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»Sie wieder auf die Straße schicken, wäre ihr Untergang. Bevor sie um den Wald herum nach Secondigny kämen, hätte Montadour sie erwischt.«
»Nein«, sagte Angélique, die schon nach einem Ausweg gesucht hatte. »Sie müssen sich zur Mühle der Ukeleis am Rand des Sumpfs durchschlagen. Von da aus werden sie Barken zum Besitz Monsieur d’Aubignes bringen, wo sie in Sicherheit sind. Auf den Kanälen werden sie dann bis in die Nähe von La Rochelle gelangen. Sie werden höchstens noch zwei oder drei Meilen zu gehen haben und den ganzen Weg abseits von belebten Straßen zurücklegen.«
»Aber wie erreichen sie die Mühle der Ukeleis?«
»In zwei bis drei Stunden Marsch geradewegs durch den Wald.«
Der Protestant verzog das Gesicht.
»Wer wird sie führen?«
Angéliques Blick glitt über die müden Gesichter, in denen die dunklen Augen der Frauen ihrer Provinz glühten.
»Ich«, sagte sie.
Als sie unter den Bäumen hervortraten, versanken ihre Füße in schwammigem Moos. Hier begannen die Sümpfe. Sie hatten die Farben der Wiesen, und man hatte es nicht gewagt, weiter zwischen den Erlen und Espen vorzudringen, wenn angekettete Barken am Ufer nicht die Nähe des Wassers verraten hätten, Angélique hatte drei kleine Lakeien mitgenommen, die beim Einschiffen helfen sollten. Als mit dem Land vertraute Jungen hatten sie sich skeptisch gezeigt.
»Man klettert nicht so einfach in die Boote, Frau Marquise. Bei der Mühle der Ukeleis wird das Ufer vom Müller überwacht. Er fordert Wegegeld von allen, die in die Sümpfe wollen, und macht den Reformierten Schwierigkeiten, weil er sie verabscheut. Er hat die Schlüssel zu den Barken. Selbst Leute aus den Weilern machen weite Umwege, um nicht an seiner Mühle vorbei zu müssen.«
»Wir haben keine Zeit. Es ist unser einziger Ausweg. Ich werde den Müller auf mich nehmen«, sagte Angélique.
Sie hatten sich lange vor der Dämmerung auf den Weg gemacht und Laternen mitgenommen, die sie anzünden wollten, wenn die Dunkelheit in den Wald einfallen würde. Die Kinder waren müde gewesen. Der Weg schien endlos. Als sie zur Mühle der Ukeleis gelangten, war die Sonne längst untergegangen. Die Rufe der Frösche und Wasservögel erfüllten das Dunkel. Die Kühle eines ungreifbaren Nebels stieg vom Boden auf und reizte die Kehlen, während die Linien der aus dem Wasser ragenden Bäume sich nach und nach in dem tiefer werdenden Blau verwischten.
Die Mühle war noch zur Linken zu erkennen; dunkel und massig, zeigte sie die Schaufeln ihres Rades am Rande eines schlummernden, von Seerosen überblühten Gewässers.
»Bleibt hier«, sagte Angélique zu den Frauen, die sich frierend zusammendrängten.
Die Kinder husteten und betrachteten die feuchte Umgebung mit unruhigen Augen.
Watend erreichte Angélique die Mühle. Sie fand die wurmstichige Brücke und gleich danach den vertrauten Steg über das Mühlgerinne. Ihre Hand tastete über die rauhe, von Winden überrankte Mauer.
Die Tür stand offen. Der Müller zählte seine Taler beim Schein einer Kerze. Es war ein Mann mit niedriger Stirn. Das dichte Haar, das ihm in Fransen bis auf die Brauen fiel, betonte noch den Eindruck beschränkten Starrsinns. Nach Art der Leute seines Berufs grau gekleidet, einen runden Kastorhut auf dem Kopfe, wirkte er einigermaßen wohlhabend. Er trug rote Strümpfe und Schuhe mit Stahlschnallen.
Man erzählte sich, daß er sehr reich, geizig und unduldsam sei.
