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Über all das, was seit langem wie eine Wunde in ihren schweigsamen Herzen war, sprach sie zu ihnen. Sie erinnerte sie an die beiden schrecklichen Jahre 1662 und 1663, in denen sie Heu und Gras, Baumrinde, Kohlstrünke und Wurzeln gegessen hatten, in denen sie darauf verfallen waren, Nußschalen und Eicheln zu mahlen, um die letzte Handvoll Roggen oder Hafer damit zu strecken. Sie erinnerte sie an ihre toten Kinder, an ihre Auszüge in die Städte - in diesen Jahren waren Nicolas und Scharen ausgehungerter Bauern wie Wölfe in Paris eingefallen. In diesen Jahren auch hatte der große Karneval in Paris stattgefunden, und man hatte den König und seinen Bruder und die Fürsten im funkelnden Glanz ihres Geschmeides gesehen.
Im Jahr darauf war es gewesen, während sie ihre Wunden zu verbinden begannen, daß der Minister Colbert die Salzsteuer wieder eingeführt hatte, die »für Topf und Salzfaß« und die »für Eingesalzenes und Vieh«, die Verpflichtung also für alle, das unentbehrliche Gewürz zu hohen Preisen im Staatsspeicher einzukaufen ...
Indem sie an diese Dinge erinnerte, berührte sie einen empfindlichen Punkt der ganzen französischen Bauernschaft. Angesichts der Lawine der bevorstehenden Katastrophe sahen die während des Winters unbeschäftigten Bauern in ihrem Aufruf zur Rebellion zuerst die Möglichkeit, für die nächsten Monate die Zahlung der Steuern zu verweigern. Wenn man sich im Aufruhr befand, konnte man die Gerichtsvollzieher in die Brunnen werfen oder mit Mistgabeln verjagen. Und welche Erleichterung verhieß es, das wenige, was man besaß, für sich behalten zu können.
Sie sagte ihnen:
»Die Herren, die unter euch wohnen, sind eure wahren Herren. Wenn ihr hungert, hungern auch sie. Wie oft haben sie nicht den Zehnten, das Kopfgeld, die Steuer für den gemeinen Mann und seine Felder für alle auf ihrem Besitz gezahlt? Sie taten es, um euch gegen allzu räuberische Hände zu verteidigen.«
»Das ist wahr ... das ist richtig«, murmelten die Bauern.
»Folgt ihnen. Sie werden euch Wohlstand und eine neue Gerechtigkeit bringen. Es ist endlich Zeit, eurem Elend ein Ende zu setzen.«
Sie führte auch Zahlen an: die Verschwendung, die sie bei Hof mitangesehen hatte, die Bestechlichkeit der Beamten, die Maßnahmen der großen Finanziers, deren Schiebungen den Staat zwangen, jedes Jahr mehr und mehr Geld an der Quelle, das hieß: vor den Spartöpfen der Bauern abzufangen.
Und das Poitou griff zu den Waffen.
Städte wie Parthenay, Monterray, La Roche, die noch zögerten, wurden entweder durch Gewalt, durch Siege der protestantischen Truppen oder durch Überredung zu Parteigängern der Rebellion gemacht. Es gab nicht wenige Bürger, die Anlaß zur Unzufriedenheit mit dem König hatten. Angélique verstand es, mit ihnen die Sprache der Taler und Geschäfte zu sprechen. Die Vorräte der Städte wurden in Hinsicht auf das zu erwartende Hungerjahr aufgeteilt. Indessen hatten diese Maßnahmen und die Plünderungen militärischer Transporte nicht genügt, dieses Volk zu retten, das sich dem Bann des Königreichs ausgesetzt hatte, wenn die Bevölkerung der atlantischen Küste ihren Brüdern aus den Wald- und Sumpfgebieten nicht zu Hilfe gekommen wäre.
Es war ein vorwiegend protestantisches Gebiet, und es war auch das Land des Salzes, Objekt eines hitzigen, fast hundertjährigen Zanks zwischen den Einwohnern und der Krone. Ein Salzschmuggler aus Les Sables, Ponce-le-Palud, zog seine Zunft auf die Seite der Aufständischen hinüber. Und von nun an gelangten Lebensmittel über unbewohnte Küsten und verborgene, schwer zu überwachende Flüßchen ins Poitou. Gold zahlte für alles. Ein Bürger aus Fontenay-le-Comte hatte seinen Mitbürger klar gemacht, daß Gold nichts nützte, wenn man Hungers starb.
