142424.fb2
»Ihr behandelt ihn aber schlecht, Euren kleinen Aktenkönig.«
»Darin besteht meine ganze Überlegenheit ihm gegenüber. Tatsächlich ist er hundertmal reicher als ich ... Und nun setzen wir uns und vergegenwärtigen wir uns die Situation.«
»Der Prozeß steht fest?«
»Ja.«
Die junge Frau betrachtete die Gesichter ihres Bruders und ihres Advokaten, aus denen eine gewisse Reserve zu lesen war.
»Die Anwesenheit Monsieur Clopots hat es dich wohl schon erkennen lassen«, sagte Raymond endlich: »Wir haben es nicht erreicht, daß dein Gatte vor ein Kirchentribunal gestellt wird.«
»Obwohl es sich um die Beschuldigung der Hexerei handelt?«
»Wir haben alle Gegenargumente ins Treffen geführt und unsern ganzen Einfluß spielen lassen, das kannst du mir glauben. Aber der König hat offenbar den Wunsch, sich päpstlicher als der Papst zu zeigen. Es ist wohl so: je mehr Mazarin sich dem Grab nähert, desto mehr erhebt der junge Monarch den Anspruch, alle Angelegenheiten des Königreichs einschließlich der kirchlichen in die Hand zu nehmen. Kurz und gut, wir haben nichts anderes erreichen können als die Eröffnung eines Zivilprozesses.«
»Dieser Beschluß ist doch wohl immer noch besser, als wenn die Sache in Vergessenheit geriete, nicht wahr?« fragte Angélique und mühte sich vergeblich, von Desgrays Augen eine Bestätigung abzulesen.
»Eine klare Entscheidung ist immer besser als jahrelange Ungewißheit.«
»Wir wollen diesem Fehlschlag keine allzu große Bedeutung beimessen«, versetzte Raymond. »Jetzt handelt es sich um die Frage, wie man die Richtung dieses Prozesses beeinflussen kann. Der König wird selbst die Geschworenen bestimmen. Unsere Rolle muß es sein, ihm begreiflich zu machen, daß er es sich schuldig ist, Unparteilichkeit und Gerechtigkeit walten zu lassen. Wahrlich eine heikle Rolle, das Gewissen eines Königs wachzurütteln!«
Diese Worte erinnerten Angélique an einen Ausspruch, den der Marquis du Plessis-Bellière vor langer Zeit über Monsieur Vincent de Paul getan hatte: »Er ist das Gewissen des Königreichs.«
»Oh«, rief sie aus, »warum habe ich nur nicht früher daran gedacht? Wenn Monsieur Vincent mit der Königin oder mit dem König über Joffrey reden könnte, würde er sie sicher erweichen.«
»Leider ist Monsieur Vincent im vergangenen Monat in seinem Haus in Saint-Lazare gestorben.«
»Mein Gott!« seufzte Angélique, und ihre Augen füllten sich mit Tranen der Enttäuschung. »Warum habe ich nur nicht an ihn gedacht, als er noch lebte! Er hätte mit ihnen zu reden gewußt. Er hätte erreicht, daß Joffrey vor ein Kirchengericht gekommen wäre ...«
»Glaubst du denn, wir hätten nicht alles unternommen, um das zu erwirken?« fragte der Jesuit leicht verärgert.
Angéliques Augen leuchteten auf.
»Doch«, flüsterte sie, »aber Monsieur Vincent war ein Heiliger.«
Es entstand eine Pause, dann seufzte Pater de San-cé.
»Du hast recht. Nur ein Heiliger könnte den Stolz des Königs beugen. Selbst seine engste Umgebung kennt die Seele dieses jungen Mannes nicht, hinter dessen zurückhaltendem Gebaren sich eine furchtbare Machtgier verbirgt. Ich bestreite nicht, daß er ein großer König ist, aber .«
Er hielt inne, vielleicht weil er fand, daß es gefährlich war, dergleichen zu äußern.
»Wir haben es erfahren«, fuhr er fort, »daß einige Gelehrte, die in Rom leben und deren zwei unserer Kongregation angehören, über die Verhaftung des Grafen Peyrac ungehalten sind und dagegen protestiert haben - heimlich natürlich, denn die Sache ist ja bisher geheimgehalten worden. Man könnte ihre Aussagen sammeln und den Papst um eine schriftliche Intervention beim König bitten. Diese erlauchte Stimme wird ihn vielleicht zur Nachgiebigkeit veranlassen, indem sie an sein Verantwortungsbewußtsein appelliert und ihn mahnt, den Fall eines Angeklagten genau zu prüfen, den die größten Geister des Delikts der Hexerei nicht für schuldig befunden haben.«
»Glaubst du, ein solcher Brief ließe sich erreichen?« fragte Angélique zweifelnd. »Die Kirche schätzt die Gelehrten nicht.«
»Mir scheint, daß es einer Frau deiner Lebensweise nicht zusteht, über die Verfehlungen oder Irrtümer der Kirche zu urteilen«, erwiderte Raymond.
»Ich habe den Eindruck, daß da zwischen Raymond und mir irgend etwas nicht in Ordnung war«, sagte Angélique, als sie kurz danach den Advokaten bis zum Torturm zurückbegleitete. »Warum sprach er so hart über meinen Lebenswandel? Mir scheint, ich führe ein mindestens ebenso einwandfreies Leben wie die Henkersfrau, bei der ich wohne.«
Desgray lächelte.
»Ich vermute, Euer Bruder hat bereits einige der Zettel unter die Augen bekommen, die seit heute früh in Paris zirkulieren. Claude Le Petit, der berühmte Reimeschmied vom Pont-Neuf, der nun schon bald sechs Jahre lang die Verdauung der großen Herren beeinträchtigt, hat von dem Prozeß Eures Gatten Wind bekommen und ihn zum willkommenen Anlaß genommen, seine Feder in Vitriol zu tauchen.«
»Was konnte er erzählen? Habt Ihr diese Pamphlete gesehen?«
Der Advokat bedeutete Monsieur Clopot, der in einigem Abstand folgte, näher zu kommen und ihm die Tasche zu geben, die er unter dem Arm trug. Er entnahm ihr ein Päckchen Blätter, auf denen sich, grob gedruckt, kleine, gereimte Gedichte befanden. Mit einem Schwung, der aus dem Herzen zu kommen schien, sich jedoch der niedrigsten Beschimpfungen und vulgärsten Ausdrücke bediente, präsentierte der Verfasser den Grafen Joffrey de Peyrac als »den großen Hinkenden, den Langhaarigen, den großen Hahnrei des Languedoc .«
Er hatte es ja leicht, Glossen über das Äußere des Angeklagten zu machen. Eines dieser Spottgedichte schloß mit den Versen:
»Doch Madame de Peyrac - sollt’ man’s glauben? -läßt sich dadurch nicht die Stimmung rauben. Hoffend, daß noch lang in der Bastille er möge bleiben,
geht flugs sie in den Louvre, um es dort zu treiben.«
Angélique glaubte zu erröten, doch in Wirklichkeit wurde sie leichenblaß. »Oh, dieser verdammte Schmutzpoet!« rief sie aus und warf die Blätter in den Straßenkot. »Es stimmt schon: Der Dreck ist noch zu sauber für ihn!«
»Pst, Madame, nicht fluchen!« protestierte Desgray und tat entrüstet, während der Kanzlist sich bekreuzigte. »Monsieur Clopot, hebt bitte diese Blätter auf und steckt sie wieder in die Tasche.«
»Ich möchte nur wissen, warum man statt der ehrlichen Leute nicht diese Schmierfinken ins Gefängnis sperrt«, meinte Angélique empört. »Wenn man es wirklich einmal tut, steckt man sie auch noch in die Bastille, als müsse man ihnen Ehre erweisen. Weshalb nicht ins Châtelet wie richtige Banditen, die sie doch sind?«
»Es ist nicht einfach, eines Pasquillenschreibers habhaft zu werden. Sie sind überall und nirgends. Claude Le Petit ist sechsmal mit knapper Not dem Galgen entronnen, und dennoch taucht er immer wieder auf und schießt seine Pfeile in einem Augenblick ab, in dem man am wenigsten darauf gefaßt ist. Er ist das Auge von Paris. Er sieht alles, er weiß alles, und niemals begegnet man ihm. Ich selbst habe ihn noch nie gesehen, aber ich vermute, daß seine Ohren größer als ein Waschfaß sind, denn der ganze Klatsch der Hauptstadt findet in ihnen eine Freistätte. Man sollte ihn als Spitzel bezahlen, statt ihn zu verfolgen.«
»Man sollte ihn lieber endlich hängen!«
»Zwar rangieren die Zeitungsschreiber bei unserer lieben und unfähigen Polizei unter den >Übelgesinn-ten<. Aber sie wird den kleinen Schreiberling vom Pont-Neuf nie erwischen, wenn wir ihn nicht aufs Korn nehmen, mein Hund und ich.«
»Tut es, ich beschwöre Euch«, rief Angélique und faßte Desgray mit beiden Händen an seinem Kragen aus grobem Leinen. »Sorbonne soll ihn mir in seinem Maul bringen, tot oder lebendig.«
»Ich zöge es vor, ihn Monsieur de Mazarin zu übergeben, denn glaubt mir, der ist sein allerschlimmster Feind.«
»Wie konnte man nur dulden, daß ein Lügner so lange ungestraft sein Unwesen trieb?«
»Leider besteht die beängstigende Stärke Le Petits darin, daß er nie lügt und sich selten irrt.«
Angélique wollte protestieren, dann erinnerte sie sich des Marquis de Vardes und schwieg, von Wut und Scham erfüllt.
Einige Tage vor Weihnachten begann es zu schneien. Die Stadt legte ihren Festschmuck an. In den Kirchen wurden die Krippen aus dicker Pappe oder Gips aufgebaut, vor denen die Figuren der Weihnachtsgeschichte ihren Platz fanden, das Jesuskind zwischen dem Ochsen und dem Esel. Die Fahnen der Zünfte zogen in langer, von Gesang begleiteter Prozession durch die schnee- und schlammbedeckten Straßen.
Wie der alljährlich geübte Brauch es verlangte, machten sich die Augustiner des Spitals an die Herstellung Tausender mit Zitronensaft beträufelter Krapfen, die von Kindern in der ganzen Stadt feilgeboten wurden. Nur für diese Krapfen durfte das Fasten durchbrochen werden, und der erzielte Gewinn sollte dazu beitragen, armen Kranken das Weihnachtsfest zu verschönen.
Zur gleichen Zeit überstürzten sich für Angélique die Ereignisse. Ihre Gedanken waren so ausschließlich auf den bevorstehenden Prozeß gerichtet, daß sie Weihnachten und Neujahr darüber vergaß.
Zunächst suchte Desgray sie eines Morgens im Temple auf und teilte ihr mit, was er hinsichtlich der Bestellung der Richter hatte in Erfahrung bringen können.
»Der Auswahl ist ein langwieriger Aussiebungsprozeß vorausgegangen. Wir dürfen uns keine Illusionen machen, denn es sieht so aus, als habe man sie nicht ihres Gerechtigkeitssinns wegen ausgesucht, sondern unter dem Gesichtspunkt des Grades ihrer Verbundenheit mit der Sache des Königs. Überdies hat man mit Bedacht Beamte ausgeschieden, von denen einige zwar zweifellos dem König ergeben, wiederum aber auch beherzt genug sind, sich gegebenenfalls dem königlichen Druck zu widersetzen. Beispielsweise Maître Gallemand, einen der berühmtesten Advokaten unserer Zeit, dessen Einstellung durchaus eindeutig zu sein scheint, denn während der Fronde hat er ganz offen für die Sache des Königs Partei ergriffen, selbst auf die Gefahr hin, eingesperrt zu werden. Aber er ist eine Kämpfernatur, die sich vor niemand fürchtet, und seine unerwarteten Ausfälle lassen stets das Gericht erzittern. Ich hoffte lange, er würde gewählt werden, aber offenbar will man nur ganz sichere Leute haben.«