Angélique ließ ihren Blick über die bäuerlichen, von dem alles durchdringenden Mehlstaub samtartig überzogenen Möbel wandern. In einer Ecke waren Säcke übereinandergeschichtet, und man atmete den Duft des Weizens. Die Unveränderlichkeit dieses Bildes ließ sie lächeln. Dann trat sie in die Tür und sagte:
»Ich bin’s, Valentin ... Guten Tag.«
Die Barken glitten durch den dunklen Tunnel. Weiter vorn durchdrang das gelbliche Licht der Laternen nur mühsam die von der dichten Wölbung der Baumkronen begrenzte Nacht. Die hohe Gestalt Meister Valentins mußte sich zuweilen bücken. Durch einen Ruf in der Mundart des Landes warnte er die Führer der folgenden Boote. Die Frauen verspürten keine Furcht mehr. Ihre Unruhe begann nachzulassen, und man hörte das erstickte Gelächter der Kinder. Ein seit langen Tagen unbekannter Friede drang in die Herzen der Flüchtlinge: der Friede der unverletzten Moore. Hatte der gute König Heinrich IV. nicht seiner Liebsten von den Sümpfen des Poitou geschrieben: »Dort kann man im Frieden vergnüglich und im Krieg sicher leben.« Welcher Feind würde hier seinen Gegner verfolgen? Wäre er kühn genug gewesen, es zu versuchen, hätte Montadour seine Soldaten schlammbedeckt und vor Kälte erstarrt zurückkehren sehen, nachdem sie vergeblich mit ihren Barken auf den Wasserläufen und Teichen herumgeirrt wären, an Ufern landend, die unter ihren Stiefeln versanken, sich in einem Labyrinth je nach der Jahreszeit grüner oder goldener Mauern bewegend, im Winter eingeschlossen vom Gitterwerk der kahlen Zweige, um sich endlich am Ausgangspunkt wiederzufinden. Und sie konnten froh sein, wenn sie zurückkehrten; das ungeheure Labyrinth konnte sie für immer in sein schweigsames Universum aufnehmen. Viele unbekannte Leichen schliefen auf dem Grund der toten Gewässer, unter dem grünen Samt der Kresse ...
Meister Valentin, der Müller, hatte sich erhoben, als Angélique in der Tür aufgetaucht war. Er schien nicht überrascht, sie zu sehen. In seinen plumpen Zügen fand sie das Gesicht des dickköpfigen, schweigsamen Jungen wieder, der hastig das Boot vom Ufer abgestoßen hatte, um das kleine Fräulein de Sancé in sein Sumpfreich zu entführen und eifersüchtig den Rufen des Schäfers Nicolas zu entziehen. »Angélique! ... Angélique!« Der Schäfer verfolgte sie durch die Wiesen mit seinem Hirtenstab, seinem Hund und seinen Schafen.
Im Schilfrohr versteckt, kicherten sie heimlich. Dann entfernten sie sich mehr und mehr, und die Rufe erstickten im Gewirr der Zweige: Erlen, Ulmen, Eschen, Weiden und hohe Pappeln ...
Valentin pflückte die Blätter der Angelikapflanze, des Engelwurz. Sie lutschten und rochen abwechselnd an ihnen. »Um deine Seele zu haben«, sagte Valentin.
Er war nicht gesprächig wie Nicolas. Er wurde leicht rot und verfiel in unversöhnliche Zornausbrüche. Die Protestanten waren es, die, man wußte nicht recht, warum, seinen Haß auf sich zogen. Mit Angélique lauerte er den aus der Schule kommenden hugenottischen Kindern auf und schleuderte ihnen Rosenkränze ins Gesicht, um sie »Teufelszeug!« schreien zu hören. Angélique erinnerte sich daran, während der Teppich der Wasserlinsen unter dem Bug mit dem Geräusch leise fallenden Regens zerriß.
Valentin liebte auch jetzt die Protestanten nicht, aber er war für die Goldstücke empfänglich gewesen, die ihm die Marquise du Plessis-Bellière gegeben hatte. Er hatte seine Schlüssel genommen und die Frauen und Kinder in die Barken steigen lassen.
Ein stärkerer Lufthauch verriet, daß der Tunnel sich verbreitert hatte. Das erste Boot stieß auf festen Boden. Der Mond schwamm in einem dunstigen Lichtkreis über den Bäumen. Er enthüllte den Wohnsitz der d’Aubignes, der, von Weiden umstanden, inmitten ungeschnittener Rasenflächen schlief. Das Schloß erhob sich auf einer jener unzähligen Inseln des einstigen Golfs des Poitou, deren flache Felsenufer früher vom Meer umspült worden waren. Während des Winters stieg das Gewässer noch immer bis zur untersten Stufe der großen steinernen Treppe. Es war ein Renaissancebau, von einem Baumeister errichtet, den die Spiegelung der weißen Mauern in dem unergründlichen Gewässer und vielleicht auch die Unzugänglichkeit des Ortes gereizt haben mochte. Ein besserer Unterschlupf für Verschwörer ließ sich nicht denken.
Hunde bellten .