Das Königreich beobachtete das Poitou. Der Winter zog eine ebenso undurchdringliche Schutzmauer um seine Grenzen wie die Rebellion. Man wartete darauf, daß Kälte und Nebel, Eis und Schnee wichen, um in diese Bastion eindringen und die Leichen zählen zu können. Aber die Leute des Poitou starben nicht.
Während all dieser frostigen Monate blieb Angélique selten lange an ein und demselben Ort. Ihre Wohnungen waren die Hütten der Bauern. Sie suchte jeden auf, der ihr nützlich schien, ließ sich ebenso am wappengeschmückten Kamin eines alten Schlosses wie vor dem Herd einer Pächterin oder im Hinterzimmer des Ladens eines in seinem Orte einflußreichen Kaufmanns nieder. Es mißfiel ihr nicht, mit den Menschen verschiedenster Klassen zu sprechen, und das Verständnis, auf das sie überall stieß, bestärkte sie in ihrer Überzeugung. Die Saat wartete nur darauf, hochschießen zu können. Man spürte, daß etwas geschehen würde.
Doch ihre wirkliche Behausung, der Ort ihrer Wahl, blieb der Hohlweg, in dem die Hufe ihres Pferdes und der ihrer Begleiter widerhallten.
Unter ihnen befand sich der Baron du Croissec. Bei ihm hatte sie gleich nach dem Drama Gastfreundschaft gesucht und gefunden. Seitdem begleitete sie der dik-ke Mann mit einigen seiner Diener auf allen Wegen.
Die Protestanten unter Angéliques Leuten hatten sich den Truppen de La Morinières angeschlossen. Die andern hatten unter der Führung des Pächters Martin Genêt eine Art Freikorps gebildet; jeder blieb bei sich zu Hause, war aber bereit, auf das leiseste Zeichen hin bewaffnet zum Treffpunkt zu eilen.
Ständig bei Angélique blieben nur die überlebenden Diener von Plessis: Alain, der Stallknecht, der Küchengehilfe Camille, der alte Antoine mit seiner Armbrust, der Pariser Gassenjunge Flipot, der nicht gewußt hatte, was er sonst in diesen Wäldern hätte anfangen sollen, und schließlich Malbrant Schwertstreich, brummend, aber glücklich, das harte Leben eines militärischen Feldzugs wiederzufinden. Der Abbé de Lesdiguière war ihr von Anfang an nicht von der Seite gewichen. Sobald er sie nicht mehr sah, machte er sich auf die Suche nach ihr. Er hatte Angst vor dem, was sich hinter diesem glatten, wie gefrorenen Gesicht und diesem starren Blick verbarg. Die Furcht, daß sie versuchen könnte, sich das Leben zu nehmen, verfolgte ihn.
Im abendlichen Quartier verfiel sie zuweilen in ein undurchdringliches Schweigen, in dem sie ihre Umgebung zu vergessen schien. Sie saß vor dem Feuer in einem großen Saal, dessen Wände Wappen und Wandteppiche schmückten. Es war das Dekor ihrer Kindheit. Draußen heulte der Wind, rüttelte an altersschwachen Läden, und Wetterfahnen kreischten auf den spitzen Dächern einiger Türmchen. Und oft fügte sich zum Prasseln des Holzes das regelmäßige, unaufhörliche Auf und Ab der Stiefel des Herzogs de La Morinière auf den Fliesen. Er war da, marschierte hin und her, und sein riesiger Schatten glitt über die Mauern und zuckte im Spiel der Flammen. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um ein Bündel Dornenzweige in den Kamin zu werfen. Diese Frau fror, er mußte sie erwärmen. Von neuem nahm er wie ein Tier im Käfig seinen Marsch auf. Sein Blick heftete sich auf das Profil der sitzenden, völlig abwesenden Angélique und auf die schmale Silhouette des Abbé de Lesdiguière, der sich auf einem Schemel im Hintergrund hielt und dessen Kopf zuweilen vor Müdigkeit auf die Brust sank. Er knurrte Worte ohnmächtiger Wut in seinen Bart. Es war nicht sosehr der kleine Abbé, dem er seiner Anwesenheit wegen grollte.
