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»Der Oberpräsident Séguier wird persönlich das Verhör führen, um die Form zu wahren und dem Prozeß einen exemplarischen Charakter zu verleihen.«
»Der Präsident Séguier! Das ist ja mehr, als ich zu hoffen wagte!«
»Machen wir uns nichts vor«, sagte der Advokat. »Der Präsident Séguier bezahlt seine hohen Ämter mit seiner moralischen Unabhängigkeit. Ich hörte überdies, daß er den Häftling aufgesucht hat und daß die Unterhaltung recht stürmisch verlaufen ist. Der Graf hat sich geweigert, einen Eid zu leisten, denn das Kammergericht sei nach seiner Ansicht nicht berechtigt, ein Mitglied des Parlaments von Toulouse abzuurteilen. Nur die Große Kammer des Parlaments von Paris könne einen ehemaligen Berichterstatter über die Bittschriften eines Provinzialparlaments zur Verantwortung ziehen.«
»Sagtet Ihr nicht, die Aburteilung durch das Parlamentsgericht sei wegen dessen Ergebenheit Monsieur Fouquet gegenüber ebensowenig wünschenswert?«
»Gewiß, Madame, und ich habe versucht, Euren Gatten das wissen zu lassen. Aber entweder hat ihn meine Botschaft nicht erreicht, oder er ist zu stolz, Ratschläge anzunehmen, jedenfalls kenne ich nur die Antwort, die er dem obersten Beamten der königlichen Justiz gegeben hat.«
»Und was hat sie zur Folge gehabt?« fragte die junge Frau ängstlich.
»Ich vermute, der König hat verfügt, wie üblich zu verfahren und ihn, wenn nötig, >stumm< zu verurteilen.«
»Was heißt das?«
»Das bedeutet, daß er wie ein Abwesender in contumaciam gerichtet wird, was seine Angelegenheit sehr viel heikler machen würde. Denn in Frankreich gilt ein Angeklagter zunächst immer als schuldig, während beispielsweise in England der anklagende Staatsanwalt den Beweis für die Schuld einer verhafteten Person erbringen muß, die im übrigen freigelassen wird, wenn nicht binnen vierundzwanzig Stunden eine förmliche Anklageschrift vorliegt.«
»Weiß man, wer bei dem Prozeß der Anklagevertreter sein wird?«
»Es werden deren zwei sein. Einmal Denis Talon, der Generalstaatsanwalt des Königs selbst, und, wie erwartet, Euer Schwager Fallot de Sancé. Der letztere wollte ablehnen, indem er auf seine Verwandtschaft mit Euch verwies, aber er scheint von Talon oder anderen überredet worden zu sein, denn in den Kulissen des Justizpalastes flüstert man sich jetzt zu, man fände es sehr schlau, daß er zwischen der Familienpflicht und der Treue zum König, dem er alles verdankt, seine Wahl getroffen habe.«
Angélique verzog das Gesicht, aber sie beherrschte sich und wollte noch mehr wissen.
»Außerdem spricht man von de Masseneau, einem Parlamentarier aus Toulouse, und dem Präsidenten Mesmon, was mich verwundert, denn er ist ein Greis, dessen Leben nur noch an einem Faden hängt. Ich kann ihn mir schlecht als Präsidenten einer Verhandlung vorstellen, bei der es vermutlich stürmisch zugehen wird. Vielleicht hat man ihn gerade wegen seiner körperlichen Schwäche gewählt, denn man weiß, daß er ein gerechter und gewissenhafter Mann ist. Wenn er für diesen Prozeß seine Kräfte zusammennimmt, gehört er zu denen, auf die wir unsere Hoffnungen setzen können.«
Dann fuhr Desgray fort:
»Schließlich sind noch Bourié zu nennen, der Sekretär des Gerichtshofs, der unter den Juristen im Rufe eines legalen Urkundenfälschers steht, und ein gewisser Delmas, ein höchst obskurer Richter, den man vielleicht ausgesucht hat, weil er der Onkel Colberts ist, eines Beamten Mazarins, vielleicht aber auch ganz einfach deswegen, weil er Protestant ist und der König Wert darauf legt, daß seine Rechtsprechung den Anschein der Legalität wahrt und daß auch die reformierte Kirche bei der weltlichen Justiz des Königreichs vertreten ist ...«
»Ich vermute«, sagte Angélique, »daß dieser Hugenotte recht überrascht sein wird, in einem Prozeß mitreden zu müssen, bei dem es um Teufelsbeschwörung und Besessensein geht. Aber schließlich kann es uns nur von Nutzen sein, unter den Geschworenen einen möglicherweise etwas aufgeklärteren Geist zu haben, der von vornherein gegen jeglichen Aberglauben eingenommen ist.«
»Sicher«, sagte der Advokat achselzuckend. Sein Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck angenommen.
