt und kompromittiert«, kreischte sie, »nein, ich kann nicht einmal meinen Pflichten nachgehen, ohne daß man mich stößt und taub macht. Der Kopf zerspringt mir schier vor Migräne. Und während ich mich abschufte, empfängt Madame ihren Advokaten und treibt sich unter dem Vorwand, einen gräßlichen Gatten befreien zu wollen, nach dessen Vermögen sie giert, auf den Straßen herum.«
»Schrei nicht so«, sagte Angélique. »Ich helfe dir gerne beim Einmachen. Ich kenne sehr gute Rezepte aus dem Süden.«
Hortense, den Zuckerhut in der Hand, richtete sich auf, als umwoge sie das Faltengewand der antiken Tragödin.
»Niemals«, erklärte sie empört, »niemals werde ich zulassen, daß du die Nahrung berührst, die ich für meinen Gatten und meine Kinder zubereite. Ich vergesse nicht, daß du einen Gehilfen des Teufels zum Manne hast, einen Hexenmeister und Giftmischer. Es wäre durchaus möglich, daß seine Seele in dich gefahren ist. Gaston hat sich verändert, seitdem du hier bist.«
»Dein Mann? Ich schaue ihn ja überhaupt nicht an.«
»Aber er schaut dich an ... viel häufiger, als es sich geziemt. Du solltest dir bewußt sein, daß dein Aufenthalt hier sich ungebührlich in die Länge zieht. Du hattest von einer einzigen Nacht gesprochen .«
»Ich versichere dir, daß ich mir alle erdenkliche Mühe gebe, die Situation zu klären.«
»Du wirst dadurch nur auffallen, und man wird dich gleichfalls verhaften.«
»In meiner augenblicklichen Lage frage ich mich tatsächlich, ob ich im Gefängnis nicht besser aufgehoben wäre. Jedenfalls würde ich dort umsonst und ohne Scherereien wohnen.«
»Du weißt nicht, was du redest, meine Liebe«, sagte Hortense, höhnisch lachend. »Man muß zehn Sols pro Tag bezahlen, und zweifellos wird man sie von mir als deiner einzigen Anverwandten fordern.«
»Das ist nicht übermäßig viel. Weniger als das, was ich dir gebe. Ohne die Kleider und Schmuckstücke zu rechnen, die ich dir überlassen habe.«
»Mit zwei Kindern wird es dreißig Sols täglich ausmachen .«
Angélique stieß einen Seufzer des Überdrusses aus.
»Komm, Florimond«, sagte sie zu dem Kleinen. »Du siehst ja, daß du Tante Hortense im Wege bist. Ihre Marmeladendämpfe steigen ihr in den Kopf, und sie redet irre.«
Das Kind lief davon und schüttelte von neuem seine hübsche, schimmernde Klapper. Das brachte Hortense zur Weißglut.
»Allein schon diese Klapper«, schrie sie. »Nie haben meine Kinder dergleichen besessen. Du beklagst dich, kein Geld mehr zu haben, und kaufst ein so teures Spielzeug für deinen Sohn!«
»Er hat es sich so sehr gewünscht. Und außerdem ist es gar nicht teuer. Das Kind des Seifenhändlers an der Ecke hat ein ähnliches.«
»Es ist eine bekannte Tatsache, daß die einfachen Leute nicht sparsam zu leben verstehen. Sie verwöhnen ihre Kinder und erziehen sie nicht, wie es sich gehört. Denk daran, daß du in der Armut lebst, bevor du überflüssige Dinge kaufst, und daß ich durchaus nicht gesonnen bin, dich zu erhalten.«
»Das verlange ich auch gar nicht von dir«, erwiderte Angélique scharf. »Sobald Andijos zurück ist, werde ich in die Herberge ziehen.«
Hortense zuckte mit einem mitleidigen Lächeln die Schultern.
»Du bist wirklich noch dümmer, als ich dachte. Du kennst das Gesetz und die Taktik der Gerichtsbehörden nicht. Er wird dir nichts mitbringen, dein Marquis d’Andijos.«
Hortenses trübe Prophezeiung erwies sich als nur zu richtig. Als endlich der Marquis d’Andijos in Begleitung des getreuen Kouassi-Ba erschien, mußte sie hören, daß der gesamte Besitz des Grafen in Toulouse versiegelt worden war. Es war dem Marquis lediglich geglückt, tausend Livres mitzubringen, die er leihweise und unter dem Siegel der Verschwiegenheit von zwei begüterten Pachtbauern bekommen hatte.