Das Hindernis, das sich zwischen ihm und dieser Frau erhob, die er mit immer wahnwitziger Leidenschaft begehrte, war von anderer Art und weit unbezwinglicherer Kraft als die Gegenwart eines zierlichen Pagen mit Mädchenaugen. Er hätte ihn mit einer Handbewegung beiseite wischen können, wenn da nicht etwas anderes gewesen wäre, gegen das weder sein unerbittlicher Wille noch die Leidenschaft seiner Liebe etwas vermochten.
Heute entglitt sie ihm für immer.
Als er von dem Überfall auf das Schloß Plessis erfuhr, war er in Eilmärschen dorthin zurückgekehrt. Mehrere Tage hatte er nach der verschwundenen Schloßherrin gesucht. Er hatte sie wiedergefunden. In den Zorn Samuel de La Morinières über die Verbrechen der Soldaten Montadours mischte sich ein Gefühl, das ihm bis dahin unbekannt geblieben war: Schmerz. Der Gedanke, daß man diese Frau entehrt hatte, brachte ihn zur Raserei. Während er die Umgebung nach ihr durchforscht hatte, war er mehrmals versucht gewesen, sich in sein Schwert zu stürzen, um der Qual zu entgehen, die seinen Körper und seine Seele marterte. Er hatte nicht einmal mehr den Namen des Herrn auszusprechen, noch zu ihm zu beten vermocht.
Eines Abends, auf den Stufen eines Gebetskreuzes, unter einem stürmischen, von rasch ziehenden Wolken bedeckten Himmel, schien es dem grausamen Mann, als blute es aus seinem Herzen, und er spürte Tränen auf den Wangen. Er liebte. Das Antlitz Angéliques umgab sich für ihn mit dem Strahlenkranz einer nie gekannten Entdeckung: der Liebe.
Als er sie wiederfand, war er nahe daran, vor ihr auf die Knie zu sinken und den Saum ihres Kleides zu küssen. Die dunklen Ringe um ihre ruhigen Augen schienen ihr Geheimnis noch zu verstärken. Ihre ferne, durch das Leid geläuterte Schönheit brachte ihn aus der Fassung und schürte ein Fieber, das die Träume nur noch mehr erhitzten.
Sobald er sich allein mit ihr befand, wollte er sie in seine Arme nehmen. Sie erbleichte und wich mit schreckverzerrtem Gesicht zurück.
»Rührt mich nicht an . Nähert Euch nicht .«
Ihre Angst macht ihn toll. Er wollte ihre Lippen küssen, die andere beleidigt hatten, wollte deren Spuren löschen, sie besitzen, um sie zu reinigen. Ein namenloser Rausch, in dem sich Verzweiflung, eifersüchtige Liebe und das Verlangen, sich mit ihr zu vereinigen, mischten, überwältigte ihn, und er drückte sie, sich über ihre Bitte hinwegsetzend, leidenschaftlich an sich. Als er sie zuckend, weißer noch als Marmor, mit geschlossenen Augen in seinen Armen sah, beruhigte er sich. Sie war ohnmächtig geworden. Zitternd, verstört, bettete er sie auf die Fliesen.
Der Abbé de Lesdiguière lief herzu und verwandelte sich aus einem Seraph in einen rächenden Erzengel.
»Elender! Wie konntet Ihr es wagen, sie zu berühren?«
Er löste Angélique aus den harten, behaarten Händen, kämpfte gegen den Goliath ...
»Wie konntet Ihr es wagen? ... Versteht Ihr denn nicht? Sie kann es nicht mehr ertragen ... Sie kann die Berührungen der Männer nicht mehr ertragen!«
Sie brauchten fast eine Stunde, um sie wieder zu beleben.