»Übrigens, da Ihr von Teufelsbeschwörung und Besessenheit sprecht, kennt Ihr einen Mönch namens Becher und eine Nonne, die, bevor sie den Schleier nahm, Carmencita de Mérecourt hieß?«
»Und ob ich sie kenne!« rief Angélique aus. »Mein Gott, ja! Dieser Mönch Becher ist ein halbverrückter Alchimist, der sich geschworen hat, meinem Gatten das Geheimnis des Steins der Weisen zu entreißen. Was Carmencita de Mérecourt betrifft, so ist das eine höchst exzentrische Dame, die früher einmal meines Gatten . Mätresse war und ihm nicht verzeihen kann, daß sie es nicht mehr ist. Aber was haben sie mit dieser Angelegenheit zu tun?«
»Es soll sich um einen Fall von Teufelsbeschwörung handeln, bei der Becher und jene Dame anwesend waren. Eine völlig unklare Sache. Das betreffende Schriftstück ist den Anklageakten beigefügt worden und stellt, wie es scheint, eines der ausschlaggebenden Dokumente dar.«
»Ihr habt es wohl nicht gelesen?«
»Ich habe keine der unzähligen Akten gelesen, an deren Zusammenstellung der Gerichtsrat Bourié emsig arbeitet. Niemand hindert ihn offenbar daran, von seiner Fälschergabe ausgiebigen Gebrauch zu machen.«
»Aber da der Prozeß nahe bevorsteht, müßt Ihr doch als Verteidiger des Angeklagten über die Einzelheiten der übrigen Anklagepunkte informiert sein!«
»Eben nicht! Und es ist mir bereits wiederholt mitgeteilt worden, daß Eurem Gatten der Beistand eines Advokaten verwehrt werden wird. So daß ich mich im Augenblick vor allem darum bemühe, eine schriftliche Bestätigung dieser Verweigerung zu bekommen.«
»Aber Ihr seid ja wahnsinnig!«
»Ganz und gar nicht. Die Bestimmungen lauten dahin, daß man nur einem der Majestätsbeleidigung angeklagten Menschen den Beistand eines Advokaten verweigern kann. In unserem Falle dürfte der Nachweis eines solchen Vergehens schwerlich zu erbringen sein. Wenn ich also im Besitz dieser schriftlichen Erklärung bin, erhebe ich Anfechtungsklage, was mir sofort eine starke moralische Position verschaffen wird. Ich glaube, daß ich sie durch diesen Winkelzug schließlich dazu zwingen werde, mich als Verteidiger zu benennen.«
Als Desgray am übernächsten Tag wiederkam, trug er zum erstenmal eine befriedigte Miene zur Schau.
»Die Sache ist geglückt«, sagte er frohlockend. »Der erste Präsident des Kammergerichts, Séguier, hat mich soeben zum Verteidiger des der Hexerei angeklagten Sieur Peyrac bestimmt. Das ist ein eindeutiger Sieg über die Heimtücke der Verfahrensweise, aber in ihrem blinden Bestreben, dem König zu Willen zu sein, haben sich die hohen Lakaien der Justiz allzu sehr in Widerspruch zu ihren eigenen Prinzipien gesetzt. Kurz, sie haben sich gezwungen gesehen, einen Verteidiger zu bestimmen. Aber ich mache Euch darauf aufmerksam, Madame, daß Ihr noch genügend Zeit habt, Euch nach einem berühmteren Advokaten umzusehen, um ihm den Fall Eures Gatten zu übertragen.«
Angélique sah durchs Fenster hinaus. Der Temple-Bezirk wirkte verlassen und wie eingeschlafen unter seinem Schneeteppich. Madame Scarron ging unten in ihrem schäbigen Mantel vorüber, um sich zum Gottesdienst in die Kapelle des Großpriors zu begeben. Das Geläut einer kleinen Glocke erstickte unter dem niedrigen grauen Himmel. Angélique warf einen verstohlenen Blick auf den Advokaten, der sich ernst und abweisend gab.
»Ich wüßte wirklich keinen fähigeren Mann zu nennen, dem ich diese Sache anvertrauen könnte, die mir am Herzen liegt«, sagte sie. »Ihr erfüllt alle wünschenswerten Voraussetzungen. Und als mein Schwager Fallot Euch mir empfahl, meinte er: >Er ist einer der schlauesten Köpfe der Anwaltschaft, und außerdem wird er Euch nicht viel kosten!<«
»Ich danke Euch für die gute Meinung, die Ihr von mir habt, Madame«, sagte Desgray, der sich keineswegs zu ärgern schien.
Die junge Frau malte gedankenverloren mit dem Finger auf die beschlagene Fensterscheibe. >Wenn ich wieder mit Joffrey in Toulouse sein werde<, dachte sie, >werde ich mich dann noch des Advokaten Desgray erinnern? Zuweilen werde ich daran denken, daß wir zusammen in der Badeanstalt waren, und das wird mir unwahrscheinlich vorkommen .!<
Plötzlich wandte sie sich mit verklärten Augen zu ihm um.