Eine Tür öffnete sich, und Mademoiselle de Coesmes, die Kusine des alten Marquis, erschien mit einem Leuchter in der hoch erhobenen Hand. Mit verkniffenem Gesicht hörte sie zu, während Angélique von dem jammervollen Zustand der armen Frauen, Witwen zumeist, berichtete, die sie in der Hoffnung hierhergeführt habe, daß man sich ihrer annehmen und ihnen helfen werde, La Rochelle zu erreichen. Die Einmischung einer Katholikin von so zweifelhaftem Ruf in die Angelegenheiten der Reformierten gefiel Mademoiselle de Coesmes nicht. Die Zügellosigkeiten Madame du Plessis’ waren vom Versailler Hof bis hierher gedrungen. Dennoch ließ sie sie eintreten, und während die Bäuerinnen in die Küchenräume geführt wurden, musterte sie das einfache Barchentkleid, das Angélique auf ihren nächtlichen Expeditionen unter einem Mantel zu tragen pflegte, die flachen, schlammbedeckten Schuhe und das Tuch aus schwarzem Satin, mit dem sie ihr Haar zusammenhielt.
Die alte Jungfer preßte von neuem ihre schmalen Lippen zusammen, nahm die Miene einer in ihr Schicksal ergebenen Märtyrerin an und teilte ihrer Besucherin mit, daß sich der Herzog de La Morinière im Schloß aufhalte.
»Wollt Ihr ihn sehen?«
Die Eröffnung verwirrte Angélique.
Sie spürte, daß ihr das Blut in die Wangen stieg, und erklärte, daß sie den Herzog nicht stören wolle.
»Er ist über und über mit Blut bedeckt hier angekommen«, flüsterte Mademoiselle de Coesmes, die sich trotz allem von so vielen Ereignissen überaus angeregt fühlte. »Ein Gefecht mit den Dragonern des infamen Montadour . Er hat sich nicht rechtzeitig lösen können und ist in die Sümpfe geflüchtet. Sein Bruder Hugues hat sich, wie es scheint, nach Pouzanges geworfen. Monsieur de La Morinière bedauerte es sehr, Euch nicht treffen zu können.«
»Wenn er verletzt ist .«
»Laßt mich ihn benachrichtigen.«
Sie wartete zitternd, aber als sie den Schritt des hugenottischen Patriarchen auf den Stufen der Treppe vernahm, riß sie sich zusammen und empfing ihn, als er sich ihr näherte, mit unerschrockenem, hartem Blick.
Eine tiefe Wunde lief quer über seine Stirn. Die entzündeten Ränder waren noch nicht vernarbt. Der klaffende Einschnitt trug nicht dazu bei, seinen Anblick zu mildern. Sie fand ihn größer, kraftvoller und schwärzer denn je.
»Ich grüße Euch, Madame«, sagte er.
Er hielt ihr zögernd seine bloße Hand entgegen.
». Werdet Ihr unserem Bündnis treu bleiben?«
Angélique war es, die ihre Augen vor seinem Blick senkte. Sie machte eine Bewegung zu den Küchenräumen, durch deren offenstehende Türen sie den unruhigen Lichtschein des Feuers und die beruhigten Stimmen der protestantischen Frauen wahrnahmen.
»Ihr seht es.«
Sie hätte nicht geglaubt, daß der Vorfall, der sich am Stein der Feen zugetragen hatte, sich ihr in einem solchen Maße aufdrängen, sie so verwirren und lähmen könnte. Unterlag sie dem Einfluß einer Persönlichkeit, von der manche ihrer Zeitgenossen erklärten, daß sie mit Zauberkräften begabt, wenn auch unerfreulich im Umgang sei? Seine Brüder, seine Frau, die Frauen seiner Brüder, seine Töchter und Neffen, seine Diener und seine Soldaten hatten es nie vermocht, ihm den Gehorsam aufzukündigen. Er hatte nur zu erscheinen brauchen. »Obwohl nahe bei Gott, gab es in ihm etwas Diabolisches«, schrieb man von dem protestantischen Grandseigneur, der sich zu seiner Stunde kurz, aber grausam vor dem Angesicht Ludwigs XIV. drohend erhob.
Er entschuldigte sich nicht bei ihr. Hatte es seinen maßlosen Stolz beleidigt, daß sie zwei seiner Aufforderungen zu einem Zusammentreffen nicht gefolgt war?
»Pouzanges, Bressuire«, sagte er endlich. »Die Bürger nahmen uns mit offenen Armen auf. Wir plünderten die Arsenale der Garnisonen und bewaffneten die in der Umgebung ausgehobenen Banden. Die Truppen, die Monsieur de Marillac im Norden zurückgelassen hatte, zogen sich ostwärts zurück, so daß wir ihre Stellungen in der Gâtine besetzen konnten. Die Truppen Monsieur de Gormats und Montadours sind von jeder Hilfe abgeschnitten und wissen es noch nicht.«
Mit heißem, erregtem Gesicht starrte sie ihn an.
»Ist es möglich? Ich wußte es nicht.«