142424.fb2 Ang?lique - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 81

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»Ihr kennt diese traurige Gestalt?« erkundigte sich Cerbaland.

»Ich kenne sie alle. Dieser da ist Calembredaine, ein berüchtigter Liederjan, König der Taschendiebe vom Pont-Neuf und einer der größten Bandenführer der Hauptstadt.«

»Er scheint eine hübsche Portion Dreistigkeit zu besitzen, wenn er sich einfach dorthin stellt und anständigen Leuten beim Nachtessen zuschaut.«

»Vielleicht hatte er einen Komplicen im Lokal, dem er ein Zeichen geben wollte .«

»Mich hat er angestarrt«, sagte Angélique, deren Hände zitterten.

Desgray warf ihr einen flüchtigen Blick zu.

»Pah! Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen. Hier sind wir ganz in der Nähe der Rue de la Truanderie und der Vorstadt Saint-Denis. Das ist das Hauptquartier der Bettler und ihres Fürsten, des großen Coesre, Königs der Rotwelschen.«

Während des Redens hatte er seine Hand um die Taille der jungen Frau geschoben und drückte sie fest an sich. Angélique spürte die Wärme und die Kraft dieser männlichen Hand. Ihre überreizten Nerven entspannten sich. Ohne Scham zu empfinden, schmiegte sie sich an ihn. Was brauchte es sie zu kümmern, daß er ein bürgerlicher und noch dazu armer Advokat war? War sie nicht auf bestem Wege, eine Ausgestoßene, eine Geächtete zu werden, ohne Dach und Schutz, ohne Namen vielleicht?

»Potztausend!« rief Desgray fröhlich aus. »Man setzt sich doch nicht in eine Schenke, um Trübsal zu blasen. Wir wollen uns erst einmal stärken; hinterher werden wir Pläne schmieden. Heda, Corbasson, Bratkoch des Teufels! Wollt Ihr uns hier Hungers sterben lassen?«

Der Wirt eilte herbei.

»Was hast du drei hohen Herren zu bieten, die in den letzten vierundzwanzig Stunden nichts anderes als Aufregungen genossen haben, und einer zarten

jungen Dame, deren Appetit der Anregung bedarf?«

Corbasson griff sich ans Kinn und setzte eine bedeutende Miene auf:

»Nun, für Euch, meine Herren, würde ich ein großes, rosiges Rinderfilet vorschlagen, mit Pfeffergurken gewürzt, sowie drei kleine Brathühner und ein Schälchen Creme. Was Madame betrifft, wäre ein etwas leichteres Menü zu empfehlen: Kalbfleisch mit Salat, Kartoffelpüree, eine kandierte Birne und ein Blätterteighörnchen? Zum Abschluß einen Löffel Fenchelzucker, und ich bin überzeugt, es wird sich alsbald wieder ein rosiger Hauch über ihren Lilienteint legen.«

»Corbasson, du bist der unentbehrlichste und liebenswürdigste Mensch, den Gott erschaffen hat. Außerdem bist du ein ganz großer Künstler, nicht nur was deine Soßen, sondern auch was die Anmut deiner Rede betrifft.«

»Ich danke Euch, Monsieur«, erwiderte der Wirt, indem er seine Mütze abnahm und sich verbeugte. »Ihr werdet raschestens bedient sein.«

Und er stürzte zur Küche.

Wohl zum erstenmal in ihrem Leben verspürte Angélique keinen Hunger. Sie nippte nur an den kulinarischen Kunstwerken Meister Corbassons.

Ihr Körper kämpfte mit den Resten des Gifts, das sie im Verlauf des düsteren Abenteuers der vergangenen Nacht zu sich genommen hatte. Jahrhunderte schienen seitdem vergangen. Erschlafft von der Übelkeit und vielleicht auch von dem ungewohnten Kneipendunst, überkam sie Müdigkeit. Die Augen fielen ihr zu, und sie sagte sich, daß es keine Angélique de Peyrac mehr gab.

Als sie erwachte, herrschte morgendliches Dämmerlicht in der verräucherten Schenke.

Sie bewegte sich und bemerkte, daß ihre Wange auf einem harten Kopfkissen ruhte und daß dieses Kissen nichts anderes war als ein Knie des Advokaten Desgray. Sie lag ausgestreckt auf der Bank. Über sich sah sie das Gesicht Desgrays, der mit halbgeschlossenen Augen und in versonnener Haltung noch immer rauchte.

Hastig richtete sie sich auf, wobei sie vor Schmerzen das Gesicht verzog.

»Oh, verzeiht mir!« stammelte sie. »Ich ... es muß furchtbar unbequem für Euch gewesen sein.«

»Habt Ihr gut geschlafen?« erkundigte er sich mit schleppender Stimme, in der sich Müdigkeit und ein wenig Trunkenheit mischten. Der Krug vor ihm war nahezu leer.

Cerbaland und Gontran schnarchten, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Die junge Frau warf einen Blick zum Fenster. Sie erinnerte sich vage an etwas Schreckliches. Aber sie sah nur den Widerschein eines fahlen und regnerischen Morgens, der die Scheiben näßte.