»Oh, Ihr habt ja jetzt die Möglichkeit, ihn täglich aufzusuchen! Könntet Ihr mich nicht mitnehmen?«
Doch Desgray riet ihr ab, die strengen Weisungen hinsichtlich der völligen Isolierung des Häftlings zu mißachten. Es stand auch noch nicht fest, ob er selbst die Erlaubnis bekommen würde, ihn zu sprechen, aber er war entschlossen, sie durch die Vermittlung der Advokatenkammer zu erwirken. Es mußte jetzt rasch gehandelt werden, denn da seine Bestellung als Verteidiger der königlichen Justizbehörde nur durch List entrissen worden war, bestand die Möglichkeit, daß ihm die Anklageschrift erst kurz vor dem Termin zugestellt würde und vielleicht auch nur teilweise.
»Ich weiß, daß bei derartigen Prozessen die Aktenstücke oft aus fliegenden Blättern bestehen und daß der Siegelbewahrer, der Kardinal Mazarin oder der König selbst sich zu jeder Zeit das Recht vorbehalten, sie zu prüfen oder einzelne an sich zu nehmen beziehungsweise sie zu ergänzen. Gewiß geschieht das nicht gerade häufig, aber zieht man die besonderen Verhältnisse in Betracht, unter denen sich alles abspielt .«
Trotz dieser letzten bedenklichen Worte summte Angélique an diesem Abend vor sich hin, während sie Florimonds Brei kochte, und sie gewann schließlich sogar dem unvermeidlichen Stück Walfischfleisch der Mutter Cordeau einigen Geschmack ab. Die Kinder vom Spital waren an diesem Tag in den Temple-Bezirk gekommen. Sie hatte ihnen ein paar der köstlichen Krapfen abgekauft, und der gestillte Appetit verhalf ihr dazu, die Zukunft in freundlicheren Farben zu sehen.
Ihre Zuversicht wurde belohnt, denn schon am folgenden Abend kehrte der Advokat mit zwei aufregenden Nachrichten zurück: Man hatte ihm einen Teil der Akten zugestellt und ihm überdies erlaubt, den Gefangenen zu sprechen.
Bei dieser Mitteilung stürzte Angélique auf Desgray zu, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn herzhaft. Einen Augenblick spürte sie den Druck zweier kräftiger Arme und empfand ein intensives wohliges Gefühl. Doch schon zog sie sich verwirrt wieder zurück und stammelte, während sie über ihre Augen wischte, in denen Tränen perlten, sie wisse schon gar nicht mehr, was sie tue.
Taktvoll ging Desgray über diesen Zwischenfall hinweg. Er berichtete, daß der Besuch in der Bastille am nächsten Tag um die Mittagszeit stattfinden werde. Er werde den Häftling zwar nur in Gegenwart des Gouverneurs sehen können, hoffe aber zuversichtlich, daß es ihm späterhin gelingen würde, mit dem Grafen Peyrac unter vier Augen zu sprechen.
»Ich gehe mit Euch«, erklärte Angélique. »Ich werde vor dem Gefängnis warten, aber ich fühle, daß ich es nicht über mich bringen könnte, währenddessen still zu Hause zu sitzen.«
Der Advokat sprach sodann über die Prozeßakten, von denen er Kenntnis bekommen hatte. Einer abgegriffenen Plüschtasche entnahm er ein paar Blätter, auf denen er die Hauptanklagepunkte notiert hatte.
»Er ist in erster Linie der Hexerei angeklagt. Wird als Hersteller von Giften und anderen Drogen bezeichnet. Ist im Besitz magischer Kräfte, kann die Zukunft voraussagen und kennt Mittel, um das Gift im Körper unschädlich zu machen. Er soll die Kunst entdeckt haben, sich Menschen von Ruf und Bildung durch Teufelskunststücke gefügig zu machen . Die Anklage stellt fest, daß eine seiner ... ehemaligen Mätressen gestorben ist und daß man im Mund der exhumierten Leiche das Medaillon des Grafen Peyrac gefunden hat ...«
»Aber was soll denn diese Sammelsurium von Unsinnigkeiten?« rief Angélique bestürzt aus. »Ihr wollt doch nicht behaupten, daß vernünftige Richter sich damit in öffentlicher Sitzung befassen werden?«
»Vermutlich ja, und ich für mein Teil beglückwünsche mich sogar zu diesem Übermaß von Dummheiten, denn ich werde sie um so leichter abtun können. Des weiteren umfaßt die Anklageschrift das Verbrechen der Alchimie, die Suche nach Schätzen, die Transmutation von Gold und - haltet Euch fest!
- >die ketzerische Behauptung, Leben geschaffen zu haben<. Könnt Ihr Euch denken, Madame, was das bedeuten soll?«
Ratlos überlegte Angélique eine Weile. Schließlich legte sie die Hand auf die Stelle, wo ihr zweites Kind sich rührte.
»Glaubt Ihr, daß es das ist, worauf sie anspielen?« fragte sie lachend.
Der Advokat machte eine zweifelnde und resignierte Geste. Er las weiter: