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»Wißt Ihr, er ist von klein auf daran gewöhnt. Ich selbst ruf’ ihn manchmal Corde-au-cou, ohne mir dabei was zu denken. Und das mit den Steinen ist auch nichts Neues für ihn. Wichtig ist nur, daß es ihm gelingt, Meister zu werden. Hinterher wird man ihn schon respektieren, da hab’ ich keine Bange!«
Die Alte ließ ein höhnisches Kichern vernehmen, was das Hexenartige ihrer Erscheinung noch unterstrich. Angélique erinnerte sich des Widerwillens, den Madame Scarron gegen den Sohn und die Mutter empfand, und sie betrachtete die beiden verwundert.
»Ach, es stimmt also doch? Ihr wißt nicht Bescheid?« sagte Madame Cordeau und stellte die Schüssel wieder auf den Herd zurück. »Nun ja, ich hab’ nicht nötig, es zu verheimlichen - mein Junge arbeitet bei Meister Aubin.« Und da Angélique noch immer nicht begriff, erklärte sie: »Bei Meister Aubin, dem Scharfrichter!«
Die junge Frau spürte, wie ihr ein Schauer vom Nacken über den Rücken lief. Wortlos begann sie das derbe Gericht zu essen. Es war die Fastenzeit vor Weihnachten, und jeden Tag erschien das unvermeidliche Stückchen Walfischfleisch mit Erbsen, das Fastengericht der Armen, auf dem Tisch.
»Ja, er ist Scharfrichter-Lehrling«, fuhr die Alte fort und setzte sich Angélique gegenüber. »Was wollt Ihr, schließlich gehört das auch zum Leben. Meister Aubin ist der leibliche Bruder meines verstorbenen Mannes, und er hat nur Töchter. Als mein Mann starb, schrieb mir Meister Aubin in den kleinen Ort, wo wir wohnten, und ließ mich wissen, er werde sich meines Sohnes annehmen, ihm das Handwerk beibringen und später vielleicht sein Amt übertragen. Und wißt Ihr, Scharfrichter von Paris zu sein, das will schon was bedeuten! Ich möcht’ es gern noch erleben, daß mein Sohn die roten Hosen und das rote Trikot trägt .«
Sie warf einen geradezu zärtlichen Blick auf den dicken, runden Kopf ihres abstoßenden Sprößlings, der seelenruhig seine Erbsen auslöffelte.
»Wenn man sich vorstellt, daß er womöglich heute morgen einem Verurteilten den Strang um den Hals gelegt hat!« dachte Angélique voller Grausen. »Die Straßenjungen haben gar nicht so unrecht: Man darf nicht so heißen, wenn man ein solches Handwerk ausübt!«
Die Witwe, die ihr Schweigen als aufmerksame Teilnahme an ihren Geschichten auslegte, sprach weiter:
»Mein Mann war auch Scharfrichter, aber auf dem Land ist das nicht ganz dasselbe, denn die Kapitalverbrecher werden in der Provinzhauptstadt hingerichtet. In der Hauptsache war er Schinder und Abdecker .«
Sie fuhr pausenlos fort, beglückt, endlich einmal jemanden vor sich zu haben, der sie nicht durch entsetzte Proteste unterbrach.
Man solle sichjanichteinbilden, das S charfrichteramt sei einfach. Die Vielfältigkeit der angewandten Mittel, um den Delinquenten Geständnisse zu entreißen, habe ein kompliziertes Handwerk aus ihm gemacht. Dem Knaben Cordaucou fehle es, weiß Gott, nicht an Arbeit! Er müsse lernen, einen Kopf mit einem Schwert- oder Beilhieb abzuschlagen, mit dem glühenden Eisen umzugehen, Zungen zu durchstechen, zu hängen, zu ertränken, zu rädern und schließlich die verschiedenen Arten der Folterung anzuwenden.
An diesem Tage rührte Angélique ihren Teller kaum an und beeilte sich, wieder in ihr Zimmer zu kommen.
Ob Raymond über den Beruf des Sohnes der Mutter Cordeau orientiert gewesen war, als er sie an diese verwiesen hatte? Sicherlich nicht, denn die Situation war allzu peinlich. Dennoch kam Angélique keinen Augenblick auf den Gedanken, ihr Gatte könne, wenn er auch zur Zeit ein Gefangener war, eines Tages in die Hände des Scharfrichters geraten. Joffrey de Peyrac war Edelmann! Zweifellos gab es ein Gesetz, das die Folterung Adliger untersagte. Sie mußte doch bei nächster Gelegenheit Desgray danach fragen ... Der Henker war für die armen Leute da, für diejenigen, die man an den Pranger der Place des Halles stellte, die man an den Straßenecken nackt auspeitschte oder auf der Place de Grève hängte. Aber nicht für Joffrey de Peyrac, den letzten Nachfahren der Grafen von Toulouse.
In der Folgezeit suchte Angélique die Küche Madame Cordeaus weniger häufig auf. Sie schloß sich Françoise Scarron an, und da sie seit dem Verkauf Kouassi-Bas über einige Geldmittel verfügte, kaufte sie Holz, um ordentlich einheizen zu können, und lud die junge Witwe in ihr Zimmer ein.
Madame Scarron hoffte noch immer, der König werde eines Tages ihre Bittschriften lesen. Voller Hoffnung machte sie sich an bestimmten Vormittagen zum Louvre auf, um enttäuscht, aber gespickt mit Hofgeschichten zurückzukehren, die den beiden Frauen einen Tag lang Zerstreuung boten.
Sie verließ den Temple für sechs Tage, da sie eine Stelle als Gouvernante bei einer vornehmen Dame gefunden hatte, dann kehrte sie ohne Begründung zurück und nahm ihr verborgenes, kümmerliches Leben von neuem auf.
Hin und wieder suchten sie einige der hochgestellten Persönlichkeiten auf, die in ihrem Hause verkehrt hatten, als der satirische Schriftsteller Scarron noch Mittelpunkt einer kleinen Gruppe von Schöngeistern gewesen war.
Einmal erkannte Angélique durch die Trennungswand die grelle Stimme Athénaïs de Rochechouarts. Sie wußte, daß das hübsche Mädchen aus dem Poitou in der Pariser Welt ein recht bewegtes Leben führte, daß sie sich aber noch keinen standesgemäßen und vermögenden Ehemann geangelt hatte.
Ein andermal war es eine blonde, lebhafte und obwohl nahe den Vierzig, noch sehr schöne Frau. Als sie aufbrach, hörte Angélique sie sagen:
»Was wollt Ihr, meine Liebe, man muß sich eben sein Leben so leicht wie möglich machen. Es tut mir ordentlich weh, Euch hier in diesem ungeheizten Zimmer und in Euren abgetragenen Kleidern zu sehen. Wenn man so schöne Augen hat, sollte man nicht in solcher Ärmlichkeit leben.«
Françoise flüsterte etwas, was Angélique nicht verstand.
»Das gebe ich zu«, fuhr die klangvolle und heitere Stimme fort, »aber es liegt einzig an uns, eine Abhängigkeit, die nicht demütigender ist, als wenn man eine Rente erbettelt, nicht zur Versklavung werden zu lassen. So gibt sich der >Zahler<, der mir zur Zeit die Möglichkeit verschafft, Pferde und Wagen zu halten, mit zwei kleinen Besuchen im Monat völlig zufrieden. >Für fünfhundert Livres<, habe ich ihm gesagt, >bin ich nicht in der Lage, mehr zu geben.< Er ergibt sich drein, weil er weiß, daß er sonst überhaupt nichts bekommt. Außerdem habe ich ihm klargemacht, daß es keinen Sinn hätte, eifersüchtig zu sein, denn ich gedächte meine kleinen Liebeleien nicht aufzugeben. Ihr seid schockiert, meine Liebe? Ich merke es an der Art, wie Ihr Eure hübschen Lippen verzieht. Laßt Euch sagen: es gibt nichts Abwechslungsreicheres in der Natur als die Freuden der Liebe, wenn sie auch im Grunde immer die gleichen sind.«
Als sie ihre Freundin wiedersah, konnte sich Angélique nicht enthalten zu fragen, wer jene Dame gewesen sei.
»Glaubt nicht, daß mir diese Art Frauen liegt«, erwiderte Françoise verlegen, »aber man muß immer-hin zugeben, daß Ninon de Lenclos die charmanteste und geistreichste Freundin ist. Sie hat mir sehr geholfen und tut ihr möglichstes, um mir Beziehungen zu verschaffen, aber ich frage mich manchmal, ob ihre Empfehlungen mir nicht mehr schaden als nützen. Ihr wißt doch, was man von ihr sagt: >Ninon de Lenclos hat mit dem Regime Ludwigs XIII. geschlafen und schickt sich an, mit dem Ludwigs XIV. ein gleiches zu tun.< Was mich im übrigen nicht wundern würde, denn ihre Jugend scheint unvergänglich.«
Madame Scarrons zurückhaltendes Wesen hinderte Angélique nicht, gewisse Zweifel an ihrer Tugendhaftigkeit zu heben. In dieser sanften und spröden Frau schwelte eine Sinnlichkeit, die die Dürftigkeit ihrer Aufmachung und die Schlichtheit ihrer Äußerungen nicht zu verschleiern vermochten. Gleichwohl bot der Lebenswandel ihrer Nachbarin keinen Anlaß zu übler Nachrede. Jeden Morgen ging sie zur Messe und am Abend zur Andacht. Wenn Angélique unvermutet bei ihr eintrat, pflegte sie in einem dicken, abgegriffenen Gebetbuch zu lesen.
Aber als Angélique eines Tages über den Flur ging, glaubte sie, ein unterdrücktes Stöhnen zu vernehmen, das aus dem Zimmer ihrer Freundin drang. Im Begriff, anzuklopfen und zu fragen, ob ihr etwas fehle, kam es ihr plötzlich vor, als seien diese Seufzer das Echo eines männlichen Geflüsters. Ungeniert schaute Angélique durchs Schlüsselloch und stellte fest, daß die unbescholtene Witwe sich in nicht mißzuverstehender Weise in die Arme eines Mannes drängte, der seinerseits durchaus entschlossen schien, ihr Verlangen zu stillen. In dem Mann erkannte sie den Haushofmeister einer vornehmen Dame, der zuweilen in deren Auftrag Madame Scarron aufsuchte, um ihr eine kleine Beihilfe zu bringen. Nun, er fügte eben noch einen persönlichen Beitrag hinzu.
Still vor sich hin lachend, kehrte Angélique in ihr Zimmer zurück und nahm sich vor, ihre Freundin durch mehr oder minder deutliche Anspielungen ein wenig in Verlegenheit zu bringen. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Was ging es sie an, wenn es Françoise d’Aubigné beliebte, zugleich fromm und leidenschaftlich zu sein? Bemühen wir uns nicht unser Leben lang, unser Ideal mit unseren Schwächen in Einklang zu bringen?
Man mußte schon ein Joffrey de Peyrac sein, um sich mit Gott und den Menschen und mit sich selbst eins zu fühlen. Aber Joffrey paßte nicht in seine Zeit. Er sprach nicht dieselbe Sprache wie diese Männer und Frauen, die unter Skrupeln liederlich waren und mit heimlichem Widerwillen fromm. Er glich nicht den andern, und vielleicht würde man ihn eben deshalb verurteilen.
Seufzend setzte sich Angélique vor ihr Feuer. Sie griff zur Nadel, um ein Jäckchen zu häkeln, und vergaß die Liebschaften der Witwe Scarron.
Als sie zum zweitenmal das kleine Sprechzimmer der Jesuiten betrat, erwartete Angélique, ihren Bruder vorzufinden, der sie hatte rufen lassen, und den Advokaten Desgray, dem sie lange nicht mehr begegnet war.
Aber im Raum befand sich nur ein kleiner, schwarzgekleideter Mann mittleren Alters, der eine jener »Kanzlistenperücken« aus Roßhaar trug, an denen ein Käppchen aus schwarzem Leder festgenäht ist.
Er stand auf und grüßte linkisch auf altmodische Art, dann stellte er sich umständlich als Gerichtsaktuar vor, der von Maître Desgray in der Angelegenheit des Sieur Peyrac zugezogen worden sei.
»Ich befasse mich erst seit drei Tagen damit, aber ich stehe schon lange mit Maître Desgray und Maître Fallot in Verbindung, die mich über den Fall informiert und mit der Abfassung der üblichen Schriftstücke und der Einleitung Eures Prozesses betraut haben.«
Angélique stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Endlich ist es also soweit!« rief sie aus.
Der kleine Biedermann betrachtete die Klientin, die von den juristischen Formalitäten offensichtlich keine Ahnung hatte, mit ärgerlicher Miene.
»Wenn Maître Desgray mir die außerordentliche Ehre zuteil werden ließ, mich um meinen Beistand zu bitten, so geschah es deshalb, weil dieser junge Mann sich klargeworden ist, daß er trotz der vorzüglichen Schriftsätze, die er dank seiner hervorragenden Intelligenz anfertigt, eines mit dem Prozeßwesen eng vertrauten Fachmannes bedurfte. Nun, Madame, dieser Fachmann bin ich.«
Mit selbstgefälliger Miene betrachtete er den Staub, der in einem einfallenden Lichtstrahl tanzte. Angélique wurde leicht ungehalten.
»Aber Ihr habt mir doch zu verstehen gegeben, daß der Prozeß bereits eingeleitet sei?«
»Gemach, meine schöne Dame. Ich habe lediglich gesagt, daß ich die Einleitung dieses Prozesses betreibe.«
»Das ist doch dasselbe!«
»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Madame. Ich habe nur gesagt, daß dank meiner die Dinge sich endlich auf dem normalen und regulären Verfahrenswege befinden.«
»Genau das wünsche ich mir«, sagte Angélique.
Ein wenig verwirrt ließ sie sich auf einer der Polsterbänke nieder, die den Sprechraum zierten. Das Männchen blieb vor ihr stehen und schien noch einiges mehr zur näheren Erläuterung dazu sagen zu wollen, wurde aber durch das Erscheinen des Advokaten und des Jesuiten unterbrochen.
»Was ist denn das für ein seltsamer Vogel, den Ihr da aufgestöbert habt?« flüsterte Angélique Desgray zu.
»Ihr könnt beruhigt sein, er ist harmlos. Und er ist ein richtiges kleines Insekt, das von beschriebenem Papier lebt, aber ein kleiner Gott auf seinem Gebiet.«
»Was er sagt, ließ mich fürchten, daß er meinen Gatten zwanzig Jahre lang im Gefängnis verkommen lassen will.«
»Monsieur Clopot, Ihr redet zuviel und seid Madame lästig gefallen«, sagte der Advokat in hartem Ton.
Der kleine Mann schrumpfte noch mehr zusammen, drückte sich in eine Ecke und bekam fast etwas von einer Küchenschabe.