Der Zufall brachte es in diesen Monaten des Guerillakrieges noch gelegentlich mit sich, daß sie sich bei ihren Partisanen begegneten. Das waren dann jene endlosen Abende, während derer die unbestimmt verschreckten Gastgeber den Hugenotten und die Katholikin allein ließen. Stille, Schritte, zuckende Flammen. So verstrichen die Stunden inmitten eines unausgesprochenen, herzzerreißenden Dramas.
Im Februar kehrte Angélique in die Gegend von Plessis zurück. Sie wollte die Ruinen ihres einstigen Wohnsitzes nicht sehen und stieg im Edelhof de Guéménée du Croissec ab. Der dicke Baron schien in seiner unerschütterlichen Anhänglichkeit an die Sache Angéliques eine Rechtfertigung für seine unfruchtbare Existenz als Krautjunker und Hagestolz zu finden. Er hatte sich in diesen vier Monaten häufiger und länger aus seinem Winkel gerührt als in seinem ganzen bisherigen Leben zusammen. Er fühlte sich als sicherer Freund Angéliques, auf den sie zählen konnte, was immer auch geschehen mochte, und es traf zu, daß er sie in keiner Weise bedrängte. Auch die drei La Morinière und andere Rebellenführer trafen dort zusammen, um die Lage zu besprechen. Es ließ sich voraussehen, daß die königlichen Truppen zu Beginn des Frühlings auf allen Fronten zum Generalangriff ansetzen würden. Mit den Verteidigungsmöglichkeit en im Norden war es nicht weit her. Konnte man mit den Bretagnern rechnen, die übrigens nur zur Hälfte Bretagner waren, da sie schon diesseits der Loire wohnten?
Wenig später kam es zu heftigen Kämpfen in der Umgebung. Die Gegend um Plessis blieb der Zielpunkt der königlichen Truppen, da die Bewegung von dort ihren Ausgang genommen hatte. Man schien zu wissen, daß sich die Rebellin des Poitou dort befand. Ein Preis war auf ihren Kopf gesetzt, obwohl man ihren Namen und ihre Person nicht kannte. Das Feld der Dragoner lag nahe, und die Erinnerung daran befeuerte die Soldaten auf ihren Vorstößen. Um ein Haar wäre Angélique in einen Hinterhalt geraten. Der Müller Valentin, zu dem sie sich mit dem verwundeten Abbé de Lesdiguière flüchtete, rettete sie. Um möglichen Nachforschungen zu entgehen, brachte er sie in die Sümpfe, wohin niemand sie verfolgen konnte.
Angélique verbrachte mehrere Wochen in Valentins Unterschlupf. Die niedrige, dicht am Wasser gelegene baufällige Hütte mit ihrem Dach aus schwärzlichem, mit Schilf untermischtem Stroh, das wie eine große Pelzmütze aussah, war behaglich. Ein besonderer, nur den Sumpfleuten bekannter Verputz aus bläulicher Tonerde, Stroh und Mist überzog die Innenseiten der Mauern mit einer Art Filz, der die Feuchtigkeit ansog und vor Kälte schützte. Es war lau und trocken drinnen, und wenn die Torfstücke im Kamin mit kurzen violetten Flammen brannten, vergaß man in der angenehmen Wärme fast die sumpfige, mit Wasser vollgesogene Landschaft, die sich ringsum ausbreitete.