Aus dem rückwärtigen Raum waren die Stimme Meister Corbassons und das dumpfe Geräusch über Fliesen rollender Fässer zu hören. Ein Mann stieß mit einem Fußtritt die Tür auf und kam, den Hut im Nacken, herein. Er hielt eine Glocke in der Hand und trug über seinem Gewand eine Art Kittel aus verschossenem blauem Leinen, auf dem ein Gewinde von Lilien und das Emblem des heiligen Christophorus zu erkennen waren.

»Hier ist Picard, der Weinausrufer. Brauchst du mich, Wirt?«

»Du kommst wie gerufen, Freund. Man hat mir gerade von der Place de Grève sechs Fässer Loirewein gebracht. Ich will für heute anstechen.«

Cerbaland war ruckartig aufgefahren und zog unversehens seinen Degen. »Beim Henker, ihr Herrn, hört mich alle an: Ich erkläre dem König den Krieg!«

»Schweigt, Cerbaland!« beschwor ihn Angélique erschrocken.

Wie ein Trunkenbold torkelnd, der seinen Weinrausch noch nicht ausgeschlafen hat, warf er einen argwöhnischen Blick auf sie.

»Glaubt Ihr, ich werde es nicht tun? Ihr kennt die Gaskogner schlecht, Madame. Krieg dem König! Ich fordere Euch alle dazu auf! Krieg dem König! Ein Hoch den Rebellen des Languedoc!«

Mit gezücktem Degen stolperte er die Stufen hinauf und verschwand.

Ohne sich um sein Geschrei zu kümmern, schnarchten die andern Schläfer weiter, und auch Wirt und Weinausrufer ließen sich in ihrem Consilium vor den Fässern nicht stören, wo sie schmatzend den neuen Wein probierten, bevor sie seinen Preis festsetzten. Ein frischer und berauschender Duft verjagte den muffigen Geruch nach kalten Pfeifen, Branntwein und ranzigen Soßen.

Gontran rieb sich die Augen.

»Bei Gott«, sagte er gähnend, »ich habe schon lange nicht mehr so gut gegessen, genau besehen seit dem Bankett der Bruderschaft von Saint-Luc, das leider nur einmal im Jahr stattfindet. Ist das nicht das Angelus, was ich da läuten höre?«

»Schon möglich«, meinte Desgray.

Gontran stand auf und reckte sich.

»Ich muß aufbrechen, Angélique, sonst zieht mein Meister ein schiefes Gesicht. Hör zu, geh mit Maître Desgray zu Raymond in den Temple. Ich werde heute abend Hortense aufsuchen, auf die Gefahr hin, daß unsere charmante Schwester mich weidlich beschimpft. Ich sag’ dir’s noch einmal: verlaß Paris. Aber ich weiß wohl, daß du die störrischste aller Mauleselinnen bist, die unser Vater je großgezogen hat .«

»Und du bist der störrischste seiner Maulesel«, gab Angélique zurück.

Zusammen traten sie hinaus, von der Dogge begleitet, die auf den Namen Sorbonne hörte. Der Bach, der in der Mitte der Straße floß, führte schlammiges Wasser. Es hatte geregnet. Die Luft war mit Feuchtigkeit getränkt, und ein warmer Wind ließ die eisernen Schilder über den Kaufläden an ihren Haken knarren.

Gontran hielt einen Branntweinverkäufer an und goß sich einen kleinen Becher Schnaps hinter die Binde. Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Lippen ab, bezahlte, nahm Abschied von Desgray und Angélique und verlor sich in der Menge, ohne sich von den Handwerkern abzuheben, die zu dieser Stunde an ihre Arbeitsplätze eilten.

»Das also ist aus uns beiden geworden«, dachte Angélique, während sie ihm nachschaute. »Schöne Erben des stolzen Namens de Sancé! Ich bin zwangsläufig in diese Situation geraten, aber er, warum ist er freiwillig so tief hinabgestiegen?«

Ihres Bruders wegen ein wenig verlegen, warf sie Desgray einen Seitenblick zu.

»Er ist immer ein Sonderling gewesen«, sagte sie. »Er hätte Offizier werden können wie alle jungen Adligen, aber er hat sich immer nur für seine Farben interessiert. Meine Mutter sagte, während sie ihn erwartete, habe sie eine Woche damit verbracht, alle Kleidungsstücke der Familie wegen der Trauer um meine Großeltern schwarz zu färben. Vielleicht kommt es daher?«

Desgray lächelte. »Ich bin begierig auf den Jesuitenbruder«, sagte er, »das vierte Exemplar dieser seltsamen Familie.«

»Oh, Raymond ist ein feiner und guter Mensch!«

»Ich hoffe es für Euch, Madame.«

»Ihr sollt mich nicht mehr Madame nennen«, sagte Angélique. »Seht mich an, Maître Desgray.«

Sie hob ihr rührendes, kleines, wachsbleiches Gesicht zu ihm auf. Die Müdigkeit verklärte ihre grünen Augen und gab ihnen eine kaum definierbare Tönung: die der ersten Frühlingsblätter.