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In einer Art Delirium, in dem ihr die Zunge versagte, wandte sich Angélique, noch immer auf dem Teppich kniend, der Tür zu, durch welche die Höflinge so rasch verschwunden waren. Sie entdeckte Bernard d’Andijos und Péguillin de Lauzun, die leichenblaß bei ihr verhielten und sich nicht entschließen konnten, den Raum zu verlassen.
»Nun, Ihr Herren«, sagte Monseigneur d’Orléans mit keifender Stimme, »meine Anweisungen erstrek-ken sich auch auf Euch. Muß ich dem König melden, daß Ihr dem Geschwätz einer Irren mehr Glauben schenkt als den Worten seines eigenen Bruders?«
Die beiden Männer senkten den Kopf und zogen sich ebenfalls zögernd zurück. Ihre beschämende Treulosigkeit weckte Angéliques Kampflust von neuem.
»Feiglinge! Feiglinge! O ihr Feiglinge!« rief sie, raffte sich unversehens auf und suchte hinter einem Sessel Schutz.
Mit knapper Not entging sie dem Degenhieb des Chevaliers de Lorraine. Ein zweiter Hieb verletzte ihre Schulter. Aus der Wunde quoll Blut.
»Andijos! Péguillin! Zu mir die Gaskogner!« schrie sie, völlig außer sich, auf. »Rettet mich vor den Männern des Nordens!«
Die Tür des zweiten Salons wurde aufgerissen. Lauzun und der Marquis d’Andijos stürzten mit gezogenen Degen herein. Sie hatten hinter dem angelehnten Türflügel die Szene beobachtet und konnten nun an den grausigen Absichten Monsieurs und seines Günstlings nicht mehr zweifeln.
Mit einem Degenhieb schlug Andijos Philippe d’Orléans die Waffe aus der Faust und verletzte ihn am Handgelenk. Lauzun kreuzte die Klinge mit dem Chevalier de Lorraine.
Andijos packte Angélique bei der Hand.
»Laßt uns fliehen! Rasch!«
Er zog sie in den Gang, stieß gegen Clément Tonnel, dem nicht genügend Zeit blieb, die Pistole zu zücken, die er unter seinem Mantel verborgen hielt. Andijos bohrte ihm den Degen in die Kehle, und blutüberströmt brach der Mann zusammen. Dann stürzten der Marquis und die junge Frau in wilder Flucht davon.
Hinter ihnen zeterte die Fistelstimme des kleinen Monsieurs den Schweizern zu:
»Wachen! Wachen! Haltet sie fest!«
Und schon folgten ihnen schwere, eilige Schritte und das Klirren der Hellebarden.
»Die Große Galerie ...«, keuchte Andijos, ». bis zu den Tuilerien ... Die Ställe, die Pferde. Dann das freie Feld ... Gerettet .«
Trotz seiner Beleibtheit lief der Gaskogner mit einer Ausdauer, die Angélique ihm nie zugetraut hätte.
Aber sie konnte nicht mehr. Ihr Knöchel verursachte ihr wilde Schmerzen, und ihre Schulter brannte.
»Es ist aus mit mir«, keuchte sie. »Ich kann nicht mehr!«
Vor ihnen öffnete sich eine der großen Treppen, die zu den Höfen führten.
»Hier hinunter«, flüsterte Andijos. »Und verbergt Euch, so gut Ihr könnt. Ich werde sie ablenken.«
Fast fliegend glitt Angélique die Steinstufen hinunter. Der rötliche Schein eines Kohlenbeckens ließ sie innehalten. Plötzlich brach sie zusammen.
Harlekin, Colombine, der Hanswurst fingen sie auf, zogen sie in ihren Schlupfwinkel und verbargen sie vor dem Blick der Übelwollenden. Die grünen und roten Rauten ihrer Kostüme flimmerten lange vor ihren Augen, bis sie in eine tiefe Ohnmacht versank.
Angélique hatte das Gefühl, in einem grünen und milden Licht zu schwimmen, als sie die Augen aufschlug. Sie war in Monteloup, unter dem schattigen Laub der Erlen am Bach, durch das nur grünlich verfärbte Sonnenstrahlen drangen.
Sie hörte, wie ihr Bruder zu ihr sagte:
»Nie werde ich das Grün der Pflanzen herausbekommen. Wenn man Galmei mit persischem Kobaltsalz behandelt, erhält man allenfalls den ungefähren Ton, aber es ist ein dunkles, undurchsichtiges Grün, das nichts von der leuchtenden Smaragdfarbe der Blätter über dem Fluß hat .«
Gontran hatte eine derbe, heisere Stimme, die neu war und dennoch irgendwie vertraut, einen verdrossenen Tonfall, den er nur annahm, wenn er über seine Farben und Bilder redete. Wie oft hatte er, wenn er Angéliques Augen mit einem gewissen Groll betrachtete, gemurmelt: »Nie werde ich das Grün der Pflanzen herausbekommen.«
Ein brennender Stich in der Magengrube ließ Angélique erschauern. Sie erinnerte sich, daß etwas Schreckliches geschehen war.
»Mein Gott«, dachte sie, »mein Kindchen ist tot!«
Sicher war es tot! So viele Schrecken hatte es nicht überleben können. Es war bei dem Sprung aus dem Fenster gestorben. Oder bei der atemlosen Flucht durch die Gänge des Louvre . Noch steckte ihr das Grauen dieses irren Laufs in den Gliedern, und ihr bis zum letzten beanspruchtes Herz schmerzte dumpf.
Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, eine Hand auf ihren Leib zu legen. Eine sanfte Regung beantwortete ihren Druck.
»Oh, es ist noch da, es lebt! Was für ein tapferer kleiner Kamerad!« dachte sie stolz und zärtlich.
Sie spürte die Rundung des Köpfchens unter ihren Fingern, und diese Wahrnehmung belebte Angéliques erstarrten und zerschlagenen Körper. Sie gewann ihre ganze Klarheit zurück und stellte fest, daß sie in Wirklichkeit in einem großen Bett mit gewundenen Säulen lag, dessen grünliche Seidenvorhänge jenes seltsame Licht durchschimmern ließen, das sie an die Ufer des Bachs von Monteloup erinnert hatte.
Sie war nicht in der Rue de l’Enfer bei Hortense. Wo war sie? Ihre Erinnerungen blieben undeutlich; sie hatte lediglich das Gefühl, etwas wie eine riesige und finstere Masse hinter sich her zu schleppen, irgendein wüstes Drama, das sich aus schwarzem Gift, blitzenden Säbeln, Angst, klebrigem Schmutz zusammensetzte.
Und wieder erklang Gontrans Stimme:
»Nie, nie wird man dieses Grün des Wassers unter den Blättern herausbekommen.«
Diesmal hätte Angélique beinahe einen Schrei ausgestoßen. War ihr Geist tatsächlich gestört? Oder war sie schwer krank .?
Sie richtete sich auf und schob die Bettvorhänge zur Seite. Das Schauspiel, das sich ihrem Blick darbot, brachte sie vollends zur Überzeugung, daß sie den Verstand verloren hatte.
Auf einer Art Estrade sah sie eine halbnackte, blonde und rosige Göttin ausgestreckt liegen, die einen Strohkorb mit üppigen, golden schimmernden Weintrauben hielt, deren Blattwerk sich über die Samtkissen des Lagers ausbreitete. Ein völlig nackter kleiner Liebesgott, der auf seinem blonden Haar eine Blumenkrone trug, naschte genießerisch an den Trauben. Plötzlich begann der kleine Gott mehrmals zu niesen. Die Göttin sah ihn beunruhigt an und sagte ein paar Worte in einer fremden Sprache, die zweifellos die Sprache des Olymps war.
Jemand bewegte sich im Raum, und ein rothaariger, bärtiger, jedoch ganz unauffällig wie ein Handwerker des Jahrhunderts gekleideter Riese trat auf Eros zu, nahm ihn auf den Arm und hüllte ihn in einen wollenen Mantel.
Im gleichen Augenblick erkannte Angélique die Staffelei des Malers van Ossel, neben der ein Geselle in der Lederschürze stand und zwei Paletten mit leuchtenden Farben in den Händen hielt.
Der Geselle neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete das unvollendete Bild des Meisters. Ein fahles Licht fiel auf sein Gesicht. Er war ein lustiger Bursche von mittlerer Größe und gewöhnlichem Aussehen, mit seinem Hemd aus grobem Leinen, das den braunen Hals freiließ, und den kastanienbraunen Haaren, deren wirre Strähnen die dunklen Augen zur Hälfte verdeckten. Doch Angélique hätte unter Tausenden diese schmollende Unterlippe, diese gerümpfte Nase wiedererkannt, und auch das gutmütige, ein wenig schwere Kinn, das sie an ihren Vater, den Baron Armand erinnerte.
Sie rief: »Gontran!«
»Die Dame ist aufgewacht«, verkündete die Göttin.
Sogleich drängte sich die ganze Gruppe, der sich fünf oder sechs Kinder beigesellten, zum Bett.
Der Geselle schien verblüfft. Er starrte Angélique an, die ihm zulächelte. Plötzlich errötete er heftig und ergriff mit seinen farbenverschmierten Händen die ihrigen. Er murmelte:
»Meine Schwester!«
Die üppige Göttin, die niemand anders als die Frau des Malers van Ossel war, rief ihrer Tochter zu, die Hühnermilch zu bringen, die sie in der Küche bereitet hatte.
»Ich freue mich«, sagte der Niederländer, »ich freue mich, daß ich nicht nur einer in Not befindlichen Dame, sondern zugleich der Schwester meines Gesellen einen Dienst erweisen konnte.«