Im Innern gab es nur einen einzigen niedrigen Raum mit einem seitlich angebauten Schuppen, halb Stall, halb Keller, aus dem man das blecherne Klingeln des Glöckchens einer Ziege hörte, die Valentin auf seiner Barke hergebracht hatte, der täglichen Milch und des Käses wegen. Auch ein Steinbassin war da, in dem sich die für die Suppe bestimmten schwarzen Aale schlängelten, ein Vorrat von Saubohnen und Zwiebeln, ein Brett mit Broten in halber Höhe der Wand und ein Faß Rotwein. Die Möblierung war seltsam. Zwar war das aus einer mit geschichtetem Farnkraut belegten Pritsche bestehende Bett reichlich einfach, aber Meister Valentin hatte nicht vergessen, den den Herzen der Leute aus der Vendée so teuren »Altar der Jungfrau Maria« in die Einöde zu schaffen. Man erzählte sich, daß der des Müllers aus der Mühle der Ukeleie der schönste von allen sei. Es war ein merkwürdiger, von einer Glaskugel gekrönter Aufbau, unter der ringsum ein Bild der Jungfrau Blumen aus Muscheln oder Perlen, Spitzen, seidene Bänder, Gehänge aus farbigen Steinen und in Sonnenform angeordnete echte Goldstücke angebracht waren. Angélique, die den Altar von früher her kannte, empfand bei seinem Anblick ein wunderliches Gefühl der Rückkehr in die Vergangenheit. Für einen kurzen Augenblick ließ die aufgehobene Zeit die staunende Bewunderung des Kindes in ihr erwachen. Doch schon in der nächsten Minute fand sie wieder zu sich zurück, zu den Wunden ihres Körpers und ihrer Seele, zu den Qualen der gereiften Frau, die sich in ihr regten wie die Aale im Bassin. Ein höllischer Kreislauf, düster und abstoßend, das war es, worauf ihre Gedanken hinausliefen, die oftmals einen fast physischen Schwindel in ihr erregten. Dann stützte sie sich gegen die Mauer. Ein Abgrund schien sich unter ihren Füßen aufzutun. Ihr Unbewußtes warnte sie vor einer furchtbaren Gefahr, die um sie herumstrich oder in ihr lauerte. Schließlich ließ der Aufruhr nach, und eine trügerische Ruhe kehrte in sie ein.
Hier verspürte sie keine Lust, unaufhörlich vor sich selbst zu fliehen wie auf dem festen Boden, wo sie gezwungen war, immer neue Hindernisse zwischen sich und den Verfolgungen des Königs von Frankreich aufzutürmen, der für sie zu einer Schreckgestalt, zur fixen Idee geworden war. Ihr hierher zu folgen, wagten die Soldaten des Königs nicht. Sie entschloß sich, noch ein wenig zu warten. Sie würde im Frühling die Sümpfe verlassen, wenn die Offensiven begannen. Dann mußte sie da sein, um den sinkenden Mut neu zu beleben, um jedem einzelnen den Einsatz des hohen Spiels ins Gedächtnis zu rufen.
Valentin brachte ihr Neuigkeiten. Das Land war ruhig. Im Kriegszustand, aber ruhig. Man fuhr fort, Truppen auszuheben, vor allem aber, gegen den Hunger zu kämpfen. Durch die Rebellion abgeschirmt, hatte man die mageren Reserven vor den bodenlosen Schlünden der Requisitionen und Steuerforderungen bewahren können. So fand das Land seinen notdürftigen Unterhalt. Und man beglückwünschte sich. »Alles geht besser, wenn man es unter sich ausmacht.« Würde man die so notwendige Freiheit zu verteidigen wissen? Allenthalben bereitete man sich darauf vor.
Meister Valentin kam fast jeden Tag. Kehrte er dazwischen zu seiner Mühle zurück? Ging er fischen, oder jagte er im Schilf? Oft erschien er mit vollen Netzen oder mit buntfedrigen Vögeln, die mit baumelnden Köpfen von einem Stecken herabhingen.
Die Bewohner der Hütte sprachen wenig. Der kranke Abbé schlief oben im Heuschober. Seine Verletzung war dank Kräuterumschlägen geheilt. Aber er hatte oft Fieber. Er war wie ein schwächlicher, sanfter Schatten zwischen zwei anderen, gleichfalls an ihre Träume verlorenen Schatten. Drei Wesen, die durch Welten getrennt schienen: eine schöne, in Tragik verstrickte Frau, ein schweigsamer Müller mit trägem, wunderlichem Geist, ein kleiner höfischer Abbé, blaß und fröstelnd, alle drei eingeschlossen in die Stille der toten Gewässer.
Angélique schlief auf dem Lager aus Farnkräutern unter einem schweren Schafspelz. Ihr Schlaf war tief und traumlos, wie sie ihn bisher nicht gekannt hatte. Das Drama schien keinerlei Spuren in ihrer Physis zurückgelassen zu haben. Wenn sie erwachte, hörte sie draußen das Geräusch des auf die glatte Oberfläche des Sumpfes fallenden, sein leises Raunen ins Unendliche vervielfältigenden Regens. Oder auch das Quaken der Frösche, die spitzen Schreie der Wasserratten, den Ruf der Nachtvögel, das vielfältige Geflüster des sumpfigen Dschungels. Und eine Art Frieden kam über sie.
Wenn Valentin da war, sah sie auch ihn des Nachts in seinem Lehnstuhl aus Stroh und poliertem Holz. Seine Augen waren offen, und der bläuliche Widerschein der Flammen zuckte über seine groben, ausdruckslosen Züge. Zuweilen leuchtete es kurz in der Tiefe seiner Augen auf. Sie hatte den Eindruck, daß er sie beobachtete. Dann schloß sie die Lider und schlief wieder ein.
Meister Valentin bedeutete ihr nicht mehr als die Nähe eines vertrauten Menschen aus der Vergangenheit, der ihr diente. Er schnitt die Torfstücke für das Feuer zurecht, melkte die Ziege, schob die Milch zum Gerinnen in das Loch unter dem Kaminstein, bereitete Suppe und Fisch und ließ die Glut aufflammen, um die Soße nicht zu scharf werden zu lassen. Er hätte einen Koch abgegeben, würdig, unter dem großen Vatel zu dienen. Manchmal brachte er ihr ein Körbchen voller mit Käse gefüllter, aus feinstem Mehl zubereiteter kleiner Kuchen, wie man sie zu Ostern auf dem Lande aß, mit schwarzer Kruste und goldbraunem Teig. Es konnte geschehen, daß Angélique mit plötzlicher Gier über sie herfiel. Sie hatte oft Hunger. Ein Licht, gleich einem Lächeln, glomm in den undurchdringlichen Augen des Mannes auf, während er zusah, wie sie ihre weißen Zähne in den Teig grub. Unangenehm berührt hielt sie inne und trat ins Freie, um diesem Blick zu entgehen.
Als sie auf die kleine Sumpfinsel gekommen war, hatte noch der Winter regiert, und die überschwemmte Erde erinnerte an die Wattlandschaft früherer Zeiten, deren salzige Schlammwogen von Seeigeln, Mollusken und fossilen Muscheln wimmelten. Noch immer kamen bestimmte Meervögel, um in den Schilfgürteln zu nisten. Die hohen, von Holländern unter Heinrich IV. gepflanzten Pappeln veränderten den Meerescharakter der Landschaft, wie auch die Erlen, Espen und Eschen, die wie mit einer schwarz tuschenden, spitzen Feder auf die Lichtreflexe des Wassers oder auf die zarten Nebelschleier von der durchsichtigen Klarheit des Porzellans gezeichnet waren. Raben krächzten laut, wenn sie über die trost-lose Einöde dahinstrichen. Unten im Schilf verlor sich Angéliques Blick im Gewirr der Zweige, der hoch aufgeschossenen, aus ihrem Abbild auf dem Wasser wachsenden Stämme, die die unentwirrbare Struktur des Sumpfes bildeten. Diese Radierung in Schwarz und Weiß faszinierte ihr verzweifeltes Herz, und plötzlich glaubte sie in den ziehenden Nebeln Florimond, Charles-Henri und Cantor vorübergleiten zu sehen, drei kleine, verlorene, nur in ihren Umrissen erkennbare Gestalten, die einander an den Händen hielten. Sie schrie auf:
»O meine Söhne ... meine Söhne!«
Sie schrie, und ihre Stimme verlor sich in der grenzenlosen Weite, bis der Abbé de Lesdiguière durch den Schlamm gestolpert kam und ihren Arm ergriff, um sie sanft zum Haus zurückzuführen.
»Du hast deine Söhne geopfert«, raunte in ihr eine dumpfe Stimme. »Wahnsinnige! Du hättest niemals Versailles verlassen, niemals in die Länder des Orients gehen dürfen, die dich verdorben haben. Du hättest dich dem König unterwerfen müssen. Du hättest dich vom König nehmen lassen müssen .«
Und sie brach in wildes, trockenes Schluchzen aus, während sie leise nach ihnen rief und sie um Vergebung bat.